Sie bilden einen Reigen, als hätte der moderne Klassiker Henri Matisse sie persönlich gemalt: Die acht Tänzerinnen und Tänzer vom Bundesjugendballett (das dem Hamburg Ballett von John Neumeier angegliedert ist) biegen, im Kreis stehend, die schönen Leiber hin und her. Hand in Hand bewegen sie sich dabei, die Arme wie beladen von einer gewissen Schwere, ganz so, als wären sie von einer unsichtbaren Last bedrückt – und nur ihre Selbstbewegung kann sie davon befreien, so scheint es. Von Matisses weltbekannten Gemälden namens „Der Tanz“ offenkundig inspiriert, begann der wohl ungewöhnlichste und schönste Genre-Übergriff, den das Bundesjugendballett (BJB) sich bisher leistete: In der neu eröffneten Hamburger Kunsthalle bot das tapfer-redliche Tänzerteam letztes Wochenende dem kulturhungrigen, aufgeschlossenen Publikum sechs knapp einstündige Vorstellungen in nur drei Tagen – ein Rekord, sogar für diese auftrittsreiche kleine Compagnie.
Der Tanz durchs Obergeschoss der Hamburger Kunsthalle beginnt vor den „blauen Blasen“ des amerikanischen Malers Sam Francis. „As for the Open“ heißt das raumgreifende Bild, das 1962/63 entstand und 1968 für die Kunsthalle erworben wurde. Der Maler wurde als Held der Befreiung Ende des Zweiten Weltkriegs schwer verletzt und kam erst während seines Ringens um Heilung zur bildenden Kunst. An sich war er Naturwissenschaftler, setzte sich aber später engagiert gegen den Vietnamkrieg ein. Francis’ Bild hier ist abstrakt, es besteht aus großen Farbkreisen, die entweder rot-grün sind (im linken oberen Teil des Gemäldes) oder blau bis petrolfarben. Hinter und zwischen den Blasen ist außerdem viel Weiß zu sehen – die Leinwand wurde noch nicht mal grundiert. Aber Spritzer, Schlieren und Getropfe zieren das Werk und verleihen ihm eine Anmutung von Spontaneität, Entschiedenheit, auch von einer gewissen Leichtigkeit. Der 1923 geborene Künstler starb übrigens 1994. Hätte er den Tanz des BJB vor seiner Malerei noch sehen können, es hätte ihn vermutlich hoch erfreut.
Der Reigen in Matisse’scher Manier, den das achtköpfige Bundesjugendballett vor dem Bild vollzieht, ist im übrigen einer Choreografie von John Neumeier („Die Stille“) entlehnt. Sie zeigt das BJB im Rahmen seines Programms „Macrocosmos“. Im Museum wird der Tanz aber außerdem live begleitet von den sauber gestrichenen, mal exaltiert stammelnden, mal melodisch funkelnden modernen Violinenklängen, die der Hamburger Musikstudent James McFadden-Talbot seinem Instrument entlockt. Er ist gleichsam der Hirte hier, der seine Schäfchen zusammen hält, indem er sie mit seiner anregenden Musik leitet.
Das Zusammengehen von Musik, Malerei und Tanz ist hier exemplarisch zu besichtigen – ein Augen- und Ohrenschmaus.
Da verleiht der Tanz der Kunst ganz neue Bedeutungen. Die blauen Blasen etwa im Bild von Francis, handelt es sich dabei nicht sogar um eine Art Lebensblasen? Im getanzten Reigen des BJB aber liegt jene eine gewisse Schwere, die man kaum fassen kann. Dazu kratzt die Violine ziemlich verzückt-masochistisch, einige abbrechende Phrasen erklingen: als sei ihr Spiel eine leise, aber sichere Hinleitung zur Apokalypse. Das erklärt auch die langsamen, von schwerem Atem begleiteten Verrenkungen der Tänzer. Gefahr und Melancholie liegen plötzlich in der Luft, statt einer bedenkenlosen Fröhlichkeit.
Das Bild wirkt darum gar nicht mehr munter-zuversichtlich, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Sondern die Blasen drohen zu zerplatzen, zu zerreißen, und ein grelles Rot – ein arterielles Blutrot – könnte sich von oben herab aus der ganz linken Blase in die Welt hinein ergießen. Es würde für Schmerz stehen, für großen Schmerz, für Krieg vielleicht auch – obwohl rechts unten im Bild ein leeres Gefäß bereit zu stehen scheint, das das Rot gern aufnehmen und sicher bewahren würde. Aber niemand weiß genaues an so einem Tag, an dem das Bild gemalt wurde.
