Wenn eine Frau die Kunst liebt John Neumeier hat sie groß gemacht, in Kiel tanzt sie jetzt die Tatjana in „Eugen Onegin“ von Yaroslav Ivanenko: Primaballerina Carolina Agüero

Leidenschaft und Liebe im Ballett sind ihre Berufung: Carolina Agüero, hier in der Symbolpose der Tatjana aus „Eugen Onegin“ von Yaroslav Ivanenko beim Ballett Kiel. Foto: Olaf Struck / Ballett Kiel

Was für eine Frau! Was für eine Tatjana! Schmelz und Schalk, Sexiness und Souveränität vereinen sich hier in einer zarten, aber stabilen Person. Carolina Agüero ist eine Ausnahmetänzerin von Terpsichores Gnaden, mit so viel Feminität und dennoch Dynamik in ihrer Kunst, dass man es nur allzu gut versteht, wenn ein Choreograf für sie kreieren möchte. Ist sie doch ein weibgewordener Dreiklang: Sie hat all die Lyrik in sich, die sie für eine überragende Darstellung der „Giselle“ brauchte. Sie hat all die Erotik an sich, die sie für die Waldnymphe „Sylvia“ benötigte. Und sie hat so viel Drama in den Beinen, im Oberkörper, in den Fingern, im Gesicht, dass sie damit die bislang beste Romola in John Neumeiers Jahrtausendwerk „Nijinsky“ wurde. Damit kann es sich nur um diese ganz bestimmte Primaballerina handeln: eben um Carolina Agüero. Sie stammt aus Argentinien, begann dort ihre Karriere, wechselte nach Chilé (zum Ballet de Santiago), kam zum Stuttgarter Ballett, dann zum Semperoper Ballett nach Dresden, nach Helsinki zum Finnischen Nationalballett und endlich, 2006, zum Hamburg Ballett, wo sie ab 2007 Erste Solistin war. Im Sommer nahm sie dort ihren Abschied, seit dieser Saison arbeitet sie freiberuflich: Sie gibt Workshops, absolviert Galas und hat jetzt ihre erste große Partie als Gastballerina beim Ballett Kiel, wo ihre ehemaligen Hamburger Kollegen Yaroslav Ivanenko und Heather Jurgensen das Zepter in der Hand halten. Ivanenko kreierte mit „Eugen Onegin“ ein neues abendfüllendes Stück zu Musiken von Peter I. Tschaikowsky – und Carolina Agüero tanzt bei der Uraufführung am 2. November 2019 die weibliche Hauptrolle, die Tatjana.

Natürlich kann man fragen, ob ein solches Ballett nach dem romantisch-realistischen Lieblingsbuch der Russen – „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin – notwendig sei. Es ist ja nun nicht das erste seiner Art.

Mit dem modernen Klassiker „Onegin“ von John Cranko (ebenfalls zu Tschaikowsky-Musik, von Kurt-Heinz Stolze kongenial orchestriert) hat sich das Thema bereits als absolut bedeutend in der internationalen Ballettwelt etabliert.

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Weltweit gab und gibt es zudem immer wieder Versuche, Crankos Geniestreich zu plagiieren, ihn tänzerisch neu zu dichten, um nicht die teuren Lizenzen für die Originalchoreografie zu zahlen. Das ist ähnlich wie mit John Neumeiers „Die Kameliendame“. Nichtsdestotrotz werden beide Originale weltweit getanzt, von avancierten Compagnien, die sich mit einer nur notdürftig verbrämten Kopie nicht zufrieden geben würden.

John Neumeier, Hamburgs Ballettchef, hatte hingegen eine ganz andere Motivation, als er sich mit dem Thema choreografisch beschäftigte: Er schuf zur speziell für ihn komponierten Musik von Lera Auerbach ein bewusst neues, in die Gegenwart verlegtes Werk nach dem Versroman von Puschkin. Und zwar mit dem Schwerpunkt der Perspektive auf „Tatjana“, der weiblichen Hauptfigur, nach der Neumeier sein fast dreistündiges Ballett auch benannte.

