Hilfreich sei der Mensch, edel und gut, befand einst Goethe. Hilfreich und gut ist in jedem Fall die Umsetzung eines unterhaltsamen Stücks auf der Opernbühne unter Berücksichtigung der Corona-Schutzmaßnahmen. Edel und sanftmütig, elegant und melancholisch muss hingegen der weltberühmte Sterbende Schwan von Mikhail Fokine getanzt werden. Noch bis zum Freitag, den 19.06.20, ist diese Show als video on demand auf staatsoper-berlin.de in einer außerordentlichen Live-Aufzeichnung zu sehen: Polina Semionova (stete Stargastballerina vom Staatsballett Berlin) zeigt am Ende von „Le carnaval des animaux“ von Camille Saint-Saëns als Schwan das sanfte Vergehen auf der Bühne als Kunstform von großartiger Einfachheit. Es ist eine tänzerische Interpretation, in die sich der Tod so raffiniert wie elegant einschleicht, fast unmerklich. Im Grunde könnte dieser Schwan sich am Ende auch einfach nur schlafen legen. Die Taschentücher können also geschont werden. Und zu Beginn scheint es dem schönen flatternden, trippelnden Tier sogar noch sehr gut zu gehen: mit Gleichmut und Beharrlichkeit, Geduld und feinen Posen trippelt Polina Semionova mit dem Rücken zum Publikum heran, den Körper schwelgend ins Cambré nach hinten neigend, die Arme seitlich und nach oben wie Schwingen ausbreitend. Die Bühne der Staatsoper Unter den Linden in Berlin zeigt dazu ein von hohen bewaldeten Felsen umgebenes Südseegewässer als dekorative Abendkulisse in lila-blau-orangenen Farbtönen.
Ist es vielleicht die Spree, die hier wundersam verwandelt ist? Dieser im Licht leuchtend weiße Schwan stammt jedenfalls aus einer Wunderwelt des Staunens und Fabulierens, keineswegs aus irgendeiner bekannten profanen Sphäre.
Sein Thema ist die Vergänglichkeit – ob es um die eines schönen Tages geht oder um die seines ganzen Lebens, bleibt hier ausnahmsweise mal offen.
Daniel Barenboim, der die musikalische Leitung inne hat, lässt denn auch weit weniger tränenselig aufspielen, als es bei diesem Stück von Saint-Saëns, das häufig als Solo-Nummer bei Galas gegeben wird, üblich ist. Schön, wie er sich auf die Inszenierung einzustellen vermag!
Zarte Melancholie mit einiger Hoffnung im Unterton ist hier das Credo. Wie symbolhaft für die gesamte Situation der Opern- und Ballettwelt derzeit!
Die melancholische Anwandlung des Schwans verstärkt sich allerdings – und bei der ersten Wendung am rechten Bühnenrand der zauberhaften Schwänin scheint sie zur tödlichen Gewissheit zu werden. Ab diesem Moment wird es ernst.
Langsam verlassen diesen schönen edlen Schwan in seinem ganz steif nach unten zeigenden Tutu die Lebenskräfte… etwas in ihm war schon erstarrt, bevor wir es bemerken können.
Die zarte Musik beflügelt ihn zwar erneut, aber nach jedem Aufbäumen wird der Schwan müder. Es ist kein abruptes Sterben, sondern ein langsames Dahinschweben in eine andere Welt, das Semionova hier zeigt.
Als sie schließlich gen Ende vornehm nach vorn gen Boden sinkt, das rechte Bein vorgestreckt und die Arme nach hinten oben weit ausgestreckt, ist es, als trauere die Natur mit ihr um das Vergehen der Lebenszeit.
Das ist eine neue und hier durchaus sehr gute passende Interpretation der Choreografie, die sich eher auf den Titel des Musikkapitels bezieht als auf den der Choreografie von Fokine. Es ist also eher „Der Schwan“ als „Der sterbende Schwan“.
Problematisch ist nur, dass die Choreografie von Fokine an sich eben überhaupt nicht mit dem Libretto des Stücks „Le carnaval des animaux“ („Der Karneval der Tiere“) überein stimmt. Sie entstand als Einzelsolo 1905, also fast zwanzig Jahre nach dem Musikstück, das von 1886 stammt. Und: Das Tanzstück referiert auf den Mythos vom tragisch verzauberten Schwan, auf die damals genau zehn Jahre alte Erfolgschoreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow, deren „Schwanensee“ bis heute bei Ballettfans für Furore sorgt.
In dem früher entstandenen, besonders kinderfreundlichen Text des „Karneval der Tiere“, von Schauspielstar Jan Josef Liefers übrigens sehr mitreißend vorgetragen, stirbt der Schwan auf der Bühne keineswegs, auch nicht möglicherweise.
Vielmehr bildet der Tanz des Schwans im Mondlicht den Höhepunkt einer tierisch munteren Schau, und das sich anschließende lustige Finale illustriert das Auseinanderstieben der verschiedensten Tiere, die im Publikum saßen.
Es handelt sich dabei um ein märchenhaftes Theater-im-Theater, weniger um einen Karneval, als vielmehr um ein Theater der Tiere. Würde der Schwan während der Vorführung versterben, so wäre das Ah und Oh und Oweh sicher groß! Aber davon findet sich nichts beim glücklichen Aufbrechen Richtung Heimat.
Mit diesem Bruch muss man leben, wenn man die Fokine-Choreo (in der es von Beginn an um das Sterben der Kreatur geht) in das kunterbunte Gesamtspektakel integriert.
Die Katzenjungen sind übrigens laut Textbuch ganz besonders wild darauf, den Schwan im silbernen Mondlicht zu sehen und zu bewundern – in der Staatsoper Unter den Linden verkörpert der Schwan gleichsam das Mondlicht selbst.
Vielleicht ist dieser Schwan von Polina Semionova eben vor allem ein Zaubertier, das überall und nirgends wirklich zuhause ist. Das würde zu der Faszination passen, die von ihm ausgeht, das würde auch zu seinem Künstlerschicksal passen, welches im Text von „Le carnaval des animaux“ angedeutet wird. Alle kommen, um dieses Wesen tanzen zu sehen, aber danach streben alle auf und davon. Der Künstler, die Künstlerin bleibt einsam und erschöpft zurück.
Hoffen wir also, dass der Schwan hier einmal nicht stirbt, sodass wir ihm zurufen können: Fliege weiter, lieber Schwan, und gute Reise!
Gisela Sonnenburg