Im Sauseschritt geht es ins Paradies: „Die göttliche Komödie III: Paradiso“ von Xin Peng Wang mit dem Ballett Dortmund kommt mit 55 Minuten als Online-Uraufführung komprimiert und fast ein wenig eilig auf uns zu. Die Liebe ist hierin Trumpf: Sei es die göttliche oder die menschliche, die platonische oder die sinnliche – die Liebe ist das Ziel und die Quelle allen Glücks in eins, das lehrt uns das Paradies. Gestern abend erlebte diese neueste Schöpfung von Wang online ihre Uraufführung. Zunächst mal ist festzustellen, dass der Mut und die Tatkraft, so etwas in diesen Zeiten überhaupt zu machen, sehr gelobt gehören. Für jeden Ballettdirektor ist die jetzige Situation mit der unbefristeten Warterei auf die Öffnung der Theater eine nervenkraftzehrende Belastung. Zu sagen: Wir machen trotzdem ein großes neues Stück, wir stellen es als Stream ins Internet, ist da einfach famos. Zwölf TänzerInnen haben nun den dritten Teil von Wangs Trilogie nach Dantes poetischer Erzählung aus dem frühen 14. Jahrhundert uraufgeführt – mit charmanter Leichtigkeit, präzise einstudierter passionierter Choreografie und großartig-geschmeidigem Impetus.
„Commedia“ („Komödie“) – so einfach und hoffnungstiftend benannte Dante Alighieri zunächst sein Werk, im Hinblick auf das beglückende Ende. Als „La divina commedia“, also als „Die göttliche Komödie“, gingen die rund 14.000 Verse dann als eines der bedeutendsten Weltwerke in die Literaturgeschichte ein.
Die beiden ersten Teile – „Inferno“ („Hölle“) und „Purgatorio“ („Fegefeuer“) – wurden vor der Corona-Krise von Wang bereits als Ballette inszeniert und mit atemberaubend schönen Szenen und entsprechend großem Erfolg in Dortmund uraufgeführt.
Gegen sie nimmt sich das jetzt hinzugekommene „Paradiso“ („Paradies“) etwas schlicht aus. Aber es hat Stil und Konzept: Pur und fast monochrom wirkt auch das Licht von Carlo Cerri, eine changierende Mischung aus Blautönen, von Nachtblau bis Violett.
Der riesige Stahltrichter von Bühnenbildner Frank Fellmann, der eigentlich in allen drei Stücken eine zentrale Rolle im Bühnenbild hätte spielen können, wird hier allerdings vermisst. Schade, denn als eine äußerst ungewöhnliche Himmelsleiter hätte er den Aufstieg oder auch Abstieg ins Paradies sinnenhaft fasslich machen können.
Den mühsamen Anweg erspart uns Wang aber sowieso ganz. Nach zwei Teilen mit Alpdruck eröffnet sich jetzt ad hoc eine himmlisch-entspannte, traumhaft-sinnliche Atmosphäre.
Eine Erinnerung an die höllischen Durchquerungen des Jenseits zuvor findet nicht statt. Sicher spielt hier auch eine Rolle, dass im kommenden Jahr die drei Teile zu einem Abendevent zusammengesetzt werden sollen.
Lediglich nachdenkliche Momente gibt es – als würde die Vergangenheit ganz flüchtig auftauchen.
Dennoch fragt man sich aus philosophischen Gründen: Ist das Paradies gedächtnislos? In der christlichen Mythologie ist es geprägt von der Versöhnung der Gegensätze, auch der Feinde.
Im Paradies von Wang gibt es jedoch keine Feinde und auch keine wirklichen Gegensätze. Alles ist ein einziges Wohlgefallen, von Beginn an. Man will sich erholen und das auch dem Publikum gönnen, nach all den Dissonanzen und stürmischen Bewegungen in den ersten beiden Teilen.