Auch die Tänzer können sich nicht ganz sicher sein, wie weit sie mit den nächsten Schritten kommen. Der Violinist James McFadden-Talbot lässt die Tanzenden, die um ihn stehen, nicht aus den Augen, er hält stetig und umsichtig den Kontakt zu ihnen – sorgsam stimmt er sein Spiel auf die Spannungen und die Bewegungsmuster der Körperkünstler ab.
Man könnte sogar sagen, dass der Musiker hier die Rolle eines „Tanzdirigenten“ inne hat, eines „Tanzspielleiters“ sozusagen, und das wäre schon fast eine neue berufliche Perspektive für Musiker, wenn es solche Spektakel wie dieses – was zu hoffen ist – künftig häufiger geben würde.
Verblüffend ist an dem Start der ohnehin ungewöhnlichen BJB-Show: Hier wird zunächst die dunklere Seite eines Bildes aufgegriffen und tänzerisch interpretiert, nicht etwa die helle und lichte Fassade des Werks.
Was für ein fulminanter, unerwartet schwermütiger Einstieg ergibt sich dadurch!
Auch Matisses Interpretation von Tanz ist ja nicht nur Freude. Aber sein Bild wird durch die Zitierung durch die Tänzer kommentiert, und der Tanz wirkt so weniger munter, aber vor allem befreiend, ja sogar entlastend …
Doch die Schwere, die ist zunächst mal ganz einfach da, die bleibt auch im Raum, die ist nicht einfach auf und davon zu pusten. Und logischerweise bricht dann auch ein Teil der Tänzer ein, geht langsam zu Boden, setzt das tänzerische Spiel dort aber fort.
Wie Dämonen bewegen sie sich jetzt, in der Hocke oder mit sich spreizenden Beinen am Boden entlang.
Sie tragen Socken, um auf dem Parkett gut vorwärts rutschen zu können.
Dann teilt sich die Gruppe unmerklich, erst geht ein Tänzer vom Kreis um den Musiker fort, dann gehen zwei, drei, vier, dann fünf, dann sechs. Zwei kehren zurück – und die ursprüngliche Gruppe hat sich geteilt.
Je zwei Paare finden sich jetzt zu einer Prozession: die eine davon geht mit dem Violinisten McFadder-Talbot in ihrer Mitte langsam einen Raum weiter, während die zweite Gruppe in die andere Richtung geht und ein Stockwerk tiefer fortan um Flötenklänge herum tanzen wird.
Wir folgen der Geige.
Minju Kang und Teresa Silva Dias, die beiden Mädchen der vierköpfigen Tanzgruppe, tragen schwarze Socken, schwarze Hot Pants und schwarze, ärmellose Shirts.
Sie wirken wie postmoderne Elfen, zugleich bezaubernd, aber auch entzaubert in ihren improvisierten Kostümen.
Kristian Lever und Tilman Patzak, die beiden Jungs, zeigen ihren entblößten Oberkörper zu eleganten Herrenhosen, in denen sie, vor allem, wenn sie langsam-lasziv schreiten, aussehen wie aus den Fantasien des Choreografen Maurice Béjart kommend.
Die Gruppe tänzelt und hüpft, sie geht und bleibt stehen – und versammelt sich vor Bildern des norwegischen Expressionismus-Genies Edvard Munch. Der übrigens „Munk“ ausgesprochen wird, was sich ja noch immer nicht ganz herumgesprochen hat.
Munch war kein wirklich glücklicher Mensch. Aber er verfügte über Talent und Eigensinn, was unabdingbare Tugenden für Menschen sind, die nicht nur durchschnittlich in ihrem Schaffen sind.
Weltberühmt wurde Munch mit seinen Arbeiten zum Thema „Der Schrei“ – das E.T.-förmige Wesen mit oval aufgerissenem Mund, das sich vor wilden Farbschlieren auf einer Brücke ohne Anfang und Ende findet, gibt es mittlerweile auch als aufblasbare Plastikfigur (was kein Fortschritt, aber ein Kennzeichen der Vermassung von Kultur ist).
Ebenfalls sehr bekannt sind aber auch Munchs Variationen der „Madonna“, die er zwischen 1892 und 1895 malte: Keine keusch verhüllte Gläubige schaut uns da treuherzig an, sondern eine sündig-nackte Schönheit scheint uns wolllüstig ihr Begehren zu zeigen. Das war natürlich brisant in der Belle Époque!
