Wer noch nie im Ballett war, hat hiermit den besten Einstieg: Die „Jewels“ von George Balanchine bieten alles auf, was an der eleganten Körperkunst verlockend ist, ohne den vermeintlichen Schmock und Schnickschnack der Handlungsballette mitzuschleppen. Die Künstlerinnen und Künstler, die diese getanzten Juwelen darbieten, sollten allerdings keine Anfänger sein: Der ballettöse Dreiteiler stellt höchste Ansprüche an Technik wie an Ausdruck. Zumal die sublime Botschaft des Stücks – Ballett als Juwel der Kulturgeschichte – sich eher einschleicht als dass sie mit dem Holzhammer eingetrieben wird. Beim Staatsballett Berlin (SBB) sind die getanzten Pretiosen zu einem Signaturstück avanciert: In wechselnder Starbesetzung zeigt sich hier die Vielfalt der Möglichkeiten. Zuletzt brillierten in Berlin Aya Okumura und Cameron Hunter im ersten Teil, den grünen „Emeralds“ („Smaragde“), Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru im zweiten, den roten „Rubies“ („Rubine“) und Iana Salenko mit Marian Walter im dritten, den weißen „Diamonds“ („Diamanten“). Ein Fest für die Sinne! Zumal Robert Reimer als Dirigent unübertrefflich einfühlsam die Romantik und auch Präzision der Partituren auslotet. Beim Wiener Staatsballett warten indes mit Olga Esina als Diamond, Davide Dato als Rubie und Natascha Mair als Emerald sowie mit Liudmila Konovalova als Diamant, Denys Cherevychko als Rubin und Maria Yakovleva mit Eno Peci als Smaragd ebenfalls glamouröse Ballerinen und Ballerinos auf, unter dem Dirigat des weltweit versierten Ballettdirigenten Paul Connelly, der beim Berliner Publikum von „Onegin“, „Giselle“ und „Balanchine / Forsythe / Siegal“ her bestens bekannt und beliebt ist. Ob er in diesem Fall an den Reimer’schen Märchensound herankommt, kann ich allerdings nicht beschwören.
Wer den Vergleich wagen und einen Marathon mit „Jewels“ einlegen möchte, sollte das baldige Pendeln zwischen Wien und Berlin in Betracht ziehen – und sich, wie schon in jüngster Vergangenheit in Berlin, an den unterschiedlichen Interpretationen laben.
Auf einen vierten Teil – die Saphire („Saphires“ ) – muss allerdings international weiterhin gewartet werden, mit wachsender Spannung: Irgendwann wird eine Choreografin oder ein Choreograf den Mut haben, fünfzehn Minuten flippig-bunte Saphire in Dunkelblau, Sonnengelb und Orangerot im dänischen Ballettstil zu kreieren. Der „Rubies“-Part mit etwa 23 Minuten Länge ließe genügend Pufferzeit für ein weiteres, anschließendes Stück – da müsste man keine weitere Theaterpause einbauen.
Warum Balanchine (1904 – 1983) selbst 1967 nur drei der vier Großen unter den Schmuckedelsteinen als Inspiration nahm, wird sein Geheimnis bleiben. Es hat ihn leider auch nie jemand danach gefragt!
Der Reigen der unterschiedlichen Stimmungen, die in „Jewels“ detailliert vorgeführt wird, ist allerdings auch als Dreiteiler unbedingt so ergreifend wie aufbauend wie beglückend.
Als vordergründig auf dem sinnlichen Eindruck von Schmuckstücken basierendes Themenballett verlangt Balanchines Stück auch nicht unbedingt das Vorwissen, dass es hier nicht nur um die Juwelen, sondern auch um die traditionellen Stilrichtungen und Schulen des klassischen Balletts geht.
Es beginnt mit der französischen Schule, dem französischen Ballettstil, für den (in Balanchines Sichtweise) Eleganz und Melancholie prägend sind.
