Ersatz-Gala mit Highlights Das Stuttgarter Ballett sprintet vor und bietet Ende Juli 20 eine Corona-Ballett-Premiere – aber die Sehnsucht nach Reid Anderson wächst

Das Stuttgarter Ballett zeigt eine Corona-Gala

So tanzte das Stuttgarter Ballett vor einigen Jahren das „Requiem“ von Kenneth MacMillan. Heuer wird ein Solo aus dem Gedenkstück für John Cranko gezeigt. Foto: Stuttgarter Ballett

Reid Anderson, der von 1996 bis 2018 der Intendant vom Stuttgarter Ballett war, fehlt doch sehr! Sein Flair, seine Klasse, sein Stil, sein Format, seine vielseitigen Befähigungen und Kontakte, seine Entscheidungskraft, auch seine Bereitschaft, konsequent zu sein, fehlen. Seine Persönlichkeit, seine Lust am Kommunizieren, seine Glaubwürdigkeit als Verantwortungsträger, all das fehlt. Corona-Schonzeit hin oder her: Sein Nachfolger Tamas Detrich, langjähriger Ballettmeister in Stuttgart und einst als idealer Fortführer der Anderson’schen Linie gehandelt, entpuppt sich immer mehr als ein Mann der Kompromisse. Man muss aber zu einem gewissen Weitblick und zu einem bestimmten Maß an Intellekt in der Lage sein, um interessante Spielpläne zu gestalten. Von Detrich hat man hingegen bislang lediglich folgenden Eindruck: Als Coach und Ballettmeister ist er nach wie vor eine Koryphäe, aber als Ballettchef ist er in mancher Hinsicht überfordert. So fehlt eine strahlende, intelligente Außenpräsentation vom Stuttgarter Ballett ebenso wie ein Spielplan, der mehr als grandiose Nostalgie einerseits und zeitgenössischen Kleinkram andererseits bietet. Eine bedeutende Uraufführung – und zwar bitte von einem richtigen Choreografen oder einer richtigen Choreografin stammend und nicht von nebenbei choreografierenden TänzerInnen, welche für Choreografie (und nicht für fixierte Improvisation) weder die Bildung noch das Talent haben – fehlt denn auch. Tamas Detrichs bisherige Corona-Krisen-Programme waren entsprechend mau. Inklusive eines Solos mit dem Startänzer Friedemann Vogel, dessen Choreograf (Tänzerkollege Shaked Heller hat sich da versucht) die Traurigkeit des Tänzers ohne Bühne visualisierte, dabei aber offenkundig kaum weiter als bis zum allgemeinen Unbehagen kam. Dass Detrich außerdem den expressiven „Tanz der Ritter“ aus John Crankos „Romeo und Julia“ kurzerhand zum blutleeren Kulissentanz umchoreografierte, war ein unübersehbarer Hinweis auf kleinbürgerlichen Geschmack. Jetzt aber sprintet das Stuttgarter Ballett vor und kündigt für den 25. Juli 2020 eine bunt gemischte Premiere im Opernhaus an, der Vorverkauf beginnt am 1. Juli: Es handelt sich um eine hauseigene Gala in neun Teilen, mit einer Abwandlung jenes Mottos verziert, nach welchem andere Leute heiraten: „Something old, something new, something classic, something blue“. „Etwas Altes, etwas Neues, etwas Klassisches, etwas Blaues“ –  das ist nicht wirklich originell zu nennen. Der eigentliche Titel des Abends „Response I“ („Antwort I“) lässt zudem erahnen, dass solche zusammen gewürfelten Programme auch den Beginn der kommenden Spielzeit in Stuttgart dominieren werden. Sprich: „Response II“ und „Response III“ werden uns vermutlich ebenfalls heimsuchen, sofern die Pharmaindustrie nicht bald etwas gegen Covid-19 erfindet.

Die "Shades of White" sind ein sensationeller Erfolg

Im Ballettsaal kongenial, als Ballettchef insgesamt aber unzureichend: Tamas Detrich (vorn) mit Ballettmeistern bei einer Probe beim Stuttgarter Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Zunächst aber auf in die „Response I“!

Sie beginnt mit drei Uraufführungen, die vielleicht den Sponsoren des Stuttgarter Balletts gefallen werden, ansonsten aber trotz allen Fleißes, der darin stecken mag, bestimmt auch viel Nachsicht verlangen. Drei Tänzer vom Stuttgarter Ballett dürfen sich hier jeweils als Choreograf austoben: Fabio Adorisio, Roman Novitzky und der in dieser Hinsicht bereits sturmerprobte Louis Stiens. Die Werktitel stehen noch nicht fest, nicht mal Arbeitstitel stehen auf dem Spielplan.

Die neue Stuttgarter Definition von „Choreografie“ besteht ja aber auch anscheinend darin, irgendwelche Musik irgendwie auffällig zu betanzen. Viel Glück damit! Ein Teil vom Stammpublikum wird das auf jeden Fall goutieren, nach dem Motto: Hauptsache, was Neues, was Buntes, was Schrilles, was zum Einschlafen. Und da wird bestimmt für jede und jeden was dabei sein.

Da nun diese drei aktuellen Stücke gleich zu Beginn des Programms stehen, wird das Publikum auch bestimmt nicht vor ihnen weglaufen, was vielleicht der Fall wäre, wenn sie am Schluss stünden.

