Liebe Freunde… Das Stuttgarter Ballett zeigt mit „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins und „Initialen R.B.M.E.“ von John Cranko den Abend „Begegnungen“ – aber ein Stück von John Neumeier würde auch sehr gut dazu passen

"Begegnungen" locken zum Stuttgarter Ballett

Ein Blick auf die Homepage vom Stuttgarter Ballett verrät den Titel des Programms mit tänzerischer Aktion: „Begegnungen“ fasst derweil zwei Ballette zusammen. Die Szene im Bild zeigt einen Moment aus „Initialen R.B.M.E.“ von John Cranko. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wenn ein Choreograf ein Ballett nach seinen Tänzern benennt, dann muss es damit eine Bewandnis haben. John Cranko brachte im Januar 1972 eine Hommage an seine Musen unter dem gar nicht kryptischen Titel „Initialen R.B.M.E.“ zur Aufführung. Die Buchstaben stehen selbstredend für die Vornamen der Cranko-Tänzer Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen. Was aber nicht heißt, dass nur diese vier Spitzenkräfte, die Cranko als Talente entdeckt und zu Weltstars gemacht hatte, in diesem Stück auftreten. Im Gegenteil: Auch das Corps de ballet wird mächtig gefordert, muss zu den Klängen eines Klavierkonzerts von Johannes Brahms zeigen, was es alles drauf hat. Dennoch sind die vier Sätze den vier Temperamenten der Namensgeber der „Initialen“ angepasst – und es ist ausreichend Raum für Soli und individuelle Charakteristika gegeben. Wobei der fünfte Star des Stücks, der mit Marcia Haydée im Paartanz auftrat, extra erwähnt werden muss: Es war Heinz Clauss. Brahms’ Musik ließ für ihn nur noch die Partnerrolle frei. Echte Kenner und Anhänger stört das nicht – das Flair von Cranko ist es, was hier wirken soll, nicht nur das der Tänzer. Die rund 50-minütige, wirklich sehr persönliche Cranko-Arbeit kommt nun unter dem Titel „Begegnungen“ zusammen mit den „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins an einem Abend beim Stuttgarter Ballett einher: ein Programm, das sich ganz den abstrahierten Themenkreisen von Liebe, Freundschaft, Bindung widmet.

Da das Hamburg Ballett die Robbins-Arbeit „Dances at a Gathering“ („Tänze bei einem Treffen“) ebenfalls diese Saison wieder ins Programm aufnahm und der Interpretationsspielraum für die Tänzer hier nur sehr klein ist, wird auf die entsprechenden Hamburger Berichte im Ballett-Journal verwiesen (etwa hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-chopin-dances-robbins-gathering-concert-2017/).

"Begegnungen" locken zum Stuttgarter Ballett

Diese Szene zeigt Alicia Amatriain und Adhonay Soares da Silva in „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins. Foto: Stuttgarter Ballett

Aber die „Initialen R.B.M.E.“ sind eine Stuttgarter Delikatesse per se, auch wenn sie seit ihrer Uraufführung nicht nur auf Gastspielen, sondern auch mit Einstudierungen bei anderen Compagnien viele Wege in die internationale Ballettwelt gefunden haben.

Der Stuttgarter Drive des Stücks beginnt indes bereits mit der Wahl der Musik. Denn das besagte Klavierkonzert wurde vom Komponisten Johannes Brahms 1881 in Stuttgart und somit erstmals in Deutschland aufgeführt.

Cranko wollte Stuttgart mitteilen, dass er seine Kunst gerne dort ausübte.

Das Konzert nun umschmeichelt einerseits sanft die Sinne, hat andererseits aber auch unüberhörbar alarmierende Untertöne und eine Dramatik an sich, wie sie für Brahms selten ist.

Der erste Einsatz des Hauptinstruments im Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur op. 83 ist noch eine harmonische Ergänzung der kurz zuvor elegisch einsetzenden Hörner.

Doch dann wendet sich das musikalische Blatt, und mit großer Dramatik, ja fast Aggression, sticht das Klavier alle anderen Klänge aus, gewinnt an Raum und geriert sich solistisch mit einem Pathos, das man sonst allenfalls von Beethoven kennt.

Richard Craguns männlich-kraftvoller Part im ersten Satz wurde bei der jüngsten Stuttgarter Premiere vom Nachwuchstalent Adhonay Soares da Silva getanzt. Die mehrfachen Tours en l’air darin machen dem jungen Ballerino selbstverständlich keine große Mühe; es ist indes immer wieder verblüffend zu sehen, wie wenig sich eine gewichtige Choreografie im Ausdruck durch ihre technische Potenzierung verändert.

Elisa Badenes ist dann im zweiten Brahms-Satz genau die Richtige, um den hehren, klaren Stil von Birgit Keil neu zu interpretieren. Erhabenheit und Sehnsucht gehen darin eine explosive Ehe ein… und die Musik unterstreicht dieses musterhaft. Es ist ja nicht so, dass nur Tschaikowsky dem romantischen Drängen musikalisch zum Wohl verhelfen konnte.