Wenn sich bei der Wiederholung des ersten musikalischen Leitmotivs der Vorhang öffnet, steht das Ensemble mit einem Paar in der Mitte bereits so fein aufgestellt da, dass sich diese Stimmung unzweifelhaft übermittelt: wie eine erste Zeile eines Gedichts, das dann im Folgenden weiter ausspinnt, was der Beginn vorgibt.
Aya Okumura tanzt – als in Berlin neue, aufstrebende Solistin mit Ausbildung auf der John Cranko Schule in Stuttgart – mit viel Delikatheit und dennoch Deutlichkeit die erste Hauptrolle an diesem Abend. Als lebendiger Smaragd, als eine Frau mit hoheitsvoller, aber auch tiefsinniger Haltung ist sie von glühender Eleganz, gestochen scharfer, zugleich aber von innen kommendem Intensität. Bravo!
Cameron Hunter– der diese Partie vor zwei Jahren auch schon mit Elisa Carrillo Cabrera tanzte – ist ihr ein wunderbar burschikos-leichtfüßiger Partner, der es nicht nötig hat, sich in den Vordergrund zu spielen, wenn es darum geht, der Dame mit Drehungen und Armreichungen, mit Hebungen und auch mit Blicken (!) Kraft und Ausdauer zu verleihen.
In seinen Soli zeigt er dann Sprungsicherheit und Schönheit – wie auch das zweite Paar, in dieser Besetzung von Weronika Frodyma und Arshak Ghalumyan zelebriert.
Exzellent, ganz weich und gediegen interpretieren sie dieses hinreißend „schwebende“ Paar, und auch sie zeigen – wie das erste Paar – in den Soli ihren individuellen Charakter bei der Interpretation.
Weronika Frodyma ist hier ganz die hingegebene Leidenschaft in Person, eine Prinzessin im Garten ihrer Gelüste! Und: Sie zeigt weitere neue Facetten ihrer auch in modernen Stücken bereits bestens bewiesenen Fähigkeiten, Bühnenparts mit Leben auszufüllen.
Sie ist ganz Dame, aber eben auch lustvoll schelmisch dabei – eine wundervolle Mischung aus künstlerischer Schönheit und natürlicher Freude im Tanz. Da wirken auch die schwierigen Spitzentanz-Passagen wie hingetupft, so leicht und famos.
Arshak Ghalumyan als ihr Bühnenpartnerwiederum grundiert seine edelmütigen Posen mit durchgängig anmutiger Spannung – mit fantastischen Drehungen und Sprungmanövern. Auch seine Bandbreite ist beachtenswert, denkt man nur an seinen zornig-mächtigen Premierminister in Patrice Barts „Schwanensee“… während er hier doch den sanften, lyrischen Träumer in sich zeigt.
Aber auch das Trio in den „Emeralds“ bringt ein eigenes Flair mit – und absolviert einen Triumph der guten Laune.
Ulian Topor als galant-schelmischer Kavalier mit der sehr geschmeidigen Danielle Muir und der mal wieder herzerfrischend entzückenden Iana Balova bilden ein munteres, der Heiterkeit verpflichtetes Team.
Aber was wären die Solisten im Ballett ohne ein Corps de ballet, das sie mit positiver Energie bestens zur Geltung bringt?
Zehn Damen, die alle in der einen oder anderen Hinsicht individuelles Potenzial haben, bilden hier die getanzten Reihen und Kreise, geschlängelten Pfeile und Pfade. Da blitzt und funkelt der Smaragd wie ein Aufmarsch von Juwelen im Ladenschaufenster oder in der Vitrine.
Der nächtliche Anblick eines New Yorker Schmuckgeschäfts brachte George Balanchine denn auch auf die Idee, die Juwelen zum Thema eines Ballettabends zu machen. Da hatte er Glück, dass die Einbruchsrate damals – eben 1967 – noch nicht so hoch war wie heute, da die meisten Juweliere ihre Hochkaräter abends aus dem Fenster nehmen, um sie nach Ladenschluss in den Tresor zu schließen.
