Gestern abend heulten in Stuttgart die Sirenen. Die Vorstellung „Dornröschen“ mit dem Stuttgarter Ballett, eine Wiederaufnahme des Stücks in der Inszenierung von Marcia Haydée, musste abgebrochen werden. Mitten im Walzerstück im ersten Akt, zur festlich-nostalgischen Musik von Peter I. Tschaikowsky, stockte der Tanz, hörte die Musik auf zu spielen. Publikum wie Künstler:innen mussten das Haus zügig verlassen, aber alles lief geordnet und so ruhig wie am Schnürchen ab, als sei es minutiös geprobt. Der Landtag, wenige Minuten zu Fuß vom Stuttgarter Opernhaus entfernt, stand schon offen und nahm die etwas verstörten Menschen auf. Viele froren, weil sie ihre Mäntel an der Garderobe im Opernhaus hatten zurücklassen müssen. Die Feuerwehr fuhr mit mehreren Wagen vor. Neugierige scharten sich um den Bühneneingang, wo Tänzer:innen im Kostüm, nur notdürftig von Jacken oder Bademänteln vor der nächtlichen Kälte beschützt, ausharrten. Für manche Zuschauer:innen mag das ein Abenteuer gewesen sein. Für andere war es bittere Realität: Man fühlt sich im Opernhaus in Stuttgart nicht mehr sicher.
Dieses Gefühl konnte sich auch nicht ganz auflösen, als es um 20.04 Uhr hieß, dass alle wieder auf ihre Plätze gehen können. Es war falscher Alarm.
Viele atmeten auf, andere fragten sich, ob die Alarmanlage auch versagen würde, wenn es ernst sein würde.
Auf der Bühne erschienen Tamas Detrich, der beim Ballett-Journal stark in die Kritik geratene aktuelle Stuttgarter Ballettintendant, und Marc-Oliver Hendriks, der Geschäftsführende Intendant der Staatstheater Stuttgart. Er ist, im Gegensatz zu Detrich, eher selten zu Gast im Ballett.
Es habe sich um Fehlalarm gehandelt, berichteten sie, das habe die Feuerwehr nach ausführlicher Inspektion möglicher Brandherde festgestellt. Das Tempo dieser Visite war in der Tat atemberaubend. Keine Viertelstunde wurde nach dem nicht vorhandenen Feuer gesucht.
So etwas habe es so noch nie gegeben, führten die Herren aus und wirkten erstaunlich gefasst. Die Evakuierung sei notwendig gewesen, weil es den Alarm – den falschen Alarm – gegeben habe.
Wo Tamas Detrich nun schon mal vorm Publikum stand, sagte er auch gleich noch etwas zu einem ganz anderen Sachverhalt.
Nein, er sagte nichts zu dem Skandal, den das Ballett-Journal vor wenigen Tagen aufgedeckt hat. Also dazu, dass Detrich kürzlich Mikhail Agrest, den russisch-jüdischen Stardirigenten, den Detrich als Musikdirektor angestellt hatte, nach nur einem Jahr und etlichen musikalisch bejubelten Vorstellungen gefeuert hat.
Tamas Detrich sagte auch nichts dazu, dass die Stiftung, die sein Amtsvorgänger Reid Anderson kürzlich gegründet hat, in ihren Vorhaben nicht ganz schlüssig ist und die Bekanntgabe ihrer Gründung ohne Spendenkonto erfolgt worden war. Das Ballett-Journal hat auch hierüber schon ausführlich berichtet.
Aber Detrich sagte gestern abend etwas dazu, dass die Bühnenkulisse etwas anders sei als sonst. Ein Tor auf der Bühne sei dieses Mal schwarz statt – wie sonst – weiß. Dieses Detail schien ihm wichtig, und so erklärte er, was ihm seltsamerweise völlig unwichtig erschien: dass nämlich Teile der Bühnentechniker und der Service-Kräfte in Stuttgart gerade streiken.
Darum war nämlich auch die Kasse im Opernhaus nicht geöffnet, was dort im Foyer ein Schild anzeigte: wegen Streik geschlossen, verhieß es.
Anscheinend ist es im Stuttgarter Opernhaus aber so normal, dass gestreikt wird, dass dieses vom Opernbetrieb und vom Stuttgarter Ballett weder auf den Homepages noch in den sozialen Medien publik gemacht wird.
