Ein Stern unter Sternen Yuri Grigorovich, einer der bedeutendsten Tanzkünstler unserer Zeit, verstarb mit 98 Jahren

Yuri Grigorovich ging zu den Sternen

Yuri Grigorovich: geduldig, leidenschaftlich, genial. Was wäre das sowjetisch-russische Ballett ohne ihn? Foto: I. Moyseyev

Er war das Bolschoi-Ballett in Person – zumindest zeitweise. Und er hat das Ballett auf seine Art neu erfunden: Liebe, Freude, Leid und Tod ließ Yuri Grigorovich mit seinem einzigartigen Stil expressiv auf der Bühne darstellen. Und nicht nur der im Tanz üblichen Sehnsucht, sondern auch dem Kampf verhalf er zu neuen körperlichen Metaphern. Zudem war er ein Charakterchoreograf, denn seine Spezialität war die Verschmelzung tänzerischer Psychologie mit Handlungstänzen. Heute verstarb, mit 98 Jahren, der bedeutendste sowjetisch-russische Choreograf. Allerdings war er – der mit Patronym, also mit zweitem Vornamen, Nikolaievitch hieß – auch im hohen Alter nicht etwa im Ruhestand. Sondern: Ballettmeister am Bolschoi-Ballett in Moskau, wo er von 1964 bis 1995 als Künstlerischer Leiter und Chefchoreograf die Geschicke der Truppe gelenkt hat. Er wurde in dieser Zeit einer der weltweit wichtigsten Künstler des letzten Jahrhunderts. Und: Er, der in Leningrad ausgebildet worden war, führte das Bolschoi zu einer neuen Blüte.

Geboren wurde er als Sohn eines Buchhalters und einer Ballerina in Leningrad. Viele Familienmitglieder waren Artisten beim Zirkus, ein Onkel allerdings tanzte bei den von Paris aus berühmt gewordenen Ballets Russes. Auch Grigorovich selbst arbeitete später, während des Kalten Kriegs, in der Metropole an der Seine, was seinen hohen Stellenwert und seine Funktion als kulturelles Aushängeschild der SU zeigt: 1977 studierte er „Iwan der Schreckliche“ in Paris ein, und 1978 erlebte seine Version von „Romeo und Julia“ dort ihre Premiere.

Markant ist deren Ende: Anders als die meisten Choreografen, die sich dem „Romeo“-Thema widmen, beendet Grigorovich seine Shakespeare-Adaption nicht schon mit dem Tod Julias, sondern erst mit der Versöhnung der Clans am Grab des jungen Titelpaares.

Seit 1990 kann man diese Aussöhnung politisch deuten, als vorübergehendes Ende der Feindschaft zwischen Ost und West. Unter dem Krieg mit der Ukraine litt Grigorovich im übrigen, zumal er von beiden Staaten Ehrungen in Form von Orden und Medaillen empfangen hatte.

Ein exzellentes Münchner Bühnenpaar: Ksenia Ryzhkova als Phrygia in „Spartacus“ mit Osiel Gouneo als Titelheld beim Bayerischen Staatsballett. Foto (Ausschnitt): Luca Vantusso

Yuri Grigorovich war zudem immer ein Brückenbauer, ein Versöhnender, sogar ein stetig Liebender. Am meisten liebte er den Tanz, bezeichnete seine Berufung als „Liebesbeziehung“ zum Ballett. Als Mann liebte er die Primaballerina Natalia Bessmertnova, seine Ehefrau.

Nach ihrem Tod 2008 bat das Bolschoi den damals 81-Jährigen, in den Ballettsaal zurückzukehren. Fortan kümmerte sich der Schöpfer legendärer Ballette wie „Spartacus“ und „Legende von der Liebe“ als Ballettmeister um aufsteigende Stars. Er studierte mit ihnen neue Partien ein und pflegte das Repertoire.

Sein Einfluss war jedoch nie auf Moskau begrenzt. Im Gegenteil: Bis tief in den Westen wirkten seine prägnanten und ausdrucksstarken choreografischen Muster. Er war schon zu Lebzeiten ein Stern unter Sternen; eine gewisse Leuchtkraft ging stets von seinen Werken aus.

So finden sich in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier (1975) Elemente der starken Kämpfer aus „Spartacus“ (1968) wieder. Mit dem französischen Choreografen Maurice Béjart, der ebenfalls 1927 geboren wurde, aber schon 2007 starb, verbanden Grigorovich gegenseitige Impulse.

Spartacus“ gilt nach wie vor als wichtigstes Werk des Moskauer Tanztitans. Das Thema, eine an Verrat scheiternde Sklavenbefreiung, inspirierte Hollywood zu einem Filmklassiker. Es kam ja nicht oft vor, dass ein russisches Ballett einen Hollywoodfilm zeitigte.

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Grigorovich aber, dessen Formensprache klassische und moderne Elemente mischt, widmete sich auch der Renovierung der Klassiker im Ballett. Sein „Dornröschen“, sein „Schwanensee“, sein „Nussknacker“ werden noch heute am Bolschoi getanzt. Dem internationalen Publikum sind seine Stücke auch durch die Live-Übertragungen in Kinosäle bekannt, die es bis Februar 2022 gab. Zur letzten Jahreswende ersetzte ein kostenloser Livestream vom „Nussknacker“ diese Bolschoi-Mission.

Grigorovichs letztes Erscheinen in Deutschland ist auf den 22. Dezember 2017 datiert. Damals wurde er im Münchner Nationaltheater für seinen vom Bayerischen Staatsballettübernommenen „Spartacus“ gefeiert. Bis 2020 stand er dort auf dem Spielplan.

Insgesamt muss man allerdings beklagen, dass im Westen viel zu selten Choreografien von ihm eingekauft wurden. Während Russland begierig alle möglichen Novitäten im Ballettbereich zu sich holte, hielt sich der Westen gen Osten wenig vornehm zurück. So gesehen, war sogar ein Grigorovich schon zu Lebzeiten Opfer ungerechter Sanktionen. Ob das noch mal besser wird?

Spartacus bewegt die Welt.

Crassus (Sergei Polunin), der römische Bösewicht, mit seinen Mannen: Was man mit Schildern auf der Bühne alles machen kann, zeigt Yuri Grigorovichs Choreografie. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl

Auf DVDs und BluRays, im Internet und natürlich auf der Bühne des Bolschoi  sind seine Werke unsterblich geworden. Wie auch in den Herzen all jener, die sie gesehen oder getanzt und geliebt haben.
Gisela Sonnenburg

https://www.bolshoi.ru/en

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