Vor allem das Ende ist hier atemberaubend entrückend – also so, wie es sein soll und jeder es von „La Bayadère“ erwartet – und doch ganz anders, als es üblicherweise aufgeführt wird. Denn nicht nur das zuvor versagende Liebespaar steht ergriffen im lichten Nebel da und staunt sich an, sondern auch die Nebenbuhlerin der Tempeltänzerin, eine reiche Radscha-Tochter, hat hier noch ihr Auskommen: Liebe zu dritt im Paradies ist demnach das Ende einer unfreiwilligen Menage à trois. Dabei ist die eine Frau die Mörderin der anderen, wiewohl an sich die Feigheit des von beiden gebliebten Mannes schuld ist. Schön kompliziert also, wie es sich für Ballett gehört. Das ist so zu sehen in Patrice Barts Version von „La Bayadère“, die er schon 1998 in München mit dem Bayerischen Staatsballett kreierte (bei Wikipedia steht fälschlicherweise 2002 als Datum) und die jetzt wieder auf dem Spielplan steht. Bart war übrigens einer von drei Assistenten von Rudolf Nurejev, als dieser seine Version der „Bayadère“ 1992 in Paris premieren ließ – und doch fand Bart, der ehemalige Étoile der Pariser Oper, einen raffinierten eigenen Weg, die illustre Geschichte, die in einem bauchnabelfreien Indien spielt, zu erzählen…
Wir befinden uns also in einem fiktiven altindischen Fürstentum, in dem der Radscha das Geld und der Brahmane das Sagen haben. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten… das Erschütternde der Liebe ist hier dialektisch mit ihrer Süße und ihrem Erfüllungsglück vereint.
Unglücklich Liebende gibt es daher in diesem Szenario gleich mehrere, obwohl eigentlich doch alles zum Besten bestellt sein könnte in dieser besten aller indischen Welten.
Und so geht es darin zu: Die Tempeltänzerin Nikija, schön, leidenschaftlich, temperamentvoll, trifft sich heimlich mit dem ruhmreichen Krieger Solor – der allerdings nach guter alter Ballettsitte seiner Geliebten nicht sagt, dass er zugleich Ausschau nach einer standesgemäßeren Braut hält. Von den Tempeltänzerinnen weiß man ja Gerüchten nach, dass sie erstens nur selten aus reichem Hause stammen noch zweitens in jedem Fall ihre Jungfrauenschaft bewahren können.
Nikija etwa wird vom Brahmanen heftig angebaggert – sie aber weist ihn zurück. Der mächtige alte Mann, der kein böser Zauberer ist, sondern ein unter seiner unglücklichen Verliebtheit aufrichtig Leidender, schwört – und das ist natürlich unlauter – Rache…
Es kommt, wie es kommen muss im Ballett: Es gibt Intrigen, Todesfälle, Festivitäten – und schließlich eine Botschaft zum Mitnachhausenehmen. Deren Inszenierung, das Standbild der Liebenden im ewigen Licht am Ende, mutet in „La Bayadère“ – egal, in welcher Inszenierung – stets an wie ein Vorgriff auf den Surrealismus.
Da klappt auf Erden nichts mit der Liebe, es gibt kein einziges dauerhaft glückliches Pärchen in diesem Stück – aber im Jenseits, so die Choreografie und das Libretto, kann es dann ganz einfach und für immer schön sein. Das birgt natürlich eine starke Portion Ironie, ist aber wunderschön anzuschauen.
Dabei ist nicht mal eindeutig zu klären, um was für eine Art Paradies oder um welchen Zustand nach dem Leben überhaupt es sich hier handelt. Und was heißt hier Paradies? Weder Solor noch Nikija noch Gamsatti waren von Sünden frei. Kommen sie trotzdem ins „Paradies“?
Oder stellt Petipa uns einfach nur ein Totenreich vor, das jenseits der religiösen Moralvorstellungen existiert? Es sieht ganz danach aus!
Ziemlich fortschrittlich für einen Ballettmacher der Zarenzeit.