Yaroslav Ivanenko (seit Frühjahr 2011 Ballettdirektor in Kiel) versucht nun, fünf Jahre nach dem 2014 premierten Neumeier-Werk und mehr als fünfzig Jahre nach Crankos „Onegin“-Arbeit, mit dem eher kleinen Ballett Kiel, das regulär über neunzehn TänzerInnen verfügt, bei einem Zweistundenabend seinen ganz eigenen Weg mit dem Druckwerk von Puschkin zu gehen, das im übrigen 1833 erstmals erschien und ursprünglich auch noch ebenso satirisch wie poetisch gemeint war.

Seit etwa einem Jahr hat Ivanenko die Idee zu einem eigenen „Eugen Onegin“, seit dem Frühjahr wird daran konkret gearbeitet.

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Im Kern geht es um dieselbe Geschichte wie bei Puschkin:

Der Dandy Eugen Onegin, durch eine Erbschaft reich geworden, lässt sich dazu herab, mit seinem besten Freund dessen Verlobte und ihre Familie – von niedrigem Landadel – zu besuchen.

Dabei begegnet ihm Tatjana, die Schwester der Braut seines Freundes. Sie liebt Onegin sofort, mit ganzer Seele – aber er lehnt sie ab, will lieber ein ausschweifendes, unabhängiges Leben führen.

Durch menschliches Versagen – Provokation und Eifersucht spielen da eine Rolle – kommt es zum Duell zwischen den Freunden. Onegin überlebt als Einziger.

Erst zehn Jahre später sehen er und Tatjana sich wieder. Sie hat mittlerweile geheiratet, ist dadurch gesellschaftlich avanciert – und aus der Bücher liebenden Landpomeranze wurde eine anziehende Dame der besseren Gesellschaft.

Onegin wird eifersüchtig, weil sie und ihr Gatte scheinbar eine Musterehe führen. Er verliebt sich in sie… und spürt, dass sie ihn noch immer liebt…

In den letzten Jahrzehnten hat diese Geschichte (die Peter I. Tschaikowsky zu seiner Oper „Eugen Onegin“ anregte) die Ballettwelt immer wieder atemlos gemacht und in Spannung gehalten.

Man kann das Stück schon Hunderte von Malen gesehen haben – es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie sich das Blatt der Liebe hin- und herwenden kann.

"Eugen Onegin" von Yaroslav Ivanenko beim Ballett Kiel

Amilcar Moret Gonzalez küsst als „Eugen Onegin“ seiner Tanzpartnerin Carolina Agüero als Tatjana die Hand – und man fragt sich, wie weit die Gefühle gehen werden. Foto vom Ballett Kiel: Davit Bassénz

Ab dem 26. Januar 2016 wird die Cranko-Version von „Onegin“ übrigens beim Aalto-Ballett in Essen im Ruhrgebiet aufgeführt werden (ein Vergleich mit der Kieler Version ist sicher gewinnbringend).

Für Carolina Agüero – die die Cranko-Version bestens kennt, aber nie selbst getanzt hat – ist es jetzt eine neue Erfahrung, mit einem kleinen Ensemble etwas Großes auf die Beine zu stellen.

Als Ivanenko sie am Telefon fragte, ob sie mitmachen wolle, hat sie vor Freude sogar geweint. Ach! Diese Emotionen!

Auf der Bühne vermag sie diese Gefühle verstärkt zu zeigen, zu bündeln, zu konzentrieren. Agüero übermittelt sie so intensiv, dass es unmöglich ist, sich dem zu entziehen.

Ich durfte sie ja oft beim Hamburg Ballett in Vorstellungen sehen, zuletzt auf der Nijinsky-Gala 2019 und wenige Abende zuvor in ihrer Paraderolle als Romola in „Nijinsky“ – John Neumeier hat denn auch sie ausgewählt, um auf der gleichnamigen DVD mit seinem Meisterstück in dieser Partie mit Seele und Ausdruck, mit glasklarer Technik und tiefer Emotion zu brillieren.

