Rettung naht! Wer in ballettöser Hinsicht endlich mal wieder weg vom Computer oder Handy und hin zum edelgroßen Bildschirm des Fernsehers gelangen möchte, sollte Arte auf Knien danken. Denn am kommenden Sonntag – dem 14. Juni 2020 – werden sich auf dem deutsch-französischen Kultur-TV nicht weniger als fünf Sendungen dem Tanz und dem Ballett hingeben. Das Spektakel, das Essen und Trinken ebenso erlaubt wie Rauchen oder das Abbrennen von Räucherstäbchen, beginnt am Nachmittag – zur besten Teatime – mit einem sehr sehenswerten Portrait des russisch-französischen Urvaters des Balletts, wie wir es lieben: „Marius Petipa – Der Meister des klassischen Balletts“ von Denis Sneguirev zeigt ab 16.15 Uhr den Lebensweg zum Lebenswerk des illustren Tänzers und Choreografen aus der Zarenzeit, der uns bis heute regelmäßig erfreut und begeistert. Pierre Lacotte, Laurent Hilaire und Alexei Ratmansky kommen hierin zu Wort, Tyler Peck tanzt für uns, und aufgemotztes historisches Film- und Fotomaterial lässt die gute alte Zeit des großen Genies Petipa lebendig werden. Zudem zeigen Aufnahmen Proben und Vorstellungen von „Dornröschen“ in der Choreografie von Nacho Duato mit dem Staatsballett Berlin: Polina Semionova und Marian Walter arbeiten mit Duato, und derselbe erklärt in einem Interview sehr agil, was an den Bewegungen wichtig ist.
Danach ist Zeit für ein eigenes Training, für einen Verdauungsspaziergang oder eine andere angenehme sonntägliche Tätigkeit, um dann wahlweise erholt oder angemessen erschöpft das Abendprogramm zu genießen.
Arte beginnt es zur Primetime um 20.15 Uhr mit dem bei allen Generationen beliebten Jugendfilm „Billy Elliot – I will dance“. Der kindliche Jamie Bell begeistert hier in der Titelrolle als Sohn eines Bergarbeiters in England in den 80er Jahren. Statt Boxen interessiert ihn Ballett – und weil er begabt ist, fördert seine Lehrerin ihn und bringt den zunächst recht verständnislosen Kindsvater dazu, Billy in London für die ehrenwerte Profi-Ausbildung vortanzen zu lassen. Nein, nicht bei der Royal Academy of Dance, sondern bei der staatlichen Royal Ballet School, deren Treppenhaus bereits die herrschaftliche Anmutung eines Gerichtsgebäudes hat.
Nach einigen Kämpfen siegt hier das Gute – auch, was die Situation der Bergarbeiter angeht, die wegen der drohenden Schließung ihrer Arbeitsstätte einen Streik beginnen. Vielfache Preise und auch eine vollauf berechtigte Lobeshymne im Ballett-Journal (bitte hier klicken) machen den Film aus dem Jahr der Milleniumswende 2000, der eine französisch-britische Koproduktion ist, immer wieder glaubwürdig. Auch beim zehnten Ansehen!
Es folgt Punkt 22 Uhr etwas Untänzerisches auf Arte, damit sich alle, die eine Pause brauchen, von Billys Glück erholen können. Aber ganz unballettös ist es eigentlich nicht, was das Schauspielerinnenportrait „Julie Andrews – Unvergessene Mary Poppins“ zu sagen und zu zeigen hat. Und: Hier geht es mal um eine Frau und nicht immer nur um das Wohl der männlichen Tanzenden. Julie Andrews war 13 Jahre jung, als sie 1948 in London erstmals vor King George VI auftrat. Mit „Victor / Victoria“ wurde sie eine androgyne Queer-Ikone, und auch Alfred Hitchcock griff auf ihren niedlich-hintergründigen Charme zurück. Politisch setzte sie sich für die Frauenrechte in der Dritten Welt ein. Vor allem aber wurde sie als „Mary Poppins“ in dem legendären Musikfilm weltberühmt. Na, wer tanzte denn da mit dem Regenschirm durch die Lüfte auf und davon? – Eben. Das konnte nur sie sein!