Petipa erlaubte sich also den Kunstgriff, speziell für seine Liebenden aus „La Bayadére“ (die eigentlich zu zweit und nur bei Patrice Bart zu dritt sind) einen eigenen Himmel der Glückseligkeit zu erfinden. Ohne den versierten Publizisten und also Geschichtenhändler Sergej Khudekoff wäre er aber vermutlich nicht dahin gekommen. Man sieht: Sogar ein Genie wie Marius Petipa brauchte ab und an versierte Intellektuelle, um hochkarätige Kreationen hervor zu bringen.
Petipa hat dieses Ballett, das man nicht müde werden sollte, als Meisterwerk zu preisen, 1877 in Sankt Petersburg uraufgeführt.
Es ist eines der schönsten und spannendsten seiner Werke, und die Opulenz der exotischen Ausstattung konkurriert mit dem charakterreichen, gar nicht klischeehaften Libretto.
Dieses stammt, wie schon angesprochen, aber eben nicht vom Choreografen selbst oder von einem Faktotum, das sich zufällig in der Dramaturgie betätigt. Sondern es ist ein wirklich sehr klug durchdachtes Libretto, das von großer Erfahrenheit im Reflektieren bühnenwirksamer Szenen spricht und dem Ballett seine Vielschichtigkeit verleiht.
Kein Geringerer als ein „Bücherwurm“ und Ballett-Experte, nämlich der Forscher und Kritiker Sergei Khudekoff, der Autor einer vierbändigen „Geschichte des Tanzes“ war, hat den Szenenablauf für „La Bayadère“ mit seinen darin genial verwobenen Welten des Dies- und des Jenseits, mit seiner Wachheit und seinen Träumen, mit seiner Liebe und mit ihrer Schmach zu verbinden gewusst.
Khudekoff war ein enger Freund von Petipa, und wie auch dessen Komponisten – etwa Peter I. Tschaikowsky oder, wie in diesem Fall, mal wieder Ludwig Minkus – arbeitete der Librettist Khudekoff dem Choreografen Petipa sozusagen in die Hand zu. Ursprünglich gab es hier sogar fünf Akte, von denen der fünfte – das groß angelegte Hochzeitsfest von Solor – in der Überlieferung verloren ging und nirgendwo auf der Welt mehr aufgeführt wird.
Die Handlung ist aber auch so action- und detailreich genug – und zudem wirklich ungewöhnlich.
Mit Klischees kommt man hier gar nicht weiter – weder der männliche Held noch die beiden Damen, die um ihn zanken, entsprechen in irgendeiner Weise einem märchenhaft überhöhten Idealbild des Menschen.
Im Gegenteil. Statt mit edlen Prinzen und hehren Prinzessinnen – also jenen Abklatschcharakteren, von denen das Petipa-Ballett „Dornröschen“ gar nicht genug bekommen kann – strotzt „La Bayadère“ nur so vor fast realistisch gezeichneten, moralisch im Grunde auch teilweise schlecht zu nennenden Personen.
Da geht die liebende Tempeltänzerin, also die Titelfigur „La Bayadère“, glatt mal auf ihre Rivalin mit dem Messer los: im Zustand des Affekts, in höchster Liebesnot – und zuvor von einer Ohrfeige ihrer Kontrahentin bis aufs Blut gereizt. Zum Glück oder Unglück verfehlt sie ihr Ziel, muss dafür aber selbst mit dem Tod büßen. Doch nicht etwa durch ein mehr oder weniger unanfechtbares Gerichtsverfahren, sondern durch die äußerst heimtückische Rache ihrer Nebenbuhlerin Gamsatti (die in manchen Versionen Hamsatti heißt). Letztere versteckt eine Giftschlange in einem Blumenkorb, den sie Nikija schickt.
Perfiderweise stirbt Nikija am Ende eines wunderschönen Adagio-und-Allegro-Solos, das sie auf der Verlobungsfeier von Solor mit Gamsatti tanzt. Das Gegengift zum Schlangenbiss, das ihr der Brahmane reicht, lehnt sie ab, denn sie sieht, wie herzlos Solor sich von ihr, die sie mit dem Tode ringt, distanziert, um mit seiner reichen Verlobten einfach auf und davon zu scharwenzeln.
Aber der Gerechtigkeitssinn der Götter, von denen einer ein hinreißendes, sprungstarkes Solo als „Goldenes Idol“ zeigt, rächt Nikijas Liebestod: Während der Hochzeit von Solor und Gamsatti lässt ein gottgewolltes Unwetter die Tempel einstürzen und alle noch Lebenden unter sich begraben.