"Nijinsky" von John Neumeier

Ein Pas de deux einer hochkomplizierten Ehe: Nijinsky (Alexandr Trusch) und Romola (Carolina Agüero) in John Neumeiers kongenialem Stück über den Welttänzer. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Nach all den Partien, die sie verkörperte, ist die Tatjana die logische Schlussfolgerung:

Tatjana ist eine vordergründig glückliche Frau mit einer tragischen Liebe in sich. Sie steht – wie keine zweite – für die Konflikte einer modernen Liebenden, die ihren Gefühlen in der Männerwelt keineswegs freien Lauf lassen kann, ohne dabei die eigene Identität aufs Spiel zu setzen.

Der Abgrund, den die Liebe für Tatjana bedeutet, ist in seiner Tiefe nicht abzuschätzen – und auch nicht in seiner Konsequenz, die womöglich tödlich sein könnte.

Das erahnt bereits das Mädchen auf dem Lande, als es nach seiner Entflammung für Eugen Onegin von der Sexualität als einem wilden Bären träumt.

Wie auch John Neumeier hat Yaroslav Ivanenko diese Schlüsselszene, die Puschkin ausführlich beschreibt, szenisch in sein Ballett mit aufgenommen.

Für Carolina Agüero ist es bedeutsam, dass ihre Tatjana im Traum etwas erkennt, das als Schicksal erst später auf sie zukommen wird.

"Eugen Onegin" von Yaroslav Ivanenko beim Ballett Kiel

Als wären sie ein trautes Pärchen: Carolina Agüero und Amilcar Moret Gonzalez als Tatjana und „Eugen Onegin“ von Yaroslav Ivanenko. Foto:Olaf Struck /  Ballett Kiel

Da ist es wichtig, dass der Mann, der all diese emotionalen Zerklüftungen auslöst, darin auch glaubwürdig ist. Hat Kiel einen Eugen Onegin wie aus dem Bilderbuch?  – Besser!

Amilcar Moret Gonzalez stammt aus Havanna, Kuba, und steht somit auch für die kubanische Balletttradition, wie sie ohne die kürzlich im Alter von 98 Jahren verstorbene Alicia Alonso undenkbar wäre.

Nach Stationen beim Bayerischen Staatsballett in München, dem Ballet de Monte Carlo und dem Ballett Zürich tanzte er von 2006 bis 2009 beim Hamburg Ballett.

Seit fünf Jahren tanzt er, vom Typ her ein lockig-lockender, heiterer Latin lover, nun beim Ballett Kiel, wo er unter anderem als Prinz im Aschenputtel-Märchen „Cinderella“ bekannt und beliebt ist.

Carolina Agüero kennt ihren Kieler Partner – wie ja auch den Choreografen Ivanenko– vom Hamburg Ballett.

Aber auch, wenn sie sich schon bei der Arbeit mit John Neumeier gut kennen lernten und das jetzt in Kiel vertieft haben: Ein Paar in einem abendfüllenden Stück haben Carolina Agüero und Amilcar Moret Gonzalez bisher noch nicht zusammen getanzt.

Insofern haben sie jetzt in Kiel gleich eine doppelte Premiere.

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Wenn Carolina und Amilcar zusammen tanzen, ergibt sich ein Duett aus einem hell schimmernden, melodiösen Ausdruck und einer gutturalen, rhythmisch betonten Aura. Nachgerade perfekt, um Frau und Mann an sich in eine kontrastreiche Beziehung zu setzen!

Das Paar Tatjana – Eugen Onegin ist in der Inszenierung von Yaroslav Ivanenko denn auch näher dran an einem aufregend „normalen“ Liebespaar, was die Typbesetzung angeht, als es in den Versionen von John Cranko und John Neumeier der Fall ist.

So ist der männliche Held bei Ivanenko zwar getrieben von einer unbändigen Sehnsucht nach Freiheit, aber die Arroganz, die ihn sowohl bei Puschkin als auch bei Neumeier und Cranko zunächst auffallend dominiert, ist in der Kieler Uraufführung weniger deutlich das Problem, das zwischen ihm und der Liebe steht. Hat er nicht ein Recht auf ein Singledasein?!

Das ist modern und zeitgenössisch gedacht, nach dem Motto: „Er will sich halt nicht binden“ – und in der Tat steht es so auch wörtlich in Onegins Selbstrechtfertigung Tatjana gegenüber in Puschkins Versroman geschrieben.