Noch heute verströmen Munchs Madonnen dieses Flair aus Begehren und Aufbegehren, und weil sie es unabhängig und scheinbar selbstlos tun, sind sie darin noch immer kleine Revoluzzerinnen. In Zeiten der Porno-Industrie, die Frauen kaum ein eigenes Begehren zugesteht, allemal.
Die Munch’sche Madonna in der Kunsthalle hat eine leuchtend weiße, rosige Haut – am ganzen Oberkörper – und eine schwarz glänzende, wilde Haarpracht, die nahe legt, sie sei eine ganz besondere Verlockung wert.
Sie ist so tänzerisch gebogen mit ihrem schönen Leib, dass man sie glatt selbst für eine Tänzerin halten könnte. Für eine Ausdruckstänzerin auf den Spuren von Isadora Duncan oder Anita Berber vielleicht?
Die beiden Mädchen vom BJB tanzen dazu mit einem der Jungs, und die Violine bricht in heftige akustische Zuckungen aus.
Auch die Tänzer steigern sich so zu einer expressiven Ekstase. Bis sie zu viert um den Geiger herumtanzen und ihre Spannungen zu ihm hin abzugeben scheinen. Der Violinist als Blitzableiter.
Der hoch begabte Tänzer Kristian Lever, der aus London kommt, dabei aber Finne ist und in Helsinki, New York und Dresden ausgebildet wurde, folgt alsbald als Erster den neuen Spiel- und Freiräumen, die ihm jetzt der Musiker lässt.
Dabei geht es nicht nur darum, die Musik zu illustrieren. Lever nutzt die Gunst der Minute für ein solistisches Mini-Drama. Darin hält er doch glatt die rechte Hand wie eine Pistole; ob es ein Spielzeugrevolver wäre oder ein echter, wenn er denn da wäre, sei dahin gestellt.
Des Tänzers Geste ist jedenfalls verständlich: Auch Kunst kann eine Waffe sein, kann Menschen beeinflussen und manipulieren, im positiven wie im negativen, und sie kann einen sogar umhauen – ebenfalls im schönen wie im grausigen Sinn.
Mir ist es kürzlich sogar wie folgt ergangen: Nach dem Besuch einer Ausstellung in Berlin mit Werken von Unica Zürn und Hans Bellmer, die eine hassgeladene, selbstzerstörerische, ziemlich humorlose Beziehung führten, war ich tagelang schlecht gelaunt.
Dagegen gibt einem die mit Pastelltönen grundierte Hamburger Kunsthalle, worin sorgsam und klug die mal tiefsinnigen, mal das Leben lauthals feiernden, hochkarätigen Werke platziert wurden, ein sehr nobles Hochgefühl. (Rückblickend kann ich sagen: viele Tage anhaltend.)
Zusammen mit dem Ballett und der Musik entsteht hier ein Geist der absoluten Kultur, der wirklich Schule machen sollte.
Und da es eine junge Mutti geschafft hat, ihren Doppelkinderwagen mit Zwillingen mit ins Museum zu hieven, kommen hier sogar Säuglinge auf den Kunstgeschmack. Jedenfalls ihrem Krähverhalten nach.
Unsere Tänzer ziehen indes weiter. Um vor einem der schönsten Kunstwerke der Welt zu stoppen: vor Paula Modersohn-Beckers Profilportrait „Ein junges Mädchen“.
Die Malerin schuf es 1901, im Jahr ihrer Heirat. Es zeigt ein blondes, bäuerlich wirkendes Girl mit geflochtenem Zopf im Profil. Auf der Stirn ruht der jungen Frau eine vornehme, bläulich schimmernde Perlenkette, die einen reizvollen Kontrast zu den etwas derben Gesichtszügen der Maid bildet. In der Hand hält sie – und das enthüllt ihre eigentliche, zarte Natur – ein kleines Gänseblümchen, an dem sie zugleich zu riechen scheint. Gänseblümchen riechen zwar nicht besonders gut, aber süßlich und auch ein wenig ranzig – das Mägdelein scheint sich genau so zu fühlen. Und ihre Augen schauen wie wissend weit in die Zukunft, aber was sie sieht, gereicht ihr nicht nur zur Freude.
Tatsächlich hatte Modersohn-Becker es trotz enormen Talents und enormen Eigenwillens nicht leicht. Als Frau wurde von ihr damals erwartet zu heiraten – oder sich eine Anstellung in einem schlecht bezahlten Brotberuf zu suchen. Während viele männliche Kollegen von ihr mit weit weniger Können große Karrieren machten, wurde Paula immer wieder auf die Tatsache, „nur“ eine Frau zu sein, zurück geworfen.