Dass die für Ballett in den USA damals hingegen schon sehr wichtigen privaten Geldgeber auf das Thema Schmuck nur so fliegen würden, stand Balanchine von Beginn an sicher auch klar vor Augen. Er konnte mit dieser Themenwahl sowohl sein Interesse an einem Kunstwerk als auch die Eitelkeit der Gattinnen von Sponsoren befriedigen.
Es wäre im übrigen schwer, sich zwischen realen Juwelen und den getanzten zu entscheiden…
Für einen echten Ballettfan würde allerdings der Tanz immer noch mehr Karat auf die Waage bringen!
Bedeutsam für die Wirkung der „Jewels“ ist derweil die erhaben-sinnliche Tonlage, in der getanzt wird.
Die Musik von Gabriel Fauré für die „Emeralds“ entspricht dem vollauf.
Aber: Niemand – soweit ich es weiß – vermag der Interpretation von Faurés Klängen im Kontext dieses Balletts so gerecht zu werden wie Robert Reimer. Oftmals wird dieses Ballett zu flach, zu wenig romantisch schwelgend dirigiert, so etwa von dem sonst von mir sehr geschätzten Tugan Sokhiev.
Hier, für das Balanchine-Stück, zählt eine ganz bestimmte Stimmung, und für diese muss Fauré fast wie Tschaikowsky oder Mendelssohn klingen, ganz voluminös und weich – und dennoch nicht verkitscht.
Robert Reimer hat den Bogen raus. Er hat verstanden, worum es in „Emeralds“ geht, und er feiert die vornehme Melancholie – die nicht an Depression oder Traurigkeit angrenzt, sondern, im Gegenteil, an gelassene Heiterkeit und sogar Daseinsfreude – mit jedem Ton.
Reimer, der Meisterdirigent, intoniert das dadurch absolut hervorragende Orchester der Deutschen Oper Berlin zudem mit genau jenem Fingerspitzengefühl, das für Ballettmusik – im Sinne von: Musik, zu der Ballett getanzt wird – vonnöten ist.
Das dankbare Publikum feiert ihn denn auch als den Tanzstars ebenbürtig, was keine Selbstverständlichkeit ist.
Lieblich klingt die Oboe, aufstrebend sind die Streicher – aber stets bildet das Orchester ein organisches Ganzes, niemals sticht eine Melodie zu sehr ins Ohr. Diese Verbundenheit der einzelnen Orchestergruppen (und zwar ohne ins „Schwimmen“ zu kommen) beherrscht Robert Reimer in der Tat wie wohl kein Zweiter.
Da geht kein Ton unter, dennoch ist die rhythmisch unterstrichene Führung der Melodie stets klar. Das geht natürlich unter die Haut…
Für Ballett ist diese Art des Dirigierens optimal.
Am Ende knien die drei Kavaliere, diagonal und alle drei mit dem Gesicht oberhalb des Publikums, mit einer Geste der Armpositionen, die sowohl ein freudiges „voilà!“ als auch eine romantische Sehnsucht nach mehr impliziert. Ein geniales Ende!
Und dabei geht es jetzt erstmal in die Pause, um danach mit den hitzig-witzig-spritzigen „Rubies“ einen weiteren Höhepunkt der Tanzkunst zu erleben. Mit einem Paukenaufschlag intoniert das Orchester mächtig viel Wirbel, dann herrscht kurz Stille – und weiter geht’s.
Wieder öffnet sich der Vorhang bei der Wiederholung des ersten Motivs, der ersten Takte. Es ist Igor Stravinsky, dessen Musik hier auch dem Klavier seinen akustischen Auftritt besorgt (akkurat und expressiv: Alina Pronina). Sein „Capriccio für Klavier und Orchester“ transportiert in Balanchines Umsetzung den Esprit des italienischen Balletts, mit Schnelligkeit und Sprungmächtigkeit.