Über dem harmonischen Miteinander des Paradieses befindet sich nun eine aus Botticellis Zeichnungen abgeleitete Doppelelipse – mit Scheinwerfern wie ein riesenhafter Lichtkranz.
Allerdings drehte das Licht hier nie voll auf, und dass die Sterne im Paradies nicht, wie erwartet, auch mal gleißend hell strahlten, ist unerwartet.
Das Paradies hier ist überraschend düster: ein dunkler, aber ruhiger Ort, um zu entspannen und auf die ewige Seligkeit zu warten.
Eine Heerschar Engel tanzt gediegen, erst eine Gruppe Frauen, dann eine Gruppe Männer, dann paarweise – und Javier Cacheiro Alemán als Dante, der durch die höllischen Feuerwände ins christliche Elysium hinangestiegen ist, tanzt allen voran.
Und weil wir im Paradies sind, gelingt es ihm, die Vision seiner Jugendliebe Beatrice, elegant und erotisch getanzt von Daria Suzi, zu beschwören. Zunächst erscheint sie wirklich als sein Traumbild, zart und expressiv – letztlich aber wohl doch leibhaftig, soweit man als himmlische Gestalt leibhaftig sein kann.
Die Pas de deux der beiden, aber auch die anderer Paare, sind die Highlights im Paradies.
Viele elegante Attitude-Drehungen absolviert die Dame da unter den Händen ihres Partners, und die Hebungen – auch Wurfhebungen – haben oft die Anmutung spiraliger Strukturen.
Zum Stahltrichter mit seiner Laufspirale im Innern hätte das nur zu gut gepasst.
Aber auch ohne Entsprechung im Bühnenbild übermittelt sich der Inhalt: Die Liebe ist ewig im Paradies, und das Auf und Ab der Partner im Raum entspricht keinem Kampf, sondern der für immer versöhnenden göttlichen Kraft.
Die Kostüme von Bernd Skodzig unterstreichen die unschuldig gewordene Lebenskraft in ihrer sanften Heiligkeit. Weiß- und Cremetöne bilden die Hosen, Kleider und Hemden.
Und wenn gen Ende ein Gespinst, das in den Regenbogenfarben changiert, die flatternden Flügel der Engel andeutet, dann ist das Höchstmaß der Ästhetik hier erreicht.
Mysteriös mutet hingegen das Motiv der blauen Augeniris an.
Mal wird es auf den Boden projiziert, wo die Tänzer sich dann scheinbar auf lichternem Grund bewegen.
Mal prangt das göttliche Auge als Backgroundillustration am Bühnenhorizont.
Für Dante, die Hauptfigur, ist es gewiss ein Auge der Beatrice, das uns hier förmlich verfolgt respektive die Allheiligkeit der Welt und die Allwissenheit der Liebe zugleich gelassen vorführt.
Die Allwissenheit der Liebe: Sie steht hier wie ein unausgesprochenes Credo hinter allem.
Die Liebe hilft, weil sie weiß, sie kann retten, weil sie weiß, und sie bewahrt das Glück, weil sie es immer wieder zu nähren und neu zu speisen weiß.
„Tanz pur“ hatte Wang versprochen.
Tanz pur – das ist bei Wang die Liebe pur.
Aber ist das glaubhaft?
„In ‚Paradiso‘ geht es mir darum, das Unglaubliche zu glauben und das Unmögliche zu tun.“
Das hatte Xin Peng Wang im Doku-Film im März 21 gesagt, und er nimmt diesen Vorsatz selbst auch wörtlich.
Und so schweben und tänzeln und heben und wirbeln die himmlischen Heerscharen hier über die Bühne, als sei das Firmament der Tanzkunst unendlich.
Auch ein Pas de trois ist dabei und vollzieht eine utopische Lebendigkeit vollkommener Harmonie, ebenso wie die Gruppen- und die Paarszenen.
Die Lichtellipsen neigen sich schließlich in die Schräge, berühren fast den Tanzboden – und lassen somit nach hinten genügend Platz, um dort ein Paradies im Paradies aufblitzen zu lassen.