Im Jenseits setzt sich dann die wahre Liebe durch – und das Schlussbild suggeriert ein ewiges Glück zu zweit (bei Patrice Bart zu dritt) im endlosen Elysium.
Hochinteressant ist an diesem Libretto wie an der Choreografie die Einführung einer jenseitigen Welt in den irdischen Handlungsstrang.
Man kann, wenn man will, sogar von einer drastischen Weiterentwicklung des in „Giselle“ begonnenen sinfonischen weißen Balletts sprechen: „La Bayadère“ hat das wohl schönste und effektvollste Ballet blanc aller klassischen Ballette.
Solor, der zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist, bedröhnt sich nämlich vor seiner Heirat mit einer Opiumpfeife. Und was sieht er im Traum? Richtig: Das Reich der weißen Schatten, in dem 32 Tänzerinnen im Tellertutu und mit stilisierten Schleierflügeln an den Armen die Geister der schönen, aber oft unglücklichen Tempeltänzerinnen (Bayadèren) verkörpern. Der Mythos der Tempeltänzerinnen hatte Europa damals schon seit einigen Jahrzehnten erreicht: Sie waren Liebesdienerinnen im Dienste einer Gottheit, sie waren schön, erotisch, aufmunternd – und der Prostitution im göttlichen Auftrag nicht fern.
So vereint die Figur einer Tempeltänzerin das Verruchte mit dem Höheren, das Käufliche mit dem immateriellen, religiösen Glanz. Eine auch für Christen offenbar sehr faszinierende Mischung!
Der Einzug von gleich 32 oder mehr solcher mädchenhaften Femmes fatales auf die mit Mondnachtlicht bestrahlte Bühne, und zwar strikt nach Petipa unter der immerwährenden Wiederholung einer nur wenige Schritte vorwärts, einen Schritt rückwärts und eine Arabeske umfassenden Figur, ist legendär und mit das Wichtigste, was die Ballettwelt überhaupt zu bieten hat.
Denn zu den durchaus lieblichen Klängen, die Ludwig Minkus hierzu den Violinen und anderen Streichern oktroyierte, ergibt sich ein wahrer Rausch durch die minimalistische Wiederholung: Wie haben hierin optisch einen Effekt, den die Kulturgeschichte akustisch erst mit den Komponisten der Minimal music wie Steven Reich und Philip Glass erzielte. Wieder ist das 19. Jahrhundert dem 20. also in mancher Hinsicht etwas voraus.
Und Marius Petipa war also durchaus Avantgardist, wenn man so will, er war vorausschauend und ahnte vermutlich auch, dass künftige Ballettliebhaber nicht mehr nur die Handlungschoreografien interessieren würden, sondern zunehmend auch die Gloriosität des reinen Tanzes, also des sinfonischen oder abstrakten Balletts verlangen würden.
So funkelt der gesamte weiße Akt hier nur so vor kongenialen choreografischen Einfällen. Dem Gruppentanz der schönen weißen Frauen folgen Soli und Variationen für einzelne Damen aus der Bayadèrenschar, die an Delikatheit und Außergewöhnlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen.
Und auch hier gibt es bereits das Element des Pas de trois, des tanzenden Trios, und zwar als Variation von drei Tänzerinnen getanzt. Vorsicht!
Vielleicht meint Petipa seinen Vorschlag ernst und will darauf hinweisen, dass Menschen gleicher oder verschiedener Geschlechter auch in größeren Verbänden als der klassischen Zweierbeziehung glücklich sein können. Das ist im übrigen bis heute ein großes Tabu, beruhen doch alle unsere Demokratien auf dem besonderen Schutz der Zweierbeziehung als „Familie“, ohne auf die ursprünglichere Existenzform in Gruppen und Horden auch nur im mindesten Bezug zu nehmen. Dabei ist die Ehe nicht für jedermann wirklich gesund, das ist wissenschaftlich erwiesen.