Der schönste Satz ist dennoch der dritte, er ist Marcia Haydée und Heinz Clauss zugeeignet. Welches heutige Stuttgarter Bühnenpaar, wenn nicht Alicia Amatriain und Friedemann Vogel, konnte nun darin triumphieren?!

Für diese beiden Hochkaräter, die seit langem aufeinander eingespielt sind, sind die exaltierten Hebungen und feinfühligen Ports de bras dieses Stücks eine reizende Herausforderung!

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Und noch einmal Alicia Amatriain – dieses Mal in luftiger Höhe über Friedemann Vogel, im dritten Satz von „Initialen R.B.M.E.“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. So wunderschön zu sehen im Abend „Begegnungen“. Foto: Stuttgarter Ballett

Die Liebe, sie ist und bleibt ja ein Mysterium, in solch einem Ballett erst recht, und es ist eine tiefe Lust, ihre Rätselfragen von exzellenten Solisten tänzerisch immer wieder aufs Neue gestellt zu sehen.

Und dann erhielt noch ein Newcomer die Chance, sich bei der Premiere allerbest zu präsentieren: Moacir de Oliveira, dessen Bruder Murilo de Oliveira seit kurzem beim Staatsballett Berlin reüssiert, darf das hurtige, schnelle Allegro tanzen, das ursprünglich von Egon Madsen kreiert wurde. Es zeigt allerdings auch die Vielseitigkeit Madsens und seiner Rollen-Nachfahren, die hier alle Lyrik und alle Selbstdisziplin in rasch gesprungene Läufe legen müssen. Was ein Extra-Bravo wert sein darf!

Natürlich passen die auch farblich beide recht zart wirkenden Stücke „Dances at a Gathering“ und „Initialen R.B.M.E.“ gut zusammen.

"Begegnungen" locken zum Stuttgarter Ballett

Und noch ein weiterer Einblick in die „Begegnungen“ beim Stuttgarter Ballett. Die Corps-Szene hier entstammt den „Initialen R.B.M.E.“ – denn was sind Solisten schon ohne Ensemble? Faksimile von der Homepage der Truppe: Gisela Sonnenburg

Jürgen Rose schuf ja für die „Initialen“ eine an die alte asiatische Malerei erinnernde Farblandschaft, gleichsam als Referenz an das Aquarell zu jenen Zeiten, bevor Emil Nolde es revolutionierte. Diese Farbgebung ergänzt formal die inhaltliche Ähnlichkeit der beiden Stücke, die jedes auf seine Weise die Intensität und Qualität enger menschlicher Beziehungen abklopfen.

Da spielen Konkurrenz und Wettbewerbsdenken in beiden Stücken eine Rolle, ebenso die Annäherungen von Mann und Frau durch das verspielte Miteinander. Aber auch Frauenfreundschaften und Männerbünde entwickeln sich vor den Augen des Zuschauers – ohnehin ist dieses eine ballettöse Essenz, könnte man sagen.

Tänzer „begegnen“ sich nun mal eher, als dass sie irgendwie aufeinander treffen oder nebeneinander herleben.

Dennoch gibt es ein Ballett aus der jüngeren Tanzgeschichte, das womöglich noch viel besser zu den „Initialen R.B.M.E.“ passen würde als das Robbins-Stück. Das Ballett, das ich meine, entstand nach Musik von Lera Auerbach, der lebenden russisch-amerikanischen Komponistin, und heißt „Préludes CV“. Es wurde von John Neumeier 2003 für sein Hamburg Ballett choreografiert (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-preludes-cv/).

Darin tauchen die Namen der uraufführenden Tänzer als Rollenbezeichnungen auf, von SILVIA wie Silvia Azzoni über CARSTEN wie Carsten Jung bis zu LLOYD wie Lloyd Riggins und HEATHER wie Heather Jurgensen (die heute Ballettmeisterin in Kiel ist). Und wie das Cranko-Initialen-Stück ist auch „Préludes CV“ eine innige Hommage des Choreografen an seine Tänzer.

Allerdings spielt hierin weniger das vordergründige Ausstellen von besonderen Fähigkeiten der Solisten die Hauptrolle als vielmehr das forschende Ergründen ihrer charakterlichen Eigenarten. Die wechselnden Beziehungsgeflechte nach dem Motto „wer liebt gerade wen auf welche Art?“ sind einerseits spritzig auf den Punkt gebracht, andererseits hochempfindsam aufgefächert.

"Begegnungen" locken zum Stuttgarter Ballett

Silvia Azzoni und Alexandre „Sascha“ Riabko so innig wie passioniert in „Préludes CV“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Da Neumeier sich damit nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal indirekt von Cranko beeinflusst und inspiriert zeigt, lohnt es sich, die beiden Ballette als aufeinander folgende, ja nachgerade auseinander erwachsende künstlerische Exzerpte zu imaginieren.

Ob es uns vergönnt sein wird, beide mal an einem Abend zu sehen?

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Bis dahin trösten so viele Abende in Stuttgart und Hamburg die Ballettseligen, dass ihnen die Wartezeit hinlänglich versüßt wird.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe Spielplan

www.stuttgarter-ballett.de

www.hamburgballett.de

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