Was den Chefs hier nicht gefällt, das wird halt totgeschwiegen.
Schulterschluss bewiesen Detrich und Hendriks ja an diesem Nicht-Brand-Abend.
Nennt man das nun moderne Kommunikationsstrategie auf schwäbische Art? Schweigen und sich gemeinsam feiern lassen?
Immerhin verschweigt die Homepage vom Stuttgarter Ballett aber nicht, dass der mächtige Autobauer Porsche sein Hauptsponsor ist. Das steht gleich auf der Homesite, zwar ganz unten, aber an prädestinierter Stelle.
Streikende sind also unwichtig, der Hauptsponsor ist hingegen von hoher Bedeutung.
Gehört sich diese Einordnung für ein deutsches Staatstheater?
Warum an der Stuttgarter Oper gestreikt wird, hat Detrich übrigens nicht gesagt.
Aber er erklärte, warum der Walzer, der wegen des Falschalarms unterbrochen werden musste, sogleich erneut, aber ohne Kinder getanzt würde.
Die zwölf Kinder, die hier mitwirken, seien aufgrund der Geschehnisse zu verängstigt und würden darum erst im zweiten Akt wieder auf die Bühne kommen. So Detrich. Das war ihm wichtig zu sagen.
Detrich sprach übrigens vom „Blumenwalzer“.
Aber das wirkte dilettantisch. Den so genannten „Blumenwalzer“ von Tschaikowsky gibt es nämlich im „Nussknacker“, einem ganz anderen Ballett, und es handelt sich um ein weltberühmtes Tanz- und Musikstück mit diesem fest stehenden Namen.
Wenn es nun in Stuttgart üblich ist, dass man den Walzer des Ensembles in „Dornröschen“ auch „Blumenwalzer“ nennen, so sollte der aktuelle Ballettintendant musikgeschichtlich insoweit bewandert sein, dass er das erklären kann.
Das Publikum möchte doch auch ein wenig Bildung.
Also: Den „Blumenwalzer“ von Tschaikowsky gibt es im „Nussknacker“. Der Walzer in „Dornröschen“ heißt hingegen eigentlich einfach nur „Walzer“. Auch in der Partitur ist das so, übrigens.
Blumen stellen die tanzenden Damen und Herren im Ensemble-Walzer in „Dornröschen“ gar nicht dar. Die Damen tragen große Schleifen auf dem unteren Rücken – und keine Blumen am Kostüm. Ihre Partner tragen passende Schleifenschärpen an den Hüften. Nix da Blumen.
Nur die Kinder, die im Hintergrund hereinmarschieren, tragen in dieser Inszenierung von Marcia Haydée große Rosenbögen mit sich. Der Walzer hat aber mit den Blumen trotzdem nichts zu tun. Und es ist nicht schön, wenn man vergisst, was der bekannte „Blumenwalzer“ im „Nussknacker“ ist.
Warum sollte so etwas egal sein?
Ein Minimum an Bildung dürften doch auch die Kids, die hier mittanzen, gern mit nachhause nehmen.
Und es muss wirklich nicht jedes Ballett einen Blumenwalzer haben, nur weil da irgendwo auch Blumen auf der Bühne sind und ein Walzer gespielt wird.
Zurück zum besagten Abend.
Walzerklänge, die Paare bildeten gekonnt ihre Reigen, die Damen zeigten ihre schönen Beine. Und alsbald drehten die Ballerinen wieder ihre Pirouetten und absolvierten die Herren wieder ihre Sprünge, als sei nichts geschehen.
Eiserne Nerven sollte man als Leistungsprofi eben haben, und das Stuttgarter Ballett hat hier offenbar keinen Mangel.
Elisa Badenes als Prinzessin Aurora tanzte sich die Seele aus dem schönen Leib, war bravourös und perfekt, dabei so mädchenhaft und naiv in der Ausstrahlung, wie sie es in ihrer Partie zu sein hat.
An ihrer Seite brillierte David Moore mit bewährtem Bubencharme, und niemand würde es ihm vorwerfen, sollte er öfter als ein Mal einen Schritt zuviel in eine Kombination einlegen. Er hat einfach Sexiness.
