Freiheit und Freibeuterei „Le Corsaire“ von Manuel Legris mit dem Wiener Staatsballett: live in der Wiener Staatsoper und als DVD aufgezeichnet auf 3sat

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Mihail Sosnovschi als Lanquedem in „Le Corsaire“ – eine Erbauung beim Wiener Staatsballett in der aktuellen Besetzung von 2019. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Freiheit! Abenteuerlust und romantische Freiheitsgelüste prägen das Ballett „Le Corsaire“, das immer mal wieder für Aufsehen erregende Inszenierungen sorgt. Eine davon stammt nun von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett, sie premierte im März 2016– und auch, wenn das erneuerte Libretto, das Legris schuf, im Vergleich zu anderen Fassungen weit zurückfällt, so begeistern die anmutige Sprungfertigkeit und orgiastische Pirouetterie der Damen und Herren vom Wiener Staatsballett. Allen voran in der Live-Aufführung: Mihail Sosnovschi, der den Sklavenhändler Lanquedem mit soviel Pfeffer einerseits und Präzision andererseits tanzt, dass sich schon allein wegen ihm die Vorstellung lohnt. Danke, Mihail, für diese Bravour und Virtuosität bei soviel ausdrucksstarker Charakterzeichnung! Aber auch die Vielzahl der Damen, die in etlichen Pas de deux, Soli und Gruppentänzchen in bester Petipa-Manier aufwarten, reißt in ihren Bann: mit ziseliert wirkender Schönheit der Bewegungen, mit geschmeidig-graziöser Form und elegantem Ausdruck. Dennoch gilt es festzustellen: Manuel Legris ist ein fantastischer Statthalter der Tradition von Rudolf Nurejew, wenn es darum geht, dessen Choreografien einzustudieren und lebendig zu erhalten. Auch für die Auswahl von Stücken anderer Choreografen hat er dank seines Stilempfindens ein gutes Händchen. Aber als eigenständiger Inszenator und Choreograf versagt Legris auf voller Linie – dafür fehlt ihm zuviel an geistigem Handwerk. Das wissen mittlerweile nicht nur die Wiener.

So lief am letzten Samstagabend, also gestern, während der Live-Aufführung in Wien auch im Fernsehen auf 3sat zur Primetime Manuel Legris‘ „Le Corsaire“, und zwar in der auch im Handel als DVD erhältlichen Aufzeichnung aus dem Premierenjahr von 2016 – und somit in einer anderen Besetzung.

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Darin brillieren Maria Yakovleva als Médora, Liudmila Konovalova als Gulnare, Robert Gabdullin als Conrad und Davide Dato als Birbanto, während Kirill Kourlaev als Lanquedem nicht ganz typgerecht besetzt ist und Mihail Sosnovschi als Sayd Pascha fast ausschließlich ohne zu tanzen auf dem Haremssofa herumlümmeln darf. Eine seltsame Schonzeit für einen bekannten Sprungvirtuosen.

Aber es ist ohnehin so manches seltsam, an diesem Abend…

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Denys Cherrevychko als Conrad in „Le Corsaire“ in der Version von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett: technisch brillant, aber die Rolle hat ihm niemand erklärt. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Manuel Legris, Wiens scheidender Ballettchef, hat sich nämlich von den durchaus fesselnden  Figurenzeichnungen vorangegangener Choreografen – etwa von Marius Petipa und Konstantin Sergejev, aber auch von der absolut lobenswerten Rekonstruktion von Ivan Liska und Doug Fullington, die jahrelang beim Bayerischen Staatsballett und dann beim Boston Ballet für gücklichen Furor sorgte – weit entfernt.

Legris hat sich tatsächlich getraut, das Libretto auf eine Aneinanderreihung von Tanznummern herunterzuschrumpfen, die Verschiedenheit der Figuren einzuebnen und sie nur noch mit einem Minimum Handlung zu versehen – und auch, wenn der zumeist von Marius Petipa übernommene Tanz wieder und wieder euphorisierende Höhepunkte schafft, so ist das angesichts der Möglichkeiten des Stücks doch schade.

Der Freiheitskampf, um den es hier eigentlich geht, verpufft – und die beliebte Figur des befreiten Sklaven Ali, der auch auf zahlreichen Galas den berühmtesten Pas de deux des Stücks als Bekenntnis zum Dienst an der gloriosen Dame tanzt, wurde schlichtweg ganz aus dem Libretto entfernt.

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Wunderschöne, elegante Posen: Kiyota Hashimoto und Denys Cherevychko vom Wiener Staatsballett in „Le Corsaire“ von Manuel Legris. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Alles, was Marius Petipa an charakterlicher Zeichnung in seinen drei Fassungen (1863, 1880 und 1899) entwickelte, hat Legris einfach weggewischt: Er lässt die Ballerinen und Ballerinos die virtuosen Schrittkombinationen tanzen, als sei es l’art pour l’art.

Und so erlebt man, wie Davide Dato als Birbanto (im TV und auf der DVD wie auch heuer live in Wien) groß aufdreht und zudem im schwarz geprägten Freibeuter-Kostüm von Luisa Spinatelli eine ganz hervorragende Figur macht.

Auch Natascha Mair als Gulnare bezaubert mit Eleganz und Weiblichkeit, mit gestochen scharfen Posen und lieblichem Tanzgestus.

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Alice Firenze in Aktion: eine großartige Verbindung aus Ballett und Folklore. So zu sehen in „Le Corsaire“ von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Und Alice Firenze sprüht Funken der Leidenschaft beim Tanz, auch sie ist eine dieser typisch Weanerischen Ballerinen, deren Begabung für Temperament man nie vergisst.