Dennoch ließ sie nicht locker, richtete ihr Leben ganz nach ihrer Berufung ein. Sie schulte ihren Blick und ihre Pinselführung in Paris; der Einfluss von Malern wie Paul Cézanne und Paul Gauguin ist bei Paula Modersohn-Becker unverkennbar. Für die Künstlerkolonie Worpswede in Niedersachsen wurde ihr Stil denn auch mit prägend.
Paulas Ehe mit dem weit weniger begabten Maler Otto Modersohn geriet indes immer wieder ins Schlingern. Sie fühlte sich unfrei und wollte sich eigentlich bald scheiden lassen. Ohne finanzielle Absicherung hätte das aber das Ende ihrer Malerinnenkarriere bedeutet.
Sie wurde schwanger – was ein Herzenswunsch der gefühlvollen Künstlerin war – und verstarb, tragischerweise, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter an einer Embolie.
Die Tänzerinnen und Tänzer vom Bundesjugendballett kennen das traurige Schicksal der Malerin des Bildes nicht. Sie haben so viele Proben und Auftritte, dass ihnen keine Zeit bleibt, sich inhaltlich allzu ausführlich mit so vielen verschiedenen Werken zu befassen, wie das Museum sie zu bieten hat.
Und Bücher lesen Tänzer nicht selten im überstreckten Spagat, um die Beine zu dehnen. Ein Teil der Aufmerksamkeit geht dabei immer an den eigenen Körper; zu hundert Prozent lesen kann man das eigentlich nicht nennen. Das Mit-dem-Stift-in-der-Hand-Lesen, das durch das Notieren von Gedanken zudem den Denkprozess befördern soll, ist im Spagat möglicherweise auch doppelt anstrengend.
Das Konfliktfeld zwischen dem Tanzen und anderer Arbeit ist so alt wie der Berufstanz selbst. Hier fehlen noch Konzepte, die angehenden oder auch fertigen Tänzern es ermöglichen, einen Teil ihrer Zeit und Kraft etwa auch in intellektuelle Bereiche des Lebens zu investieren. Der Choreografenszene dürfte das unmittelbar zu Gute kommen – aber auch die Einzelschicksale von Tänzern, die ihren Beruf nicht bis zur Rente ausüben, könnten dadurch Auftrieb erhalten.
Fragt sich nur, ob der harte internationale Arbeitsmarkt für junge Berufstänzer es mitmachen würde, wenn sich nicht nur auf die künstlerische Körperarbeit konzentriert würde. Denn allein schon die technische Leistungsstärke heutiger Ballerinen und Ballerini erfordert sehr viel Aufwand und frisst aus dem Kräftepool oft alles, was er an echter Anstrengung aufbieten kann.
Dafür erahnen Tänzer viel, so auch hier – mitunter scheint es, als würden sie vieles wissen, ohne dass es ihnen bewusst ist. Instinktiv bilden so die beiden tanzenden Mädchen mit ihren Händen schützende, spitze Dächer über ihren Köpfen. Als wüssten sie um die patriarchalen Gefahren, unter denen Paula Modersohn-Becker so litt, und als wollten sie diese von sich abwenden.
Es ist Zeit, etwas zu diesen tollen jungen Damen zu sagen:
Minju Kang kommt aus Seoul und wurde dort sowie in Hamburg bei John Neumeier ausgebildet. Ihr ehemaliger Lehrer, der Weltklasseballettmeister Kevin Haigen, ist heute ihr Chef, als Künstlerischer und Pädagogischer Leiter des BJB. Deutschland lernt Minju durch die vielen Reisen des BJB zu Auftritten ganz gut kennen. Ihr Publikum darf sich glücklich schätzen, sie tanzen zu sehen: Minju Kangs große Stärke ist es, Präzision und Aktion in Einklang zu bringen, und sie kann dieses trotz ihrer Jugend in einem so hohen Ausmaß, wie ich es nur selten gesehen habe. Ein sehr großes Talent!
Aber das gilt auch für Teresa Silva Dias, die aus Lissabon kommt und dort auch zur Balletttänzerin ausgebildet wurde. Sie hat eine ganz natürlich-sinnliche, dennoch sehr starke Ausstrahlung, in einer Mischung aus wild und diszipliniert, wie sie nur sehr wenige Menschen, auch wenige Bühnenkünstler, haben. Wenn man Teresa beim Tanz anschaut, kommen einem sofort Worte wie „Tänzernatur“ oder „Naturtänzerin“ in den Sinn, obwohl Ballett ja nicht nur Natur, sondern auch Drill bedeutet. Aber bei dieser Tanzhoheit vergisst man das – und empfindet jede ihrer Bewegungen als originären Ausdruck ihrer Seele oder ihrer impulsiv sich äußernden Befindlichkeit. Sehr toll.