Miriam Kacerova muss als Fliederfee allerdings noch ein bisschen üben oder sollte schlichtweg umbesetzt werden: Sie war jetzt zu steif und bieder, um in der Rolle als souveräne, schmetterlingshafte Helferin in jeder Not zu überzeugen.
Absolut überragend war jedoch Jason Reilly als Carabosse, die böse Fee: Nach seiner umwerfend faszinierenden Leistung als „Onegin“ rotiert Reilly damit schon in der zweiten Hauptrolle in dieser Saison mit Darbietungen im Superlativ – und profiliert sich so als absoluter Weltstar.
Als elegante Dame mit weiß geschminktem Gesicht und schwarzen langen Haaren zum fliegenden, langen Gewand geistert er durch das Stück, um es würzig und hintergründig zu machen. Marcia Haydée, einst Primaballerina, dann Chefin vom Stuttgarter Ballett, kreierte diese Partie als besonderes Zentrum der Aufführung. Um die Achse des Bösen dreht sich hier nämlich alles, so zuckersüß und pastellfarben die sonstige Ausstattung vom genialen Jürgen Rose auch ist.
Jason Reilly macht fasslich, warum die böse Fee hier eine Art abgründig schillernder Mephisto ist und von der guten Seele der Fliederfee leider nur zeitweise besiegt werden kann.
Ach, Reilly! Was für ein Ballerino! Welche Herzhaftigkeit, welcher Schwung, welch ein Charakter in der Darstellung! Und was für eine Bandbreite hat Jason Reilly… uns fällt kein männlicher Tänzer ein, der da mithalten könnte. Bravo!
Christian Pforr, vielversprechender Newcomer, ist nun noch nicht auf so hohem Niveau angekommen, lieferte aber einen superbe springenden Blauen Vogel ab, flankiert von Jessica Fyve als seiner Prinzessin, die in vielen anderen Versionen dieses Balletts den schönen und heiteren Namen Florine trägt.
Die Kinder gaben im übrigen ihr Bestes, trotz der Extra-Portion Aufregung an diesem Abend. Allerdings traten zunächst nur sieben Kids von zwölf auf, schließlich nur noch sechs. Es war wohl halt doch für manche alles ein bisschen zuviel.
Am Ende kam aber sogar Marcia Haydée, die Heilige vom Stuttgarter Ballett, auf die Bühne und nahm Blumen und Referenzen entgegen.
Und nur die Musik war – obwohl sich das Stuttgarter Staatsorchester anstrengte – nicht das, was man in einem solchen Opernhaus verlangen kann.
Etliche Passagen im Dirigat von Maria Seletskaja – die mal Primaballerina im Königlichen Ballett von Flandern war – wirkten, als seien sie gänzlich ungeprobt.
Elisa Badenes tanzte, die Musik spielte – aber gehörte hier beides wirklich zusammen? Ein wenig hatte man den Eindruck eines avantgardistischen Experiments, was sicher nicht beabsichtigt war.
Sowas kann passieren, wenn man seinen Musikdirektor mal eben fristlos feuert und dann nur noch mit dessen Anwalt zu tun hat. Vermutlich nennt man das im Schwabenland in den höheren Kreisen einen sinnvollen Umgang mit Künstler:innen und Steuergeldern.
Die Stuttgarter Medien sind nun gefordert, die Sache mit Agrests Kündigung endlich auch der örtlichen Politik vorzutragen.
Bei der Gelegenheit könnte man auch erörtern, ob es wirklich Zufall war, dass keine zwei Tage nach Bekanntwerden des spektakulären Rauswurfes des Stardirigenten gleich die erste Ballettvorstellung von angeblichem Feuerzauber begleitet war.
Immerhin beschert dieser zügig gemeisterte Unfall dem Stuttgarter Ballett ganz sicher viele Gefühle von Mitleid und Bewunderung, und solche sind wiederum hervorragend geeignet, um von der Inkompetenz von Tamas Detrich, das Stuttgarter Ballett zu führen, abzulenken.
Lässt sich das Stuttgarter Ballett nun demnächst in der Lokalpresse feiern, weil es bei falschem Feueralarm so hervorragend zu reagieren weiß?
Das wäre ja so peinlich. Aber es würde zu Detrichs Strategie, bei Problemen stur wie ein Roboter zu reagieren, wirklich gut passen.
Gisela Sonnenburg (Informant: Boris Medvedski)