Aber das ist das Selbstbild, das Eugen Onegin von sich hat… faktisch drückt er sich um eine Beziehung, ist nicht bereit, Frauen als Menschen zu respektieren – sondern nur als Spielzeug, als erotische Aufregung, als Gespielin, als Anhängsel auf Zeit.

Tatjana hat schwer daran zu leiden, dass ausgerechnet ihre große Liebe so ein Hallodri ist.

Doch dann hat sie Glück mit einem anderen Mann als Ehepartner: Sie wird von ihm geliebt und akzeptiert, verehrt und gesellschaftlich erhoben.

Umso stärker wütet in ihr das alte Gefühl der Leidenschaft, als sie Eugen wiedersieht…

Für Carolina Agüero ist diese innere Entwicklung von Tatjana das Entscheidende, das sie sichtbar machen möchte: vom gutgläubigen, wenn auch intelligenten Mädel zur klugen, selbstsicheren Frau.

Die Pas de deux, die sie tanzt, sind getragen von starkem inneren Gefühl und furioser äußerer Form.

Dafür ist Carolina Agüero berühmt: gerade im Miteinander mit einem Partner aufzublühen und alles zu geben.

Carolina Agüero ist eine der ausdrucksstärksten Ballerinen der Gegenwart – wie man auch auf dem Plakat für „Eugen Onegin“ von Yaroslav Ivanenko erahnen kann. Foto: Olaf Struck / Ballett Kiel

Nach ihrer aktuellen Kieler Erfahrung befragt, sagt sie: „Ich liebe hier jeden Pas de deux, es gibt wunderschöne Berührungen und sehr ehrliche Gefühle.“

Und: „Ich erkenne in jeder unserer Bewegungen eine Bedeutung, wie in einer normalen Unterhaltung.“

Amilcar Moret Gonzalez ist für sie aber auch ein großartiger Partner: „Er ist ein Ballerino mit Erfahrung, und wir verstehen einander in jedem Detail, also in dem, was wir im jeweiligen Moment in dem Stück denken.“

Die Melancholie, die eine weitere Tugend von der jungen Tatjana ist – bei all ihrer hoffnungsvollen Bemühung um Eugen Onegin – zeigte „Caro“ schon exzessiv als Mascha in John Neumeiers Tschechow-Ballett „Die Möwe“. Aber jetzt, in „Eugen Onegin“, geht es nicht um stoische Gelassenheit, sondern um Melancholie als Antrieb zu handeln.

Schließlich ist Tatjana kein passives Objekt der Liebe, sondern selbst ein Subjekt der Geschichte, die durch sie erzählt wird…

Das erinnert an die Beziehung der Tänzerin zur Tanzkunst.

Viele Opfer, viele Anstrengungen müssen erbracht werden, um das Ziel der Vermittlung von Sinn und Erhabenheit zu erreichen. Aber dann, wenn durch all diese Mühen der Eindruck von nahezu schwereloser Kunst erweckt wird, weiß man: Es hat sich gelohnt.

"Eugen Onegin" von Yaroslav Ivanenko beim Ballett Kiel

Carolina Agüero und Amilcar Moret Gonzalez als Tatjana und „Eugen Onegin“ am Kamin – beim Ballet Kiel, anlässlich der Choreografie von Yaroslav Ivanenko. Foto: Olaf Struck / Ballett Kiel

Carolina Agüero sagt es so:

Wenn man diese Kunst, das Ballett, so liebt wie ich, dann kann man sehr weit in ihr gehen. Und mit Ausdauer und Beharrlichkeit wird es noch besser. Am Ende ist es etwas, das man niemals bereuen wird.

Wen das nun nicht neugierig macht, dem ist vielleicht kaum noch zu helfen…
Gisela Sonnenburg

P.S. Sowohl „Onegin“ als auch „Tatjana“ als auch „Nijinsky“ sind als DVD im Handel erhältlich (Rezensionen gibt es hier und hier und hier).

www.theater-kiel.de

www.hamburgballett.de

www.theater-essen.de

 

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