Versöhnung trotz Schwermut Es ist eine Sensation: Daniel Barenboim begleitet am Klavier Polina Semionova, die den „Sterbenden Schwan“ tanzt – live mit Online-Stream aus der Staatsoper Unter den Linden am kommenden Freitagabend

Polina Semionova im "Schwanensee"

Eine Schwanendame von höchster Eleganz: Polina Semionova, Weltstar und eine der ganz Großen im „Schwanensee“, hier beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Es ist Jahre her, dass Berlins oberster Stardirigent Daniel Barenboim das Staatsballett Berlin musikalisch begleitete. Ein Zwist unter anderem mit dem damaligen Ballettintendanten Vladimir Malakhov soll damals für das Ende der zuvor sehr fruchtbaren Zusammenarbeit gesorgt haben. Jetzt zeitigt die Corona-Krise auch mal etwas Schönes, nämlich eine versöhnliche Kooperation von Barenboim mit Polina Semionova, die zwar kein festes Mitglied mehr vom SBB ist, aber seit Jahren als „Principal Guest“ beim SBB rangiert. In ihrer Eigenschaft als freiberufliche Ballerina wird Semionova am kommenden Freitagabend live als „Sterbender Schwan“ im Internet auftreten – und Daniel Barenboim hat die musikalische Leitung inne. Das Programm beginnt am 12. Juni 2020 um 19 Uhr, es ist nach dem Werk betitelt, das zu hören sein wird: „Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) für Flöte, Klarinette, Streichquintett, Xylophon und zwei Klaviere stammt von Camille Saint-Saëns und wurde 1886 uraufgeführt.

Das war zwar zu einer Blütezeit des klassischen Balletts, aber zunächst wurde das etwa 25-minütige sinfonische Musikwerk vor allem als Satire auf andere Komponisten wie Rossini und Mendelssohn Bartholdy bekannt. Und keinesfalls als Vorlage für Tanz.

Der sterbende Schwan“, das daraus stammende weltberühmte Ballettsolo, wurde erst 1905 in Sankt Petersburg von Mikhail Fokine für Anna Pawlowa herself choreografisch maßgeschneidert kreiert. Weltweit zeigte Pawlowa es im Laufe ihres Tänzerinnenlebens auf Tourneen. Es ist die ultimative ballettöse Schwermut, die sich hier zeigt, edel und stilistisch über alle Zweifel erhaben.

Seither haben Generationen von Primaballerinen diese „Nummer“ getanzt; legendär sind unter anderem die verschiedenen Interpretationen von Maja Plisetzkaja, die diese im Abstand von Jahrzehnten und noch als über 60-Jährige aufführte.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Diese Bewegung würde für Ninette de Valois‘ Version gar nicht typisch sein: Maja Plisetzkaja als tanzender Schatten im „Sterbenden Schwan“ von Mikhail Fokine. Videostill: Gisela Sonnenburg

In Berlin– just in der Staatsoper Unter den Linden– tanzte zuletzt Beatrice Knop das rührende Stück, bei einer der Galas „Malakhov & Friends“.

Jetzt also Polina! Man darf sich freuen und gespannt sein. Viele Fragen warten auf ihre Beantwortung beim Anschauen: Wird sie mit dem Rücken zum Publikum (also zur Kamera, das sie fürs Publikum filmt) auf die Bühne trippeln? Oder mit der Vorderseite? Wird sie den Spielraum, den sie hat, nutzen oder sich an eine historische Vorlage halten?

Und welches Kostüm wird sie tragen? Wird es dem von Luisa Spinatelli aus „Schwanensee“ in der Inszenierung von Patrice Bart ähneln? Wird es puristischer sein? Oder sogar opulenter?

Anna Pawlowa trug ein dem Zeitgeschmack entsprechendes, romantisch ausladendes Federgewand mit viel Tüll von Léon Bakst, das knielang und keinesfalls mit einem stehenden Teller-Tutu zu verwechseln war.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Noch einmal Maja Plisetzkaja, in ihrer traditionellen Art, als Schwan auf der Bühne zu sterben. Videostill: Gisela Sonnenburg

Andere Ballerinen trugen Minirock-artige, gar bis zur Starre steife Kurz-Tutus; meistens aber wird ein erhabener Eindruck durch ein wippendes, großes Tutu angestrebt.