Das Bundesjugendballett hat ja, durch seinen engen, also räumlich nahen Kontakt mit dem Publikum, einen ganz eigenen Stil entwickelt, der flexibel überall hinpasst und sich problemlos jeder Tanzzone anpasst. Flippig ist der Impetus der Gruppe beim Tanz, nicht zu streng, nicht zu akademisch – aber von Anmut und Dynamik beseelt. So auch bei den Auftritten im Museumsbau: Extrem lyrische Passagen sind zwar eher selten, dafür aber reißt das geschmeidige Körperspiel der Gruppe einen mit, es geht unter Haut, es beglückt – und lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass Ballett eine richtig gute Sache ist.
Diese Kunstform passt hervorragend zu Bildern und Skulpturen. Warum? Vielleicht weil die Abbilder des Menschen, die zum Beispiel die Malerei liefert, dann in den Tänzern ein veritables reales Gegenüber finden, und zwar eines, das gleichermaßen für eine Überhöhung der menschlichen Figur sorgt.
Man könnte sich von daher das moderne Ballett des BJB auch in einer Fotoausstellung denken, vor allem in einer mit großen Schwarz-weiß-Abzügen. Dann müsste allerdings noch der inhaltliche Bezug stimmen, und das war etwas, das bei den modernen Klassikern in der Hamburger Kunsthalle ganz vorzüglich funktionierte.
Fast habe ich den Eindruck, die Expressionisten haben überhaupt nur deshalb gemalt, damit diese Werke eines Tages betanzt werden. Da gehen Schwingungen hin und her, zwischen den Tänzern und den Bildern… und die Tanzenden müssen noch nicht einmal dafür hinsehen, sondern schwingen im Takt der Musik die Köpfe. Wunderbar.
Die Musik wird beim Frauen-Thema rund um Paula Modersohn-Beckers Bild entsprechend wieder spannungsgeladener, zickiger, hektischer, auch enervierter; mitunter stößt das Fragment einer Melodie für ein paar Takte ins atonale Gebälk vor, dann aber siegt wieder das Suchen und Finden und Fallenlassen der Töne über die stringente Rhythmik der Vernunft. Ja, Musik und Emanzipation passen gut zusammen, beides ist ein Kampf, der wohl nie ganz aufhören wird…
Das Schutzbedürfnis von Minju Kang in dieser Atmosphäre wird von Kristian Lever bemerkt. Er verwickelt sie in einen Pas de deux und trägt sie, die dabei in hockender Haltung bleibt, schließlich aus dem Raum. Nur fort zu neuen Ufern!
So unprätentiös, aber wirksam kann also männliche Hilfe sein.
Zu dritt tanzen Lever, Kang und Silva Dias jetzt synchron, was im Rahmen solcher schnell entstandenen Choreografien, die auf spontanen Improvisationen beruhen, sicher nicht einfach ist. Die Drei haben den Bogen aber raus und heben jeder ein Bein vorne hoch, ziehen es zackig wieder zurück, heben die Unterschenkel des Spielbeins hinten, wiederholen das Ganze – und lösen sich als Grüppchen wieder auf.
Als Solist in der Gruppe zu tanzen, ist wahrscheinlich besonders befreiend. Das ist ein großes Plus, das eine kleine Truppe wie diese ihren Mitgliedern zu bieten hat.
Etwas anderes ist absurd, aber schön: Von der mit samtviolettem Stoff bezogenen Sitzbank des nächsten Museumssaales aus lässt es sich derweil, wie schöne männliche Tänzerbeine demonstrieren, fantastisch planlos in die Luft strampeln. Muss ich beim nächsten Rundgang auch mal ausprobieren.
Weiter geht es – zu Franz Marc. Der gebürtige Münchner steht für eine vor allem tier- und menschenfreundliche Variante des Expressionismus. Seine schönsten Gemälde malte er unter Eindruck der Kubisten, wobei Marc stets eine charmante Referenz an die Schöpfung kreierte. Humor war ihm dabei allerdings eine wichtige Grundlage.
Und so tollen in seinem Bild „Affenfries“ munter-gelassen grau-braune Paviane durch ein naiv-märchenhaftes Dschungelgrün. Schaut man einige Zeit hin, fühlt man sich selbst wie so ein süßes Äffchen, das zwar nicht weiß, ob es sich freuen oder ärgern soll, wenn ein Wolkenbruch die Flucht des Rudels in ein Versteck vor dem Nass nötig macht, das aber ganz sicher jede Sekunde seines Lebens heillos genießt.
