Angehäufte Tanzjuwelen Mit der „Ballettwoche“ bietet das Stuttgarter Ballett etliche moderne Hochkaräter am Stück - aber manches fehlt auch

"Mayerling" verschärft

Nostalgische Begegnung mit der ehemaligen Geliebten: David Moore als der tragische Kronprinz Rudolf mit Hyo-Jung Kang als die elegante Gräfin Larisch in „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Mit Ballett ist es wie mit Schmuck: Es muss glitzern und glänzen, darf aber keinesfalls überladen wirken. Solche Meisterwerke schufen im ausgehenden letzten Jahrhundert Choreographen wie John Neumeier, John Cranko, Jiří Kylián und Kenneth MacMillan. Die Stuttgarter „Ballettwoche“ bietet ab morgen täglich solche getanzten Juwelen – und  das Stuttgarter Ballett funktioniert damit als brillantes Schlusslicht der diesjährigen deutschen Ballettsaison.

Zu Beginn tanzen die eleganten „Shades of White“ auf: Die weißen Schatten, die der Titel beschwört, setzen sich aus drei Stücken zusammen, die jedes für sich Ballettgeschichte schrieben. John Cranko, der 1973 verstarb, aber der geistige Vater des Stuttgarter Balletts blieb, kreierte sein „Konzert für Flöte und Harfe“ zur Musik von Mozart: als üppiges Sahnehäubchen für zwei Paare und das Ensemble. Die souveräne Primaballerina Alicia Amatriain, ihre zarte Kollegin Ami Morita sowie die beiden männlichen Jungstars Martí Fernández Paixà und David Moore locken in dieses Paradies aus Verspieltheit und Verve.

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Es folgt das entrückte „Königreich der Schatten“ aus dem Ballet „La Bayadère“, angeführt von Elisa Badenes und Adhonay Soares da Silva. Elisa bezaubert mit Charme und Präzision, Adhonay mit Willensstärke und hohen Sprüngen. Und: Das Damenensemble zieht im mit Arabesken gespickten Defilee alle Aufmerksamkeit auf sich, füllt mit berauschender Schönheit die Bühne.

Festlich folgt die „Sinfonie in C“ von George Balanchine: Klassizismus nach Klängen von Georges Bizet. Hier tanzen unter anderem die schon gerühmte Alicia Amatriain und der dramatisch-dynamische Jason Reilly.

Heinrich Heine unterteilte die Kulturgeschichte bekanntlich in Bereiche des Sensualismus, also in sinnliche Aspekte, und in solche des Spiritualismus, des Übersinnlichen. In den „Shades of White“ treffen sich beide Komponenten zu einer Art surreal-schwebenden Supershow.

Im Ballett assoziiert die Farbe Weiß außer dem ballet blanc, das auch in „Schwanensee“ und „Giselle“, in „La Sylphide“ und „Les Sylphides“ wichtige Aufgaben übernimmt, auch den Schmuck von weißer Farbe. Das Weißgold und das Platin, das Silber und den Edelstahl. Natürlich auch die Diamanten von George Balanchine! Aber auch den Bergkristall (und an die Bergkristall-Fee in „Dornröschen“ erinnert man sich nicht nur ihrer entzückenden, ausnahmsweise spitzen Zeigefinger wegen). Und auch der Weiße Pas de deux aus der „Kameliendame“ könnte ein Highlight in einem mehrteiligen Programm sein, das dann zudem Gala-Charakter haben könnte.

Man könnte also glatt eine Serie weißer Ballettabende gestalten…

"Die Kameliendame" - mal wieder unvergesslich

„Die Kameliendame“ von John Neumeier im Höhenflug der Liebe: Alicia Amatriain und Friedemann Vogel im „Weißen Pas de deux“. Foto: Stuttgarter Ballett

Wer für die „Shades of White“ am Samstag in Stuttgart kein Ticket mehr ergattern kann, setzt sich einfach mit der Picknickdecke in den Park vor der Stuttgarter Oper, also in den Schlossgarten, denn dort wird diese Vorstellung kostenlos live übertragen. Für gute Plätze zeitig da sein, um 19 Uhr beginnt das Spektakel. Und das Wetter soll auch mitspielen!