Solisten, also Menschen, die gern als Singles durchs Leben gehen, kommen dennoch in solchen paarfixierten traditionellen Gesellschaftsstrukturen, wie sie die Verfassungen unserer Staaten noch immer propagieren, im Grunde gar nicht vor. Singles haben nur das große Glück, dass ihr Einzelgängertum in demokratischen Ländern nicht verboten ist. Gefördert aber werden sie darin nicht, ebenso wenig wie Menschen, die als Gruppe statt als Paar durchs Dasein wandeln.
Das Ballett „La Bayadère“ ist tatsächlich wie gemacht für eine solche Diskussion – Patrice Bart wusste schon, was er tat, als er das Standbild am Ende so drastisch um eine Person erweiterte. Danke, Patrice!
Damit nun die Spießerseelen unter uns sich nicht allzu verprellt fühlen und dableiben, ist der Grand pas de deux im Weißen Akt aber selbstredend dem Liebespaar Solor und Nikija vorbehalten. Superklassisch, supervirtuos erinnert deren Tanz in mehreren Soli und Paarstücken an „Schwanensee“ und „Dornröschen“, hat aber durch die Einbettung ins Elysium der weißen Schatten eine besonders ätherische Note.
Die Sprungkaliber für Solor sind hier immens, wirken auch immens lebendig (egal, was das Libretto sagt – das muss so sein), und auch die Variationen der Nikija zeigen eine besonders vitale Brillanz statt vermuteter Totenblässe.
Kurzum: Das Leben in Träumen – also in einer dieser diffusen Zwischenwelten der Geister – scheint so richtig gut abzugehen, und was auf Erden nicht so fein lief, wie eben die Liebesbeziehung von Solor und Nikija, kann auf der Imaginationsebene auch nach dem Tod des einen Partners offenbar noch vollauf befriedigend sein.
Man kann sagen, was man will: Marius Petipa und Sergej Khudekoff lehnten sich mit ihrem Libretto weit aus dem Fenster und plädoyierten für eine gläubige Welt ebenso wie für eine, die familiäre Konventionen zu sprengen weiß.
Dieser weiße Akt ist denn auch so furios und fesselnd, dass das Kirov-Ballett, als es 1961 erstmals im Westen gastierte, aus „La Bayadère“ nur diesen Akt zeigte. Wofür es stürmisch bejubelt wurde!
Faktisch gehört die „Bayadère“ (die Vladimir Malakhov für seine Berliner Fassung zur „Bajadere“ eindeutschte, siehe Texte unter „Staatsballett Berlin“ im ballett-journal.de) fest zum klassisch-russischen Kulturschatz. Außerhalb Russlands oder der SU war das Stück zunächst sogar unbekannt, bis das in der SU in Kirov-Ballett umbenannte Mariinsky Theater den weißen Akt eben auf Gastspielen präsentierte.
Rudolf Nurejev hat dann in den 60er Jahren in London und 1992 in Paris seine „Bayadère“ kreiert; Natalia Makarova schuf 1974 eine häufig gespielte eigene Version – mit weniger kniffligen technischen Finessen und dafür großzügigeren Effekten.
Der weiße Akt aber ist gut tradiert und wird von allen mir bekannten Choreografen als „Originalstück im Stück“ von Marius Petipa übernommen.
Eingebettet ist dieser „Tanz pur“ aber in zwei weltliche Akte, die die Unvollkommenheit sogar oder gerade des liebenden Menschen und seiner Sozietät vor Augen führen.
Denn zunächst wird nichts gut durch die Liebe hier – im Gegenteil. Alles Schlechte rührt aus Verliebtheit, und dazu gehört auch, dass der von der Tempeltänzerin abgewiesene Brahmane aus Rache die Hochzeit zwischen Solor und der Radscha-Tochter einfädelt. Sein Kalkül, die Bayadère dann für sich zu gewinnen, scheitert indes an deren Liebeswillen, aus dem zu guter Letzt sogar ein Todeswille wird.
Soviel Drama ist selbst in Petipa-Balletten selten – und ganz klar Khudekoff zu verdanken. Die klassische tänzerisch-mimische Umsetzung garantiert derweil ein cineastisches Erlebnis, das nicht auf den Rausch der opulenten Bilder allein reduziert ist. Der Handlungsreichtum und die gute psychologische Motivation hier könnten jeden Dramatiker neidisch werden lassen.
