Ballette nach Stücken von Tennessee Williams gibt es selten. John Neumeier wartete jahrelang auf die Möglichkeit dazu. Erst, als der suchtkranke Dramatiker Williams am Verschluss einer Hustensaftflasche erstickte, konnte Neumeier – bei den Erben des glamourösen Williams – die Lizenz für die „Endstation Sehnsucht“ erwerben. Dann ging alles ganz schnell: Innerhalb weniger Monate entstand 1983 ein Ballett, das inhaltlich und formal so einzigartig wie wegbereitend war.
DIE BESONDERHEITEN
Aber was heißt hier schon Ballett? Darin wird gerufen, gepfiffen, gesungen, geschossen. Es ist also eher „Ballett-Theater“ als typischer Tanz, was John Neumeier, der sicher bedeutendste lebende Choreograf, sich in der Sommerpause 1983 für die Stuttgarter Star-Megäre Marcia Haydée einfallen ließ. Marcia, gebürtige Brasilianerin, war weltberühmt und hungrig auf Neues. Und der von ihr einst in London als Tänzer entdeckte Neumeier bot ihr nur zu gern dieses Zuckerstück an. Gilt sie doch als seine bedeutendste Muse jener Jahre. Unter Neumeiers entschiedener Hand wurde Marcia auf der Bühne zur Hauptperson der „Endstation“: der langsam durchdrehenden Südstaatenbraut Blanche.
Im Februar 1983 starb Williams in seinem New Yorker Appartement, umgeben von Alkoholflaschen und Medikamenten. Es war der 25.2., nur ein Tag nach dem Geburtstag von Neumeier. Der Dramatiker und High Society Darling Williams hatte die Rechte zur „Vertanzung“ seiner „Endstation“ exklusiv an die ihm bekannte Tänzerin und Choreografin Valerie Bettis und deren Erben gegeben. Von weiteren Realisierungen wollte er nichts wissen – Neumeier hatte mehrfache Versuche gestartet, ohne Ergebnis. Nach Williams’ überraschendem Tod legte Neumeier dann sofort los. Im Sommer war der Weg juristisch frei – und der Chef vom Ballett der Hamburgischen Staatsoper, wie es damals offiziell hieß, reiste für eine Recherchereise nach New Orleans. Dort hatte Tennessee das weltberühmt gewordene Stück über die verlorenen Illusionen einer Südstaatlerin verfasst, 1947 war das. Vorbild für die Rolle der Blanche war unzweifelhaft Williams’ Mutter: Auch sie entstammte einer einst reichen, dann aber verarmten Südstaatler-Familie, auch sie wurde als erwachsene Frau sexuell misshandelt. Tennessees Vater ist das Vorbild für den gewalttätigen Trinker Stanley.
UNTERSCHIEDE ZUR VORLAGE
Im Ballett von Neumeier spielt der Alkohol allerdings kaum eine Rolle, dafür ist die Vergewaltigung, die Stanley an Blanche vornimmt, in einem bedrückend-expressiven Pas de deux auf und unterhalb von Blanches Bett en detail choreografiert. Das hatte es bis dahin so noch nicht gegeben – ein Psychodrama inklusive Vergewaltigung als Ballett. Für beide Bühnenkünstler – für den Darsteller des Stanley wie die Tänzerin der Blanche – ist die Szene eine intensive Gelegenheit, ganz andere Facetten von sich zu zeigen als beispielsweise in „Dornröschen“ oder auch in Neumeiers „Kameliendame“. Die dunkle, düstere Seite des Lebens und der Lebenstriebe bricht sich hier choreografisch Bahn – ohne plump oder gar pornografisch zu wirken.
EIN BRILLANTES MEISTERWERK
Ein brillantes Meisterstück ist die „Endstation Sehnsucht“ aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil die handelnden (tanzenden) Personen ein dichtes Geflecht an glaubhaften Beziehungen ergeben. Da ist Blanche, die mal glücklich verliebt war, am Tag ihrer Hochzeit aber feststellen musste, dass der Bräutigam bisexuell war und sogar während der Hochzeitsfeier einem heftigen Flirt mit einem Mann nachging.