Am 21. Juli, also sonntags, geht es dann schon vormittags los, ebenfalls mit einer Live-Übertragung nach draußen, allerdings ist für Sonntag leider Regen angesagt. Aber ab 11 Uhr zeigt der Nachwuchs von der John-Cranko-Schule, was er drauf hat. Und am Abend geht es – ab jetzt allerdings ohne Park-Übertragung – weiter mit „Atem-Beraubend“, das indes drei etwas einschläfernde zeitgenössische Stücke vereint. Sie sind nur etwas für sehr Geduldige.

Das ist sozusagen der Haken an der Intendanz von Tamas Detrich, der nun – insgesamt sehr erfolgreich – seine erste Spielzeit im Amt bald hinter sich hat:

Er muss noch lernen, einen eigenen Geschmack auszuprägen und dem dann auch zu folgen, statt das als Neuheiten zu präsentieren, was man woanders auch findet, was aber oft genug nur an Protektionen und nicht an Leistungen liegt.

Tamara Rojo (links mittig) mit dem English National Ballet in „Giselle“ von Akram Khan. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Akram Khan etwa, der im Abend „Atem-Beraubend“ ein Stück beigesteuert hat und dessen modern aufbereitete „Giselle“ kürzlich auf 3sat lief,, gibt vor, indischen Tanz, also Kathak, mit Ballett und Zeitgenössischem zu vereinen. Wer sich auskennt, sieht aber, dass er Kathak nur sehr schlecht tanzen lässt, obwohl es dort ebenso viele Regeln wie im klassischen Tanz gibt. Da müssen die Hände auf bestimmte Art und Weise gehalten und gedreht sein, die Arme dürfen nicht einfach irgendwie hin- und hergewedelt werden, und die Fußarbeit ist im Indischen eine eigene Delikatesse, die zu erlernen viele Jahre benötigt.

Was Khan macht, ist: Den Kathak ganz schlecht zu zitieren.

Was den im indischen Tanz geschulten Kenneraugen genau so wehtut wie Ballettomanen, wenn man Ballett schludrig und einwärts, ohne gestreckte Beine und mit krummen Füßen tanzen lässt.

Leider sind im Westen die meisten Menschen und auch Fachleute zu borniert, um sich mit der indischen Tanzkunst genügend auseinander zu setzen. So kommt es dann, dass Dilettanten wie Khan bejubelt werden… PISA gibt es halt nicht nur an den allgemeinen Schulen dieser schönen neuen globalisierten Welt.

Man sollte sein Handwerkszeug aber bitte beherrschen, bevor man sich international hochpushen lässt!

Dem Stuttgarter Niveau viel angemessener wären junge choreografische Meister wie Liam Scarlett, der aus London gefühlt viel zu wenig rauskommt, oder auch, um mal Richtung Osten zu gehen, Yuri Possokhov, der zweifelsohne eines der größten choreografischen Talente unserer Zeit ist und vor allem am Bolschoi in Moskau zu sehen ist.

Liam Scarlett auf der Probe zu seiner „Schwanensee“-Version mit dem Royal Ballet in London. Wann holt ihn endlich mal ein Ballettchef nach Deutschland?! Videostill von youtube: Gisela Sonnenburg

Aber auch Aszure Barton – um ein führendes weibliches Choreografie-Talent zu nennen – und Xenia Wiest – dito! – könnten mit den hervorragenden Stuttgarter Tänzern wohl viel mehr anfangen als Akram Khan, Itzik Galili und Johan Inger es in „Atem-Beraubend“ tun, was zur Freude des Publikums wäre.

Da müsste Tamas Detrich nur mal eben kurz über seinen Schatten springen, und das dürfte ihm als ehemaligen Ballerino doch bitte nicht allzu schwer fallen…

Solange ein hochwertiges Profil im neu kreierten Bereich aber fehlt, guckt man dann doch etwas skeptisch in die ballettöse Zukunft Deutschlands.

Zumal Liam Scarlett und Yuri Possokhov so gut wie nie hier zu lande zu sehen sind. Dabei wären sie die Überbringer von Juwelen mit absoluter Magie!