Mit Ballettpantomimen, die, wie Patrice Bart mal in einem Interview feststellte, in „La Baydère“ eng mit der dramatischen Handlung und der Choreografie verwoben sind, lässt sich solches Intrigenspiel zudem vorzüglich anbahnen und durchziehen.
EIN SEHR HEUTIGES THEMA: BEZIEHUNGSSALAT
Die Heutigkeit des Themas ist angesichts vielfältiger Beziehungssalate im 21. Jahrhundert kaum zu übersehen!
„La Bayadère“ handelt schließlich von der Unentschlossenheit und Feigheit eines von zwei Frauen geliebten Mannes, der in Patrice Barts Version beide Frauen liebt, aber nicht den Mut hat, dieses zuzugeben. Dafür geht es hierin auch um die radikale Rivalität seiner beiden Geliebten, die er nicht in Freundschaft oder sogar Liebe umzumodeln weiß.
Dennoch gibt es einen Pas de trois im Vorfeld der avisierten Hochzeit von Solor und Gamsatti: Der Geist von Nikija taucht hier auf und verlockt den künftigen Bräutigam zu einem tändelnden Spiel mit zwei Frauen auf einmal.
Dieser versteckte Hinweis auf eine mögliche sexuelle Vorliebe ist durch das Libretto gut getarnt: Solor begegnete seiner toten Tempeltänzerin ja bereits in seinem Traum vom Reich der weißen Schatten. Warum also sollte sie jetzt, da er erregt und verwirrt ist, nicht erneut in seinem Leben auftauchen und dort für Unruhe sorgen? Und warum sollte die enge emotionale Verflechtung mit Gamsatti, mit der sie ja immerhin denselben Liebhaber-Geschmack hat, nicht auch sein Gutes haben?
Zugegeben: Frauen, die bereit sind, einander für einen Mann umzubringen, am Schluss glücklich zu dritt vereint zu sehen, ist ein gewagter Schritt. Vor der Folie der vorangegangenen Handlung aber ist er ein gutes Stück Gesellschaftskritik.
Insofern macht Patrice Barts Ergänzung des Schlussstandbilds um die zweite Frau durchaus Sinn und ist durch die Unentschiedenheit Solors, aber auch durch die Kritik an den auf Erden herrschenden sozialen Verhältnissen absolut motiviert.
Motto: Wäre Nikija nicht nur eine Tempeltänzerin und wäre Gamsatti nicht so eine sozial hoch stehende Fürstentochter, wären sie vielleicht sogar das eigentliche Liebespaar hier. Oder zumindest in einer mehr oder weniger glücklichen Menage à trois zu vereinen.
Lebensmodelle mit Bigamie wurden denn auch zu allen Zeiten von Menschen praktiziert, ob heimlich (wohl am häufigsten) oder auch offen (etwa vom Choreografen Rudolf von Laban).
Das Libretto gibt tatsächlich eine solche Mahnwache für eine neue Liebesformation her.
Wenn auch der ursprüngliche Schluss, der die wahre Liebe der Tempeltänzerin über alles andere siegen lässt, für uns an kitschige Glück-zu-zweit-Happy-Ends gewöhnte Zuschauer ebenfalls sein Gutes hat: Er ist weniger irritierend.
Verblüffend ist letztlich aber auch die Ähnlichkeit dieses Balletts „La Bayadère“ zu „La Péri“, das schon 1843 von Jean Coralli nach Musik von Friedrich Burgmüller in Paris uraufgeführt worden war. Das Libretto zur „Péri“, in der es wie in der „Bayadère“ um einen opiumrauchenden, zwischen zwei Frauen hin und her gerissenen Liebhaber geht, stammt von Coralli und Théophile Gautier – jenem Gautier, dem auf Inspiration von Heinrich Heine hin auch das Urballett trügerischer Liebe, „Giselle“ mit dem berühmten zweiten weißen Akt von 1842, zu verdanken ist.
Die „Giselle“ von Patrice Bart ist ja in Abständen beim Staatsballett Berlin zu sehen – mit Barts „Bayadère“ kann man ein weiteres, früheres Werk des heimlichen Revoluzzers Bart genießen: Er weiß, wie man aus einer altbekannten Sache etwas ganz besonders Delikates macht.