In Frankreich und Italien entstand das klassische Ballett ja, vor knapp 400 Jahren – seine vornehmliche Blüte erreichte es indes dann in Russland.
Und da stehen sie, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur: Die „italienischen“ Rubine, wie Balanchine sie sich erdachte. Hand in Hand, immer ein Herr und eine Dame abwechselnd, verkünden sie mit fröhlichen Gesichtern, dass jetzt allerhand Schalk auf uns wartet. Die Mädchen stehen reglos schön in Balancen auf den Zehenspitzen, die Jungs ebenso wackelfrei auf halber Spitze. Yes!
Die Damen in kurzen Röcken, an Funkenmariechen erinnernd, und die Jungs mit Uniformtressen auf der Brust bilden ein glitzerndes Konvolut aus Rot und Rot und Weiß und nochmals Rot. Was für ein gleißendes Rot! Balanchine meinte die hell- und tiefroten Rubine, nicht die blaustichigen, die für eher tragische Grundierung gesorgt hätten. Nein, hier gibt es keine tragischen Ereignisse, hier ist alles überdrehter Witz und kecke, hoheitsvolle Überlegenheit.
Fast satirisch muten etliche der Positionen an – und das formuliert sich rasant mit dem Hauptpaar, in dieser Besetzung von Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru getanzt.
Aber hallo, und wie! Yolanda Correa– die erst seit kurzem dieses Stück tanzt – entpuppt sich einmal mehr als PIrouettenwunder, und wenn ihr versierter Tanzpartner Dinu Tamazlacaru sie furios in den Händen „quirlt“, um sie dann allein vollenden zu lassen, dann ist das der höchste Respekt, den sich Mann und Frau gegenseitig zollen können.
Dabei spielen sie miteinander wie Kinder – aber auf welch künstlerisch-technisch hohem Niveau!
Yolandas Spaß an der Sache sorgt dafür, dass sie nie wie eine Akrobatin wirkt, die sich ins Ballett verirrt hat. Das ist hier tatsächlich eine Gefahr, die das Staatsballett Berlin aber durch hervorragende Besetzungen klug zu umschiffen weiß.
Dinu Tamazlacaru, der die Partie bereits gut kennt und sie früher mit Iana Salenko dargeboten hat, ist denn auch sowohl in den Duett- als auch in den Solo-Passagen technisch virtuos und im Ausdruck von vielschichtigem Witz.
Oft hält er seine Dame im Ausfallschritt, im perfekt justierten Winkel. Ach, so ein Wundertänzer! Jede Sekunde hat bei ihm Sinn und Herz und Delikatheit!
Und wenn Yolanda dann ein Penché vollzieht, dann ist das, als würden sich die beiden darüber unterhalten, wie schön doch gerade mal wieder die Sonne scheint, während alles andere völlig absurd ist.
Dinus Chainés sind dann von erlesener Geradheit bei fulminantem Tempo – ach, die möchte man gleich nochmal sehen…
Überhaupt könnte man – wie in der Oper gelegentlich üblich – doch auch im Ballett die gute alte Sitte wieder einführen, einzelne Teilstücke („Arien“) zu wiederholen, wenn das Publikum dabei vor Begeisterung rast.
Natürlich ist das dann zeitliche und energetische Mehrarbeit für die Künstler, und zwar auch für die Musiker. Aber für die Zuschauer ist es ein Geschenk, das sie ebenso gerne annehmen wie das Publikum in Konzerten die Zugaben begrüßt.
Das Exaltierte und doch scheinbar Spontane, das die choreografischen Partien hier ausmacht, wäre für ein solches Intermezzo jedenfalls wie gemacht – und Correa und Tamazlacaru wären die richtigen Künstler, die durch ihre Ausgewogenheit von technischer Spitzenleistung und inhaltlicher Gestaltung auch bei der Wiederholung nicht enttäuschen würden.