Gleich im Anschluss, um 22.55 Uhr, zeigt das Magazin „Move! Verhüllung und Enthüllung“ Einblicke in zeitgenössische und experimentelle tänzerische Arbeiten. Es muss ja nicht immer klassisches Ballett sein! Diese Dokumentation beleuchtet ein Projekt von Helena Waldmann, die iranische Tänzerinnen sozusagen islamkonform in Zeltgewändern beim Berliner Reichstag auftanzen ließ. Es ist schon traurig genug, dass eine Weltreligion das freie Tanzen mit selbstverständlich nur spärlich verhülltem Körper in einigen Ländern untersagt. Was Waldmann daraus macht, nun ja, vermag zwar nicht wirklich zu bewegen, aber es macht immerhin auf eine Problematik aufmerksam, die Frauen betrifft (und nicht Männer).
Als Kontrast zeigt die Doku dann die exaltiert-erotischen Bewegungsformen einer Burlesque-Tänzerin: Das Laszive und seine Vermarktung gehen hier eine fröhliche Gemeinschaft ein. Wer’s mag…
Das Durchhalten lohnt sich (wie so oft bei Arte). Um 23.30 Uhr folgt mit „Maurice Béjart, ein Leben für den Tanz“ eine fulminante Portraiterzählung den Spuren des großen Außenseiters der Ballettmoderne. Anders, als es der etwas beliebige Titel der Doku vermuten lässt, werden hier tatsächlich die wesentlichen Facetten des französischen Choreografen, der in Belgien und der Schweiz tänzerische Domizile von Weltbedeutung errichtete, hervorragend erklärt und ausgeleuchtet. Gleich zwei Filmemacher warfen ihr Können in die Waagschale, um das zu erreichen: Henri de Gerlache und Jean de Garrigues, denen hiermit herzlichen Dank gesagt sei. Eine ausführliche Besprechung der berechtigten Hommage gibt es hier auf Klick.
Für Ballettfans ist es jetzt aber noch immer nicht an der Zeit, um schlafen zu gehen. Denn im Anschluss an die filmische Liebeserklärung an Béjart steigt nach Mitternacht, also in der Geisterstunde, um 0.30 Uhr endlich die an so einem Tag allfällige Orgie des russisch-klassischen Balletts: mit „Raymonda“ nach Marius Petipa aus dem Mariinski-Theater in Sankt Petersburg. Der Titel-Zusatz der Aufzeichnung („Ballets Russes im Mariinsky-Theater“) weist schon darauf hin: Technische Perfektion in Vollendung sowie hochedle Attitüden verspricht die Aufzeichnung von 2018 – als Betthupferl allemal ein superber Leckerbissen.
Dafür spricht auch die Besetzung: mit der allseits bewunderten Primaballerina Viktoria Tereshkina in der Hauptrolle und dem gloriosen männlichen Spezialfall Xander Parish als ihrem Jean de Brienne! Die Schöpfer Marius Petipa und Alexander Glazunov (von dem die Musik zu Petipas bedeutendem Spätwerk stammt) wären vermutlich ebenfalls begeistert – und würden in jedem Fall die Nacht mit diesem Superpaar verbringen.
Zumal Valery Gergiev – der die maximale Auslotung von Höhen und Tiefen beherrscht – höchstselbst den Taktstock schwingt.
Großer Dank geht also an Arte für diesen auch inhaltlich prall gefüllten „Thementag: Tanzträume!“ – kann man heutzutage denn mehr verlangen?!
Ballett als Gesamtkunstwerk via Fernsehen. Was für eine berauschende Botschaft – aus einer Welt ohne Corona, wie wir sie uns auch für die Zukunft erhoffen!
Gisela Sonnenburg
Die meisten der oben besprochenen Sendungen sind bis zum 13. bzw. 14. Juli 2020 online in der Arte-Mediathek zu sehen!