Dante und Beatrice finden sich hier erneut, und ihr entrückter Liebestanz mündet in eine exzellente Hebung. Vorhang! Das war ein Blick auf die Ewigkeit.
Die Tänzerinnen Manuela Souza, Sae Tamura (ganz besonders), Amanda Vieira, Guiditta Vitiello, Sayaka Wakita, Yingyue Wang sowie die Tänzer Simone Dalè (der derzeit als Gast in Dortmund tanzt, aber hallo!), Filip Kvacák, Francesco Nigro und – gemeinsam mit Daria Suzi und Javier Cacheiro Alemán starmäßig voran – Guillem Rojo i Gallego berücken mit ihrem Einsatz.
Mit ihrer Liebe zur Fußstreckung ebenso wie mit ihrer Liebe zur allumfassenden Weltenenergie, ohne die sie dieses Stück niemals hätten tanzen können.
Es ist tänzerisch eine Augenweide, ein wahres Vergnügen – und die Linien, die sich aus dem Cambré und der weiteren Körperarbeit ergeben, lohnen bereits mehrfaches Ansehen.
Soweit, so schön.
Aber leider gibt es zwei Schwachpunkte dieser Inszenierung.
Der erste ist die Musik. Das zweiköpfige Künstlerkollektiv 48° Nord, bestehend aus Ulrich Müller und Siegfried Rössert, schuf eine zwar eingängige, aber keineswegs schlüssige Klangcollage. Hier fehlt eindeutig ein innerer Ablauf, eine Sinnhaftigkeit einzelner Szenen.
Einfach nur laute und leise Klänge einander abwechseln zu lassen, ist noch keine eigenständige Komposition. Auch nicht als Ballettmusik. Sondern eben nur eine Collage verschiedener Klänge.
Atmen und Geröchel, vom Syntheziser mit Hall versehen, hilft hier auch nicht weiter.
Streicher, Akkordeon, Piano, teilweise mächtige Bläser sind eingearbeitet – aber alles verwischt gleich wieder und hat – und das ist das eigentlich Entsetzliche – nullkommanull inhaltliche Relevanz.
Wenn es mal dunkel grollt, fragt man sich, ob ein Gewitter im Himmel im Anzug ist. Aber sogleich plätschern schon wieder muntere, jazzig abgefederte Klangflächen herbei.
Es ist schon ein bisschen schade, dass ein Libretto für dieses Himmelsstück fehlt. Wenn dann aber auch die Musik keinerlei schlüssige Inhalte übermittelt, bleibt es beim – leider sinnentleerten – akustischen Gewaber. Da gibt es keine Entwicklung, keinen hörbaren Anfang, keine Mittelstücke und nicht mal einen spektakulären Schluss.
Szenisch ist der aber allemal spektakulär: Vom tanzenden Ensemble entrückt, schweben Dante und seine geliebte Beatrice oberhalb des Bühnengrunds weit oben am Horizont und vereinen sich zu einer himmlisch-eleganten, dennoch sehr modernen Hebefigur.
Allerdings lässt die Musik keine Zeit, das auszukosten.
Kaum steht die Figur in einer hellen Lichtflut – ist auch schon Schluss.
Der zweite Schwachpunkt ist die sicher nicht ganz billige Firma Siegersbusch Film, die für die Aufzeichnung verantwortlich zeichnet.
Hätte man doch aufs theatereigene Personal gesetzt und einfach eine gute Aufzeichnung mit Theater-Knowhow von der Aufführung vorgenommen!
So wie etwa für die unvergesslich guten Streams von „Der Traum der roten Kammer“ und „Tschaikowsky / Rachmaninow“, die beide vom Ballett Dortmund kamen.
Aber nein, es musste etwas Besonderes sein – und so begab sich das Ballett Dortmund nach der verpatzten Rademaker-Premiere erneut in die Hände von kommerziell geschultem, künstlerisch aber leider inkompetenten Werbeleuten.