Aber am Montag und Dienstag brausen auch in Stuttgart die Gemüter wieder glücklich auf, denn dann zelebrieren „Romeo und Julia“ im Cranko-Ballett ihre Liebe. Der treuherzige David Moore und die leidenschaftliche Anna Osadcenko sowie der dramatische Jason Reilly und die rührende Hyo-Jung Kang tanzen das zu Tode verliebte Teenagerpärchen.

Ebenfalls als Doppelpack kommt „Die Kameliendame“ von John Neumeier einher, am 25. und 26. Juli: ein absolutes Megaballett, von vielen Fans gefühlt unendlich oft gesehen und jedes Mal noch mehr geliebt. Und das seit 1978. Denn die Liebesgeschichte einer Luxushure hat es in sich: Passion, Krankheit, Tragik und seelische Schönheit vermischen sich zu einer Melange, die das Leben feiert und mit der Liebe stirbt. Alicia Amatriain mit Friedemann Vogel sowie Miriam Kacerova mit Martí Fernández Paixà reißen hier mit.

Feinfühlig, modern und würdevoll: Miriam Kacerova vom Stuttgarter Ballett in „One of a Kind“ von Jiri Kylián. Foto: Stuttgarter Ballett

Und es gibt noch ein ganz anderes Highlight: „One of a Kind“ von Jiří Kylián, das 1998 in den Niederlanden als getanztes Manifest der Menschenwürde entstand. Inspiration lieferte der erste Artikel der Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Erotik spielt dennoch oder gerade deswegen eine Rolle. Wer modernes Ballett auf hohem Niveau genießen möchte, sollte sich diese Tour de sentiment von 20 Tänzerinnen und Tänzern nicht entgehen lassen.

Dazu passt, dass die BBTK, die Bundesdeutsche Ballett- und Tanztheaterdirektoren-Konferenz, kürzlich eine Resolution gegen Rassismus und Machtmissbrauch verabschiedete. Gerade in Stuttgart versuchte nämlich die AfD, mit Fragen bezüglich der verschiedenen Nationalitäten der an der Oper Beschäftigten selbigen das Wasser abzugraben – bislang zum Glück umsonst.

Zumal zum Saisonende „Mayerling“ von Kenneth MacMillan erneut begeistert, in der neuen Ausstattung von Jürgen Rose. Im Mai hatte das nach einem Jagdschloss in der Nähe von Wien benannte Ballett über den Untergang der österreichischen Monarchie seine Premiere in Roses neuen Gewändern, wurde auch hier im Ballett-Journal reichlich und in allen Besetzungen belobigt – und am 28. Juli beendet es ab 18 Uhr die Spielzeit.

Doch einige Stunden vorher, um 11 Uhr, gibt es für Wissbegierige noch einen wichtigen Termin: Rose, eine wandelnde Legende, spricht über seine Neukreation der Kostüme. Vielleicht erzählt er auch von Plänen, weitere Ballette neu auszustatten? Bei manchen, die er kultverdächtig mit Kulissen und Kleidern versah, gliche das in den Augen der Fachwelt wohl allerdings einem Frevel…

"Mayerling" in neuem Gewand

Wunderschöne Linien, ausdrucksstarker Tanz: Weltstar Friedemann Vogel im neuen Outfit von Jürgen Rose als Rudolf in „Mayerling“ – zum Ergötzen! Foto: Stuttgarter Ballett

Mayerling“ hat Rose dieses Jahr ja auch erstmals bestückt – ein Unterschied zu seinen anderen Glanzstücken wie „Der Nussknacker“, „Romeo und Julia“, „Ein Sommernachtstraum“, „Die Kameliendame“ und „Onegin“ (der einzig in diesem schönen Reigen von Meisterwerken auf der „Ballettwoche“ fehlt). Dafür hatte Rose für „Mayerling“ sozusagen Spezialbedingungen und konnte sich deutlich länger als üblich der Recherche und Anfertigung der zahlreichen Requisiten, Prospekte und vor allem Kostüme widmen.

Auch hier gilt, wie bei Schmuck und Ballett überhaupt: Es kann gar nicht genügend Details geben, aber auch das Gesamtbild muss überzeugen. Und wie das in diesem Fall funkelt!
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

 

 

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