Da ist ihre Schwester Stella, die den auf den ersten Blick tüchtigen, potenten Stanley geheiratet hat, der jedoch nicht nur ein einst gefeierter Boxer ist, sondern auch ein gewalttätiger Säufer. Blanche erregt ihn, provoziert ihn, aus einer aufgeladenen Stimmung wird eine Vergewaltigung, an der die ohnehin angeschlagene Seele von Blanche endgültig zugrunde geht. Sie landet in der Irrenanstalt, wo sie entrückt in eine andere innere Welt flüchten kann.
Dieses Ende ist natürlich typisch für die Entstehungszeit des Werks. Heute würde man eine sexuell traumatisierte Frau nicht unbedingt für wahnsinnig erklären – und man würde das schon gar nicht in einem Drama propagieren. Vielmehr würde man in einem heutigen Stück den Täter für verrückt erklären, ihn sich umbringen lassen oder ihn für haft- und therapiewürdig befinden. Nun ja. Die Frage ist, was näher an der Realität dran ist – die Propaganda gegen emanzipierte Frauen von 1947 oder die Propaganda für emanzipierte Frauen von heute. Auch heute noch gibt es, auch in der westlichen Zivilisation, viel zu viele Fälle von sexueller Gewalt, deren Konsequenzen dem Schicksal Blanches eher ähneln als einer opferfreundlicheren Lösung.
Von daher bietet die „Endstation Sehnsucht“ auch heute noch viel Zündstoff, und zusätzlich hat Neumeier in seinem Ballett die latente Homosexualität der Gesellschaft heraus kristallisiert.
DIE VORGESCHICHTE
Der Titel bezieht sich übrigens auf das Ziel einer Straßenbahnlinie, im Original heißt das Stück denn auch: „A Streetcar named Desire“. Das filmische Vorbild der „Endstation Sehnsucht“ mit Marlon Brando durfte John Neumeier allerdings wenig beeinflusst haben. Ebenso waren für seine Arbeit die Theaterstars, die mit der Paraderolle schon reüssierten, eher unwichtig. Zuletzt reüssierte übrigens Isabelle Huppert in einer stark ästhetisierten Inszenierung von „Un Tramway“, 2010 war das, am Odéon in Paris.
Der amerikanische und wie Neumeier homosexuelle Dramatiker Tennessee Williams (1911-1983) war allerdings nicht für die Neumeiersche Tanztheatralisierung zu haben. Er hatte die exklusiven choreografischen Rechte an Valerie Bettis abgegeben. Erst nach beider Tod bekam John Neumeier grünes Licht. Es blieb ihm gerade Zeit, die Vorarbeiten zu organisieren und die Proben einzurichten, um das Stück im Dezember des Jahres in Stuttgart uraufzuführen.
Es wurde ein Renner, trotz der „unfreundlichen“ Handlung mit der Endstation Klapsmühle – und trotz der akustischen Strapaze, keine eingängige ballettöss „Humtata“-Musik zu hören, sondern, unter anderem, die erste Sinfonie von Alfred Schnittke. Das enervierende, in seiner Dichtheit aber fesselnd berückende Musikerlebnis wird von Neumeier als nachgerade zwingend für sein Mississippi-Piece empfunden. Weil darin dissonante Zwölftonmusik mit Jazz-Passagen wechselt. Ein typischer New-Orleans-Mix. Denn wo, wenn nicht in Südstaaten, kommt Jazz so wunderbar schlampig und dennoch existenziell ernstgenommen einher, dass man ihn atonaler E-Musik als ebenbürtig empfindet?
Das gilt auch noch heute: Der Sturm Katrina, der 2005 die Stadt am Mississippi-Delta verwüstete, konnte den jazzigen Charme der Metropole wenigstens nicht ganz vernichten.
DIE PERSONEN
Die Kunst-Figuren, die sich in der „Endstation“ bewegen, sind ebenso untypisch wie die Musik: Blanche hat eine große Zartheit, sie strahlt Vornehmheit, Reinheit, Stärke, Sanftmut aus. Sehr erotisch. Stanley hingegen hat etwas unwiderstehlich Biestiges. Er ist muskulös, agil – und von animalischer Triebhaftigkeit. Ein Mephisto, ein gefallener Engel, ein Dämon. Adam nach dem Sündenfall. Richard Cragun war bei der Uraufführung hier die optimale Besetzung.