Dafür wird man dann fürs Aushalten belohnt: Die kommenden Piecen haben immerhin viel Glanz und Renommée, also die üblichen Stuttgarter Erfolgskomponenten: schönen Schauder und einen hohen Bekanntheitsgrad.

Reid Anderson feierte seinen Abschied als Stuttgarter Ballettchef

Ist immer sympathisch  und hat international zu Recht ein hohes Ansehen: Reid Anderson, legendärer Stuttgarter Ballettintendant bis 2018. Seine hochkarätigen Vorzüge fehlen heute in Stuttgart.  Foto: Gisela Sonnenburg

Da ist zunächst ein Solo aus „Requiem“ von Kenneth MacMillan. Der grandiose Brite kreierte dieses sinfonische Ballett zur Requiemsmusik von Gabriel Fauré als Trost- und Trauerstück im Angedenken an seinen 1973 früh verstorbenen Freund und Kollegen John Cranko. „Schwebende Gefühligkeit, erhabene Euphorie“ textete ich vor einigen Jahren, als das Stück ganz in Stuttgart lief (mehr dazu bitte  hier).

Für alle, die wegen Corona Grund zur Trauer haben, ist das also ein heilsamer Balsam in Ballettform, und für alle, die sich gern an John Cranko und die gute alte Zeit erinnern, ist es ein willkommener Anlass, in den entsprechenden Gefühlen zu schwelgen. Das ist genau richtig als Erholung von den drei Uraufführungen.

Das Stuttgarter Ballett zeigt eine Corona-Gala

„Der sterbende Schwan“ von Mikhail Fokine, hier von Anna Osadcenko während einer Corona-Ersatz-Show im Foyer getanzt. Foto: Stuttgarter Ballett (Bernhard Weis)

Stimmungswechsel. Ein noch nicht näher bezeichnetes Solo von Hans van Manen wird pointiert ein elegant-sarkastisches Ausrufezeichen setzen. Der 1932 geborene Holländer gehört, wie auch MacMillan, seit langem zum Repertoire der Stuttgarter  – van Manen setzt zumeist vor allem auf Posen und Linien, auch mal auf Humor und Ironie. Man darf also auf eine Erfrischung hoffen, bevor es dann wieder bitterernst wird.

Der sterbende Schwan“ von Mikhail Fokine ist allerdings bereits das weibliche Corona-Solo per se geworden, spätestens seit Polina Semionova eine Neuinterpretation live als Online-Stream aus der Staatsoper Unter den Linden in Berlin anbot (hier und hier mehr dazu).

Kurz zuvor tanzte schon Anna Osadcenko vom Stuttgarter Ballett das traditionelle Pawlowa-Solo unter weit schwierigeren Umständen: im schmucklosen Theaterfoyer unter Corona-Schutzmaßnahmen, vor ausgesucht wenigen Zuschauern. Die Fallhöhe war hier besonders hoch: Wenn ein Schwan solch ein künstlerisches Sterben tatsächlich überlebt, dann ist das wirklich etwas Besonderes und auch für die große Bühne wie gemacht! Lyrizismus pur…

Onegin - endlich als DVD

Alicia Amatriain als Tatjana mit Jason Reilly als ihrem Gatten Gremin – wahre Liebe ohne tödliche Leidenschaft… zu genießen mit C Major auf der „Onegin“-DVD. Foto/Still: Gisela Sonnenburg

Vital und vor Kraft strotzend wird dann ein Pas de deux aus „Onegin“ von John Cranko – und stimmungsmäßig wird er die Zuschauer aus der jenseitig-spirituellen Schwanensphäre ins gelebte und geliebte Diesseits zurückholen. Damit legt das „Response“-Programm auch deutlich an Fahrt zu, zumal, wenn es sich um den rasanten Schluss-Pas-de-deux des Meisterwerks aus den späten 60er-Jahren handeln sollte. Aber auch der harmonische Tanz von Tatjana mit Gremin ist eine Gala-Nummer wert! Fans hoffen zudem auf die Besetzung von Gremin oder auch des Titelhelden mit Jason Reilly. Er kann, was selten genug ist, beide Partien. Und ist immer wieder ein Highlight!

Kurz vor dem dritten Höhepunkt des Abends kommt dann noch ein retardierendes Moment: Ein Solo aus „Ssss…“ von Edward Clug. Man darf essssssssssss nun nicht zu den geistreichsten Arbeiten von Clug zählen, aber es vergeht immerhin ein wenig Zeit, und während der wird getanzt.

Das Stuttgarter Ballett zeigt eine Corona-Gala

Weltstar Friedemann Vogel tanzt den fetzigen „Bolero“ von Maurice Béjart besonders gern, beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Schließlich kommt der Knaller des Abends, und schon allein wegen diesem Abschlussstück werden die wenigen verfügbaren Eintrittskarten für die Vorstellungen in Nullkommanichts vergriffen sein: Gemeint ist der „Bolero“ von Maurice Béjart zur Musik von Maurice Ravel.

Es handelt sich hierbei um eine Paraderolle von Weltstar Friedemann Vogel (zum Interview mit ihm geht es hier) – aber auch Primaballerina Alicia Amatriain hat mit dieser aufregenden Unisex-Partie in Stuttgart schon gepunktet.

Man wird also letztlich so oder so zu seinem Vergnügen kommen – auch wenn man zunächst etwas ausharren muss.

Reid Anderson aber hätte aus der Chance, eine Gala als Zeichen des Erwachens aus dem Corona-Lockdown zu inszenieren, zweifelsohne noch viel mehr gemacht. Seufz.
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

 

 

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