Der Ballerino Tilman Patzak, der wie Franz Marc in München geboren ist, dreht hier voll auf. Der rothaarige Vollbluttänzer zappelt und zuckt, dass es eine Freude ist, man könnte vermuten, dass er in sich seine animalische Urseele sucht. Falls die Affenhorde von Franz Marc noch einen Animateur sucht – hier wäre er!
Patzak hat zudem eine wunderbar expressive Bodenposition für sich erfunden, mit einem durchgebogenen Rücken und nach hinten gelegtem Kopf, wenn er sich mit der Bauchseite nach oben wie in einem umgedrehten Liegestütz befindet. Das klingt und ist akrobatischer, als es wirkt – innerhalb tänzerischer Aktionen hat so eine Pose einen ganz starken künstlerischen Ausnahmecharakter, der die Passion und auch die unterdrückte Aggression des Tanzes schön unterstreicht.
Mit einem fast neckisch gezupften Staccato der Violine von James McFladden-Talbot geht es weiter in den nächsten Saal…
… zu den Künstlern der „Brücke“, dem deutschen Höhepunkt des Expressionismus. Also dorthin, wo sich der Himmel über der Nordsee und die Lieblichkeit der sächsischen Landschaft in fett aufgetragenen, knalligen Farben gut verstehen. Nie zuvor hatte man so eruptive Farben in Bildern gesehen, bis Nolde sie malte.
Aber auch für recht feine Linien hatten die „Brücke“-Künstler Sinn. So etwa Otto Mueller mit seinen Nackten, die arglos und unbeschützt wie die ersten Menschen zwischen den Sanddünen glucken.
Tilman Patzak schiebt sich vor diesem Bild wie ein Faun hin und her, es scheint ihn in das Bild, in die Szenerie vom grün-weißen Strand, regelrecht hineinzuziehen.
Ein feuriger Pas de deux entspinnt sich denn auch, McFladden-Talbot spielt dazu wie ein Teufelsgeiger!
Diese Musik kann aber auch eine ganz andere Wirkung haben, als einen temperamentvollen Paartanz hinzupfeffern. Kristian Lever beweist das, indem er sich zuckend gen Boden biegt und beugt, bis er mit dem Oberkörper und den Händen unten ankommt. Dort schöpft er Kraft für eine Attacke – und prompt klatscht er laut in die Hände!
Seine MittänzerInnen erschrecken sich – wie Sonnenanbeterinnen vor einem plötzlich auftauchenden Ziegenbock in den Dünen – und sie suchen Schutz hinter dem Rücken des Musikers.
Die angesammelte Energie können sie im nächsten Raum gewiss gut entladen: Hier hängt das Triptychon der „Maria Aegyptica“, also der Maria Magdalena, von Emil Nolde.
Nolde, dieser Farbberserker, der Blumen- und Wolkenmeere in bis dahin völlig ungeahnter Farbabstrahlung malte (und auch tuschte), schuf mit dem dreiteiligen Bildzyklus einen Beitrag zur Mythologisierung – nicht nur der biblischen Figur der bekehrten Sünderin, sondern auch des Frauenbilds seiner Zeit.
Zu diesem Werk wünscht man sich eigentlich ein Ballett von John Neumeier. Allerdings hat er zu diesem Thema noch nichts, was man kennen kann, kreiert. Man sollte ihn also bitten, für das Museum ein solches Stück zu schaffen, dass das BJB dann beim nächsten Mal vorführen kann.
Denn die Thematik der gemalten Geschichte ist sehr geeignet für ein kleines Ballett. Da sieht man die Heldin auf dem ersten Bild als Hure beim Feilschen in düsteren Gefilden. Dann, kniend in einem roten Kleid vor gelbem Grund, sieht man sie betend, bittend, bereuend, sich von der Sünderin zur Heiligen mausernd. Schließlich sehen wir sie sterbend, mit tigerartigem Fell bedeckt, nur die schönen Brüste sind davon frei. Die Renegatin, sie ist zum Bersten erotisch in ihrem Tod… es ist schon eine eigenartige Fantasie, der die Christenheit und Nolde-Anhänger da frönen. Dennoch ist die Logik stimmig, dass Reue und Besserung zu einem erlösten Gesichtsausdrück führen.