Wie fabelhaft leicht sind ihrer beiden Sprünge, wie aufmunternd ihre Paartanzdrehungen!
Und auch das Miteinander der beiden ist eben nicht aufgesetzt und unpersönlich, sondern sprühend vor Kommunikation mit jedem Atemzug. Das ist Ballettkunst vom Feinsten!
Das Publikum applaudiert denn auch großzügig mit häufigem, begeistertem Szenenapplaus…
Dagegen hat es Sarah Brodbeck in der dritten Solopartie hier nicht eben einfach. Ihr Debüt meisterte die langbeinige, groß gewachsene Schweizerin vor allem mit bravouröser Armarbeit – an ihrer Sicherheit in Sachen Pirouetten muss sie allerdings noch arbeiten.
Der Spaß, den sie verströmt, macht da Einiges wett.
Und wenn die Jungs, angeführt von Tamazlacaru, wie Jogger laufen und dazu springen, wieder laufen und springen, dann ist auch das einen Extra-Applaus wert!
Da wirken die „Chicken“-Piqué-Pirouetten von Correa gleich nochmal so brillant-lustig!
Synchron werfen rasch alle nochmal die Beine hoch und schon geht es in die Schlussposen. Ach, da kocht und johlt das Publikum wie bei einer Premiere!
Nach der zweiten Pause kommt dann das große Finale mit der russischen Klassik, die tanzenden Schätze steigern sich hier stetig vom ersten bis zum letzten Takt.
Wieder gibt es gleich zu Anfang erst mal verdienten Szenenapplaus, für das Corps, das noch vor Beginn der Musik – in einem abgeflachten Halbkreis erwartungsfroh aufgestellt – eindrucksvoll sichtbar wird und nach dem Applaus gleich beim ersten Taktschlag der schwelgenden Walzerklänge von Peter I. Tschaikowsky loslegen darf.
Die in weißen Tutus fabelhaft sich geometrische Muster verwebende Schar erinnert an die Schneeflocken aus dem „Nussknacker“, an das Ballett der weißen Schatten aus der „Bayadère“ und natürlich an die Schwäne aus dem „Schwanensee“.
Und doch haben sie hier einen ganz eigenen Geschmack, denn sie illustrieren kein Handlungsballett, keine Natur- oder Traumszenerie, sondern stehen für den utopisch schillernden Glanz von geschliffenen Diamanten.
Insbesondere Marina Kanno und Iana Balova, die auch ein hervorragend kontrastierendes, dennoch sich brillant ergänzendes Duo abgeben, aber auch die schon einmal an dieser Stelle lobend hervorgehobenen Nachwuchstalente Alicia Ruben und Tabathea Rumeur bezaubern mit ihren Kolleginnen in diesen mal folkloristisch angehauchten, mal festlich geprägten Tanzfiguren.
Und dann zeigen sich Iana Salenko und ihr „Ballettgatte“ (der auch der Vater ihrer Kinder ist) Marian Walter: als ein Paar von hochkarätigem Schmelz und mit allen Würden, die ein Tanzpaar haben sollte.
Hier stellen sie die kühl erhabene Erotik der Diamanten dar, die niemals zu sehr ins Menschelnde reicht, sondern sich immer einen Rest Autorität bewahrt.
Interessanterweise tanzen Salenko und Walter hier mit ganz anderem Impetus als etwa die in diesem Part brillierende Polina Semionova mit Alejandro Virelles (die die Erstbesetzung beim SBB in dieser Saison bilden).
Weich und fließend, geschmeidig und sanft interpretiert Iana Salenko den weiblichen Part, und ihre hoch entwickelte Technik kommt ihr dabei ebenso zu Gute wie ihr mitreißendes Lächeln. Viel Herzlichkeit geht von dieser exzellent proportionierten zierlichen Primaballerina aus!