Werbung hat bekanntlich nur ein Ziel: zu verkaufen. Mit Kunst hat Werbung – auch, wenn das die Ungebildeten im Land nicht wissen – schon vom Grundsatz her nichts zu tun.
Und mit Ballett hat Werbung auch nur in den seltensten Fällen etwas zu tun.
Entsprechend darf sich die Kameraführung hier ausleben wie auf einem Seniorenworkshop der Selbsterfahrung. Motto: Sei dein eigener Regisseur!
Also wird die Kamera gern mal schief gehalten, geht zu nah ran oder ist zu weit weg.
Mit der ballettösen Entwicklung auf der Bühne hat sie eigentlich nie etwas zu tun.
Füße werden gnadenlos abgeschnitten, Hände wirken im Vordergrund viel zu groß.
Manchmal verzerrt gar das Fisheye die Figuren der armen Tänzerinnen – als künstlerische Aussage ist so etwas total untauglich. Wang will sicher nicht mitteilen, Engel hätten verzerrte Kurven in ihren Figuren zu bieten.
Mir ist nicht ganz klar, warum die Leitung vom Ballett Dortmund so etwas mitmacht und auch noch bezahlt.
Außer Xin Peng Wang gibt es hier auch den Dramaturgen Christian Baier, beide hätten protestieren können, und zudem müsste der Intendant Tobias Ehinger, der früher Dortmunds Ballettmanager war, auch noch eine Rest künstlerisches Fingerspitzengefühl und entsprechend etwas Verantwortungsgefühl haben.
Was ist da nur los?
Das Bühnenlicht war zudem eher einfallslos und meist zu dunkel, sodass harte Schatten die Ausdeutung des tänzerischen Ausdrucks trübten.
Fiel das niemandem auf? Halten das alle nun für moderne Kunst?
Es sollte sich doch schon herumgesprochen haben:
Kommerz und Kunst sind keine Freunde, schon gar nicht, wenn nicht die Kunst, sondern der Kommerz das letzte Wort hat. Kommerz hat einen anderen Blick auf die Welt, auf das Geschehen, auch aufs künstlerische Geschehen. Der Unterschied ist gravierend!
Abgeschnittene Füße, die Proportionen verändernde – mit Verlaub: stümperhaft gefilmte – Nahaufnahmen, Schnitte ohne Bezug zum Bühnengeschehen und viel zu lange Totalen, in denen die Tänzer wie winzige Punkte im Nichts wirken – all so etwas geht, wenn man einen Werbeclip über ein Ballett dreht, aber es geht nicht, wenn man das Ballett selbst verfilmt.
Was für einen Trailer oder für ein Werbeplakat geht, geht für eine ganze Aufführung bzw. ihre Aufzeichnung noch lange nicht. Das ist doch eigentlich auch ganz logisch.
Werbung kann niemals ein Kunstwerk ersetzen oder ohne schwere Verluste dominieren.
Wieso weiß man das beim Ballett Dortmund nicht?
Der Kommerz versteht die Kunst nicht. Die Absichten, die Motivationen, das Knowhow sind zu verschieden.
Wieviele Beweise muss es dafür noch geben, also wie viele missratene Ballettaufnahmen durch Werbefilmer? Ich habe dergleichen übrigens nie bei einer Oper gesehen. Ist dort der Respekt vor dem Kunstwerk größer?
Man lerne beim Ballett Dortmund und mache es beim nächsten Mal besser.
Denn wenn man ganz normal gekonnt die schönen Tanzwerke zu Streams abfilmt und übers Internet in die Welt trägt, dann sind einem die Erfolge bei einer guten Inszenierung nachgerade sicher.
Auch das weiß die Liebe – und zwar die zur Kunst, nicht zum banalen Kommerz.
Gisela Sonnenburg
www.theaterdo.de – Bis heute kurz vor Mitternacht steht „Die göttliche Komödie III: Paradiso“ hier noch online, und zwar dankenswerterweise kostenfrei!
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