Maria Magdalena ging der biblischen Legende nach als Buße ihrer Hurerei wegen für den Rest ihres Lebens in die Wüste. Um die Kälte dort nachts zu ertragen, ließ sie sich ein Haarkleid wachsen und fristete als Asketin ein einsames Dasein. Verehrt wurde sie am Ende sowohl von den Menschen als auch von den Tieren – im Bild sitzen ein Greis und ein Löwe untertänig bei ihr. Insofern sehen wir hier wohl auch ein weibliches Pendant zum antiken Sänger Orpheus.
Hätten die Tänzer den Hintergrund dieser drei Bilder gekannt, sie hätten mit dem Thema vielleicht gespielt. So bleibt es beim Reagieren auf die Farbreize und natürlich auf die wieder anschwellende, zunehmend dramatischere Musik. Das leicht verruchte Bild „Herr und Dame (im Roten Salon)“, ebenfalls von Emil Nolde gemalt, scheint da aber weitaus anregender für die Tänzer zu sein als die mit krassen Farbgegensätzen arbeitenden Marienbilder von Nolde.
Vielleicht empfinden die Körperkünstler die starke Theatralik der „Maria Aegyptica“ als zu dick aufgetragen. Oder sie lehnen einen so rückschrittlichen Mythos, der die Hure und nicht die Freier zur Sünde erklärt, auch einfach ab.
Vor einem Bild von George Grosz – das einen nackten, zylindrisch verfremdeten Frauentorso einer Prostituierten durch die Luft wirbeln lässt, während ein grüngelb-gesichtiger Freier (angewidert und widerlich zugleich) darunter auf und davon hechelt – kommt es denn auch zum tänzerischen Geschlechterkampf.
Kurz und heftig ist der gestische Paarstreit, der damit beginnt, dass Minju Kang Liebesworte in die Luft schreibt. Doch bald tobt ein Pärchenkrieg, und die Frau erteilt dem Mann im Affekt eine Theaterohrfeige. Huch! Der junge Mann flüchtet.
Wohin? In diesen Raum der Neuen Sachlichkeit, der dem Maler Christian Schad gewidmet ist. Dieser Künstler, der wie Nolde und die anderen von den Nazis für „entartet“ erklärt worden war, hatte vor allem für Portraits und Selbstportraits eine klare Sicht auf die Dinge.
Für die jungen Körperkünstler vom BJB ist aber zunächst mal die Sitzbank in der Mitte des Saales von Interesse: Ein Tänzer kriecht unter sie, der andere legt sich auf sie. Bankbesetzung, mal anders! Das Objekt Bank wird zu einem Bühnenrequisit, zu einem symbolischen Substitut für eine Frau vielleicht, die sich zwischen zwei männlichen Energien nicht entscheiden kann.
Als sich die Jungs wieder ihren Mittänzerinnen widmen, entspinnt sich ein lockeres Verwirrspiel unter den beiden Paaren.
Tilman Patzak ergreift schließlich Teresa Silva Dias, sie zappelt, er hebt sie dennoch (einen „Raub der Sabinerinnen“ gibt es auch in der Kunsthalle, wenn auch in einem anderen Saal). Als er sie wieder runterlässt, läuft sie ein paar Schritte – und bleibt doch bei ihm, bleibt wieder stehen. Was für ein Mini-Mini-Drama, und dennoch eines, das man genießen oder auch diskutieren kann.
Weiter geht es mit dem Fiedelmann, fort von den Anfängen der Moderne, auf in den Saal des Surrealismus und des Dadaismus, hin zu einem Werk von Hans Arp!
„Augen-Nasen-Schnurrbart“ heißt es, und es ist kein Gemälde, sondern eine Art pastös colorierte Laubsägearbeit. Als es 1928 entstand, sollte es auch den Mut zum Experiment ausstellen – heute sehen wir vor allem das edle Design, die wohlgeformten Proportionen von Arps Arbeiten.
Aber nicht zu übersehen ist auch die Poesie des Absurden in Arps Werken, so in diesem: Ob es sich wirklich nur um ein menschliches Antlitz handelt, das gezeigt wird, oder ob es auch noch eine zweite Ebene gibt, ist nicht ganz zu klären. Allzu verfremdend erscheint die Collage – aber mit dem „Ballettblick“ kann man die Profilkurven dieses Gesichts auch als tanzenden, gestreckten Fuß interpretieren.
Das findet auch Tilman Patzak, der das Bild direkt antanzt und in einen wundervollen Dialog mit ihm tritt. Es ist, als befrage er die Kunst und streite auch ein bisschen mit ihr – bis man sich darauf einigt, dass Füße, egal in welcher Größe, auf jeden Fall ihren Sinn haben.