Marian Walter antwortet darauf mit Stärke wie mit Leichtigkeit – beides sind nicht nur feminine, sondern auch urmännliche Tugenden im Ballett.
Vor allem aber lohnt sich der Vergleich der beiden Starballerinen Semionova und Salenko. Wo Semionova glasklar durch Schnelligkeit besticht und dafür die Posen exzellent hält und dadurch betont, tanzt Salenko einen durchgehenden Bewegungsfluss, ohne für fotografische Momente anzuhalten. Im „Schwanensee“ geht so etwas meiner Meinung nach nicht – da macht Salenko es auch nicht – aber hier, in den posenreichen Walzern von Balanchines „Diamonds“, ist das eine interessante neue Sicht auf die Dinge.
Das Zitat aus „Raymonda“ mit der Hand am Hinterkopf und dem Tendu rückwärts mag dadurch an Schnittigkeit verlieren, aber dafür bringt Salenko viel neue Süße in diesen Tanz.
Hier merkt man, dass sie auch in London beim Royal Ballet als Primaballerina eine Menge Arbeitserfahrung gesammelt hat und sich vom betont lieblichen englischen Stil inspirieren ließ.
Ihre Beinarbeit bleibt dennoch strikt der russischen Klassik verpflichtet, wie es sich für die „Diamonds“ gehört. Fulminant sind ihre technischen Highlights, ihre sanften Spagatsprünge, ihre vielfachen Pirouetten, ihre exorbitanten Développés, die geradlinigen Penchés, akkuraten Attitüden und Arabesken.
Ihr Gatte begeistert mit Tours en l’air und hohen Sprüngen – und natürlich mit seiner Spezialität, besonders fein gerade gehaltenen und akkurat gleichmäßig getourten à la secondes. Als Partner hat er sie lässig fest im Griff… hebt sie sichtlich gerne, hält sie mit viel gegenseitigem Vertrauen. Ach ja, Mann und Frau können so viel – einzeln und als Paar!
Auch die Polonaise des Corps de ballet weist nochmals darauf hin…
Schließlich tanzen alle zugleich, ergehen sich in einer Schlussapotheose wie ein gewachsener Organismus.
Glück überall – und für das Publikum ein gefühlter Vorgeschmack auf den „Nussknacker“ und die Weihnachtszeit, die im Ballett selbstverständlich jetzt im November beginnt.
Darum freut sich auch das Wiener Staatsballett besonders, ab morgen ebenfalls mit den „Jewels“ erfreuen zu dürfen.
Online gibt es – als Nachlass vom letzten World Ballet Day am 23. Oktober 2019– auf youtube Auszüge einer Probe mit Natascha Mair zu den „Emeralds“ zu sehen, mit dem kongenialen Coach Ben Huys vom Balanchine Trust, der auch in Berlin die Tänzerinnern und Tänzer zu Bestleistungen zu bewegen vermochte.
Wer das Juwelenglück demnächst doppelt und dreifach genießen möchte, sollte unbedingt die kommende Aufführung am 9. November in der Deutschen Oper Berlin sowie ab dem 2. November (Premiere) eine Vorstellung in der Wiener Staatsoper besuchen.
Olga Esina steht dabei in Wien – vom tänzerischen Profil her in etwa ähnlich wie Iana Salenko– für die lyrische Grandezza der Diamanten, Liudmila Konovalova hingegen für die dramatische.
Mit Denys Cherevychko als Rubin kann man vermutlich gar nichts falsch machen, und auf Natascha Mair als Smaragd freut sich womöglich die ganze Ballettgemeinde Wiens.
In Berlin gibt es nach dem 9. November 2019 erst im Sommer 2020 wieder Gelegenheit, die tanzenden Schmuckstücke erneut aufpoliert zu sehen… man ahnt, dass deren Geglitzer und Gefunkel auch das stärkste Sonnenlicht vertragen. Schließlich handelt es sich nicht um Tand, sondern um echte Juwelen!
Gisela Sonnenburg
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