Ihre Kollegin Kiyoka Hashimoto hingegen braucht ein, zwei Akte, um sich richtig warmzutanzen – aber dann ist ihre Médora eine Göttin der Liebe!

Sie ist die Geliebte des Piratenanführers Conrad, dessen Wiener Verkörperung durch den Superstar Denys Cherevychko unerwartet ein wenig enttäuscht. Technisch brilliert Denys zwar wie gehabt – aber die Rollengestaltung hat offenbar niemand mit ihm ernsthaft  gearbeitet. Er springt und springt und springt und repräsentiert und repräsentiert – aber wieso?

Und so sieht man zirkusartig Nümmerchen auf Nümmerchen, freut sich zwar an den erstklassigen Riesensprüngen und Drehungskaskaden, und auch das Corps de ballet sorgt immer wieder mit mal fetzigen, mal lyrischen Kleingruppentänzen für ein wahres Funkeln körperlicher Befähigungen – aber die an sich doch spannende Geschichte von „Le Corsaire“ bleibt blass und viel zu grob erzählt.

In Petipas zweiter Version – die sich Liska und Fullington zum Vorbild nahmen, was auch hier en detail nachzulesen ist – geht es um ein Triumvirat aus drei Männern, die eine Schar Freibeuter anführen: Konrad, Ali und Birbanto.

Ali, den Konrad einst befreite, ist dabei das Herz dieser Truppe, denn er dient Konrad und dann auch dessen Geliebter Medora mit so viel Herz, dass das Thema der Freundschaft ganz neue Facetten erhält.

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Und noch eine Wiener Blume: Die bezaubernde Natascha Mair als Gulnare in „Le Corsaire“ von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor / Wiener Staatsballett

Weil Legris Ali aus der Liste vom Personal strich und seine Choreografie überwiegend auf Conrad und andere Tänzer verteilte, fehlt der Inhalt zu diesen virtuosen Glanzstücken.

Bei Legris soll Conrad nun der uneingeschränkte Held sein, eine enorme Last – und man versteht gar nicht, warum Lanquedem und Birbanto ebenfalls so hoch springen können, im Grunde aber niemanden damit beeindrucken wollen.

Jedenfalls geht es darum, liebliche Haremsdamen, die einst freie Frauen waren, aus dem Harem von Sayd zu befreien.

Damit nicht genug: Schon in der literarischen Vorlage zu dem Ballett, der Versdichtung „The Corsair“ von Lord Byron (1814 in London erschienen), geht es sowohl um männliche Haremsträume als auch um das Thema der Sklavenbefreiung generell.

Als Marius Petipa sich 1863 erstmals dem „Corsaire“ widmete, lag die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland (1861) gerade mal zwei Jahre zurück.

Sowohl die westliche Piraterie – die sich außerhalb der gesetzlichen Ordnung stellt – als auch der orientalische Haremsbrauch, der Frauen auf ihre sexuellen Unterhaltungsdienste reduziert, haben in diesem realen gesellschaftlichen Kontext eine erhöhte Bedeutung.

Aber davon hat Legris tatsächlich null Ahnung.

Applaus für die Solisten vom Wiener Staatsballett und ihren Dirigenten Valery Ovsyanikov (links außen) nach „Le Corsaire“ von Manuel Legris. Foto: Boris Medvedski

So entzückend die Damen des Harems vom Pascha mit ihren Pumphosen und Schleiern auch auftanzen, so feurig die folkloristischen Einlagen auch sind und so poetisch der belebte Garten, der Jardin animé mit seinen tanzenden Blumenballerinen und ihren Kindern als Trost für die Eingeschlossenen im Harem auch ist – das Ganze schwebt im luftleeren Raum, hat keine Anbindung an einen geschichtlich bedeutsamen Grund.

Und wäre nicht Mihail Sosnovschi, der mit unglaublicher Spielfreude und Verve dem teuflischen Sklavenhändler Lanquedem einen schillernden tänzerischen Ausdruck verpasst, man müsste sich manchmal fragen, warum man dieser Veranstaltung eigentlich beiwohnt.

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Blick aufs glückliche Wiener Staatsballett nach „Le Corsaire“ beim Schlussapplaus. Mit Blumen: Mihail Sosnovschi. Bravissimo! Foto: Boris Medvedski

Aber die Musik von Adolphe Adam und anderen, oh ja, sie erschallt in der prächtigen Wiener Staatsoper auch mit genau so viel Volumen und Taktfeinheit, wie es sein sollte.

Valery Ovsyanikov dirigiert mit wahrer Meisterschaft das Orchester der Wiener Staatsoper sowohl in der Live-Aufführung 2019 als auch in der Aufzeichnung von 2016.

Und wenn sich am Schluss das Liebespaar Conrad und Médore nach einem etwas wackligen Schiffsunglück an die Küste sprich in die Nähe der Rampe rettet, wo er rasch zu Kräften kommt, um seine erschöpfte zarte Gefährtin aufzurichten, ja, dann ist die Welt eben doch für einen wunderbaren Moment lang wieder in Ordnung.

Kniend umarmen sich die beiden, fast noch kraftlos, aber inniglich; sie retteten soeben ihre nackten Leben, die pure Existenz – und sie blicken einer äußerst ungewissen Zukunft entgegen.

Aber: Sie sind nicht allein, sondern können der Liebe und Loyalität des Partners gewiss sein.

"Le Corsaire" von Manuel Legris beim Wiener Staatsballett

Kiyoka Hashimoto und Denys Cherevychko beim Applaus nach „Le Corsaire“ in der Wiener Staatsoper. Bravi! Foto: Boris Medvedski

Vorhang! Denn mehr muss man dazu jetzt nicht wissen. Und ist das etwa keine vorzügliche Hoffnung für das anrollende neue Jahr?!
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg

www.wiener-staatsoper.at

 

 

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