Die Ausstattung von Tomio Mohri für Barts Inszenierung beim Bayerischen Staatsballett rückt das fiktive historische Indien weit nach Osten, verleiht der imaginierten Tempelgemeinschaft einen deutlich asiatischen, genauer: japanischen Touch. Das tut viel für die Ästhetik und passt auch insofern, als die Japaner mit ihren Samurai einen Kriegermythos schufen, wie es ihn stärker in kaum einer anderen Kultur gibt. Tatsächlich ist Solor dem Libretto nach ein berühmter Krieger, also ein Soldat, ein durch militärisches Töten vorangekommener gesellschaftlicher Aufsteiger – und seine schönen Hände kann man sich insofern auch blutbefleckt vorstellen.
Der Mythos der indischen Tempeltänzerin lässt sich hingegen nicht ohne weiteres mit dem der japanischen Geishas vereinen. Nikija ist eindeutig in einem fantastischen Indien daheim – das sah auch der Ausstatter ein und verpasste ihr die in diesem Stück üblichen scheinbar indischen Pluderhosen.
Und auch das „Goldene Idol“, in München im Mai 2016 in beiden Besetzungen von Adam Zvonar getanzt, gehört eindeutig der indischen Welt an, nicht der japanischen – obwohl seine ruhig-stoische Haltung bei seinen exquisit-schweren Sprüngen und seiner Spagatsprungrunde eine fast buddhistische Gelassenheit voraussetzen. Es ist nichtsdestotrotz vor allem Ballett pur, was damit zu sehen ist.
Bei früheren Repertoire-Aufführungen glänzte übrigens in München sein zauberhafter Weltstar Lucia Lacarra in der Rolle der Nikija. Es ist unklar, ob sie in München bleiben wird – die Verhandlungen mit dem kommenden Intendanten Igor Zelensky scheinen nicht sehr gut zu laufen.
Aktuell tanzen die Münchner Primaballerinen Ekaterina Petina und Daria Sukhorukova diesen Part der liebenden Bayadère, der von Petipa übrigens speziell für seine damalige Lieblingsballerina Ekaterina Warzem kreiert worden war.
In der Rolle der skrupellosen, aber ebenfalls schwer in Solor verliebten Gamsatti brilliert heuer in München (und zwar in beiden Besetzungen) die liebliche Ivy Amista.
Als Solor alternieren der fabelhafte Maxim Chashchegorov und junge Erik Murzagaliyev. Man darf sich auf kernige Sprünge und vielfache Pirouettenvollräusche freuen!
Die Geschichte der Bayadèren im Ballett hat indes noch ein ganz anderes historisches Vorspiel: Schon 1830 trat Marie Taglioni, und zwar noch ohne Spitzenschuhe, im indisch inspirierten Outfit in der Ballett-Einlage einer Oper auf. Dieses Musikspiel, „Der Gott und die Bayadère“ von Daniel-François-Esprit Auber, reitet bereits auf der Vorliebe für exotische Themen, die sich vom 19. Jahrhundert bis ins 20. hinein erstreckte, was Bühnensensationen angeht.
Als Spektakel und Orakel zugleich ist daraus der fulminante Solo-Auftritt des „Goldenen Idols“ in „La Bayadère“ geworden. Man ahnte also den sinnlichen und tänzerischen Kult eher naturhafter Religionen.
Eine echte indische Tänzerin namens Amani begeisterte denn auch schon im 19. Jahrhundert auf Tourneen die westlichen Zuschauer.
Théophile Gautier, der Librettist von „Giselle“, kreierte dann unter deren Eindruck zusammen mit dem Bruder von Marius Petipa – Lucien Petipa war ein brillanter Ballerino – eine getanzte Sanskrit-Illustration, die schon den Namen „Hamsatti“ sowie die Thematik einer zweiten Frau (die hier „Sakuntala“ heißt) auffährt.
Erst zwanzig Jahre später fand Marius Petipa, der immerzu hungrig auf für Ballett umsetzbare, neuartige Themen war, zu seiner „Bayadère“: indem er sich der Sache seines Bruders damals in Paris besann. Und das ist vielleicht die wichtigste all dieser Geschichten um ungezähmte Krieger und stutenbissige Konkurrentinnen.
Gisela Sonnenburg
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