Die Poesie des Absurden hat Patzak nicht nur erfasst und beantwortet, sondern ihr auch mit seinem pfeilschnell erhobenen Bein eine neue Bedeutung verliehen.
Und es geht, solchermaßen energetisch gut gerüstet, zurück zum Ausgangspunkt dieser tänzelnden Rundreise: zurück zu Sam Francis’ Bild „As for the Open“. Die blauen Blasen, sie warten schon: Dieses Mal bringt das Bundesjugendballett eine gelöste, fröhliche Stimmung mit, und während es beim ersten Treffen auf das Bild dessen Misstöne aufgegriffen und schwer daran zu tragen hatte, geht es jetzt mit Heiterkeit und Wonne darum, den folkloristisch gewordenen Ansagen der Musik Folge zu leisten, um den Zuversichtsaspekt des Bildes stark zu machen.
Die Mädchen üben frohen Mutes Hacke-Spitze-eins-zwei-drei, die Musik ist ein einziges glücklichseliges Fiedeln. Und die Blasen auf dem Bild von Francis gewinnen plötzlich immer stärker an Kontur, sie scheinen nicht mehr zu zerbrechen, sondern an Stabiliät zu gewinnen. Vielleicht handelt es sich ja bei ihnen um wachsende Organismen, die am Erblühen sind – und was heute ein hellroter Fleck ist, ist morgen vielleicht schon eine Blüte mit zarten Schichten aus gefiederten Blütenblättern. Oder das Bild zeigt hängendes Obst. Äpfel, Birnen, Quitten, Pflaumen – irgend so etwas. Es müsste ein Wunderbaum sein, der so viele Fruchtsorten an einem Zweig produziert. Aber nein, soviel Gentechnik passt nicht in die 60er Jahre, und zu Sam Francis erst recht nicht. Interessant ist nur, wie sehr der Tanz die Wahrnehmung und Deutung des Bildes verändern kann.
Kristian Lever tanzt da rasch noch den kecken, slavischen Zöpfchenschritt im Rückwärtsgang, fast wähnt man sich schon irgendwo im Balkan – aber da sammeln sich alle unmerklich für das große Finale.
Das findet standesgemäß auf der Marmortreppe des Museums statt. Das Geländer dort lässt sich nämlich prima als Barre, als Ballettstange, zweckentfremden – und mit hohen Beinen werfen die Mädchen ihre eleganten Grands battements durch die Luft, während sie langsam, ganz langsam abwärts schreiten.
All das hat Stil, das hat Flair, das hat einen Geschmack, den man öfters in Museen haben möchte.
Die Jungs hingegen wählen den komplizierteren Abgang. Auch spannend.
Kristian Lever vollbringt eine artistische Meisterleistung, indem er seinen Körper mit dem Bauch nach unten über fünf Stufen streckt. Es ist gewiss nicht einfach, sich so vorwärts und dann auch noch eine Treppe bergab zu bewegen, aber der junge Tänzer schafft es.
Sein Kollege Tilman Patzak begrüßt ihn denn auch auf halber Treppe glücklich wieder unter den Stehenden, und sogleich schlüpfen die zwei in neue Rollen.
Lever ist jetzt der Automatenmensch und Patzak der Meister Coppelius oder jedenfalls Herr über die Puppe. Witzig ist es offenbar, wenn man einen vermeintlichen Knopf am Tänzerkollegen drückt oder vor seinem Gesicht in die Hände klatscht und der „Roboter“ dann eine bestimmte Bewegung macht – oder auch nicht. Irgendwann reicht es aber beiden damit, und das Rollenspiel löst sich ohne weiteres aufAbschließend sei die vom Jugendstil geprägte Treppenhauslyrik der Kunsthalle zitiert, die unter einem Gemälde zu lesen steht, welches zwei edle Schwäne in einem sommerlichen Teichidyll zeigt. Sie gibt schon mal einen köstlichen Vorgeschmack auf den Hochsommer – so er denn irgendwann naht – und taugt außerdem als Sinnspruch für junge, hart an sich arbeitende Berufstänzer:
„Blüten und Lieder verweht. In schweigenden Gluten zur Ernte. Während die Stirn dir perlt, reif’ in der Brust dir der Kern.“
Soviel zum Verhältnis von Transpiration und Inspiration – im Hoffen auf weitere hypnotische Verhältnisse zwischen Kunst und Tanz, zwischen zeitlosem Bild und lebender Figur.
Gisela Sonnenburg
Zum BJB-Auftritt in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle geht es hier:
www.ballett-journal.de/bundesjugendballett-melancholie/
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