Zusammen bildeten sie das seltsamste Paar der Ballettgeschichte: Blanche DuBois und Stanley Kowalski in Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ verbindet nicht nur Hass und Gewalt, sondern auch eine eigenartige Anziehungskraft. Es ist ja nicht leicht, den inneren und äußeren Abstieg einer Südstaaten-Familie als Collage zu zeigen. Da spielen auch die innerfamiliären Beziehungen eine Rolle. Dabei stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, eine Vergewaltigung in einem Ballett auf der Bühne zu zeigen? Neumeiers Künstler können es.
Die Handlung ist mit Alptraum-Equipment, einem bewährten Neumeier’schen Libretto-Element, gepeppt: Blanche scheitert, als sich ihr Bräutigam als schwul oder bisexuell entpuppt. Innig verliebt küsst er einen Mann, am Tag der Hochzeit. Blanche sieht das – und es bricht ihr alles weg: Die Familie, die Ehre, die Gebilde aus Hoffnung, die sie für ihre Zukunft hielt. Sie besucht dann später ihre Schwester, unglücklicherweise, denn dort trifft sie auf ihren Schwager Stanley. Die Straßenbahnhaltestelle heißt nicht ohne Grund „Endstation Sehnsucht“. Denn Stanley, der die verrohte männlich-geile Kraft verkörpert, nimmt keinerlei Rücksicht auf die angeschlagene Libido der schönen Blanche. Er sieht das melancholische „Püppchen“ und wird scharf. Sie flirtet, begreift den Ernst der Lage nicht. Er hält sich nicht zurück. Und zerstört ihr Leben.
IM STÜCK STECKT VIEL AMERIKA, VIEL SCHÖNHEIT, VIEL LEID
In der Irrenanstalt wird sie den Alp von der Vergangenheit nicht los, eine traumatisierte femme fatale. Dennoch hat man das Gefühl: In einer besseren Welt wären sie und Stanley ein Paar. Aber eine bessere Welt hätte Blanche vielleicht vor noch ganz anderen Erfahrungen und Ängsten bewahrt. In der Kunst zählt letztlich, wie und warum ein Untergang sich vollzieht: hier so surreal-verrückt wie aufrüttelnd.
Im Stück steckt viel Amerika, viel Schönheit, viel Leid – und mit dem Kontrast der beiden Antipoden Blanche und Stanley auch das Bestienhafte, das Tennesse Williams mit der Figur des Stanley beispielhaft zeigen wollte. John Neumeier hat aus dieser Melange ein fesselndes und sogar zeitloses Tableau des kapitalistisch geprägten sozialen Untergangs gemacht: Seine Figuren stehen zugleich für sich und für alle, die ihnen ähnlich sind.
DIE NEUEN BESETZUNGEN
Besonders freuen sich die Stuttgarter jetzt auf die Besetzung der Blanche mit Alicia Amatriain: Die als Alleskönnerin geltende Startänzerin wandelte schon in vielen Rollen höchst begabt auf den Spuren von Marcia Haydée. Jetzt gibt sie als Blanche ihr Debüt, nachdem Bridget Breiner, die heute Ballettdirektorin in Gelsenkirchen ist, vor rund zehn Jahren in Stuttgart diese Rolle tanzte.
Ganz neu besetzt ist auch die Stella, Blanches Schwester: mit dem Shooting Star Elisa Badenes, die schon als Titelfigur in „Giselle“ ihr eigenartig-ätherisches Flair unter Beweis stellte.
Stanley wird – natürlich – getanzt von Jason Reilly, der ein stark-dominanter Tänzer mit fast unerhört männlichem Charme ist. Schon wegen ihm wird sich der Besuch einer Vorstellung lohnen!
Gisela Sonnenburg
WA am 30. Mai, dann wieder am 2., 4., 17. und 19. Juni im Schauspielhaus in Stuttgart