Der Kopfschmuck erinnert meistens an Schwanenfedern.

Aber die Mitte zwischen den Brüsten ist unterschiedlich gestaltet. In der Version von Ninette de Valois etwa prangt hier ein großer roter Punkt, ein stilisierter Fleck, der die tödliche Verwundung der Schwanendame darstellt. Er ist kreisrund wie eine Schuss- oder Pfeilwunde und fällt als Todesursache von Beginn an ins Auge.

Andere trippelnd sterbende Schwäninnen verbluten wohl langsam nur nach innen, zumindest sieht man ihnen keine Verletzung direkt an. Sie zeigen den letzten Lebensakt ohne Hilfe einer Requisite, allein durch ihre Kunst, die die Seele und den Körper verbindet wie das Leben selbst. Bis zum letzten Atemhauch des edlen Schwans.

Es ist auch eine Entscheidung der jeweiligen Interpretin, wann ihr Schwan weiß, dass alles Aufbäumen und Hoffen nichts mehr nützen wird: Der Todeszeitpunkt naht.

Die Bewegungen der Arme sind aber immer von sanft flatternden Flügeln inspiriert.

Hierin zeigt sich die Zartheit und Sensibilität der Ballerina, die als Schwanenwesen zugleich eine romantische und eine avantgardistische Kreatur verkörpert.

Die Nijinsky-Gala XLII machte die Beteiligten glücklich.

Anna Laudere vom Hamburg Ballett in „Der sterbende Schwan“ von Mikhail Fokine in der Version von Ninette de Valois. Sehr stilisiert – und mit Schusswunde im Brustkorb. Foto: Kiran West

Seit „Schwanensee“ (1877) weiß man im Ballett, dass weibliche Schwäne auf der Bühne verzauberte Frauen sein können.

Den Zauber der Verzauberung exerziert auch dieses Solo vom „sterbenden Schwan“, und wer am Ende darob nicht ein paar Tränen verspürt, muss sich vorwerfen lassen, kein Herz zu haben.

Bis es soweit ist, hebt die Kunst der Musiker von der Staatskapelle Berlin – mit Generalmusikdirektor Daniel Barenboim und Thomas Guggeis (der ebenfalls auch Dirigent ist) an den Klavieren – die Stimmung.

Und noch ein Clou lockt herbei: Als Erzähler konnte Jan Josef Liefers (vom „Tatort“-Duo aus Münster) gewonnen werden. Er sprang dankenswerterweise für den ursprünglich avisierten Weltstar Christoph Waltz ein, der aufgrund der Reisebeschränkungen durch Corona nicht in Berlin sein kann.

DVDs für den Gabentisch.

Generalmusikdirektor Daniel Barenboim dirigierte einst auch fulminant den „Nussknacker“ mit dem damaligen Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin. Videostill von der bei Arthaus Musik erschienenen DVD: Gisela Sonnenburg

So bekommen wir einen Luxus-Event der Extra-Klasse aus der Hauptstadt gratis online und live präsentiert, weltweit können Freunde eingeladen werden, es ebenfalls zu sehen – wer kann, wer sollte dazu meckern?!

Die erwartete Reaktion des Publikums und der Kritiker wird hier wohl viel eher einmütig in die andere Richtung gehen: Man darf auf eine Wiederholung dessen hoffen, wenn die Corona-Schutzmaßnahmen ein wie auch immer anzahlmäßig reduziertes Publikum vor Ort in der Staatsoper zulassen!

Mutige träumen dann noch weiter: Nämlich davon, dass Daniel Barenboim sich wieder verstärkt dem Ballett in Berlin zuwendet.
Gisela Sonnenburg

P.S. Zur Rezension bitte hier!

www.staatsoper-berlin.de

www.staatsballett-berlin.de

 

 

ballett journal