Seit Neuestem hat Nacho Duato, Ballettintendant in Berlin, ein Fahrrad. Er werde es sogar benutzen, versicherte er mir, schon, um dadurch seine immensen Kosten für Taxi-Fahrten zu reduzieren. Seine Truppe, das Staatsballett Berlin, überreichte ihm das Rad mit Verehrung: auf dem Premierenempfang nach dem Programm „Duato / Kylián“ im Berliner Schiller Theater. Um sich für die erste Kreation des Meisters für seine Berliner Künstler zu bedanken! Gegenseitiges Vertrauen war dabei notwendig, für das neue Werk noch mehr als für das Geschenk.
Drei Stücke vereint der neue Abend, er beginnt mit der Uraufführung von Nacho Duato. „Static Time“, statische Zeit, heißt sie und benutzt sowohl klassische Musiken von Mozart, Rachmaninow und Schubert als auch moderne Sentenzen des Mozart-Experten Pedro Alcalde und dessen Co-Komponisten Sergio Caballero. Dieses Tonsetzer-Duo hat seit 2004 schon öfters für Nacho Duato komponiert, die vorliegende Arbeit ist die siebente. Die Staatskapelle, soviel sei vorweg gesagt, spielt auf absolutem Weltniveau die schwierigen Stücke des Abends; der Dirigent Pedro Alcalde interpretiert somit auch seine eigene Komposition.
Begonnen hat die Kooperation von Alcalde und Duato übrigens in Madrid: als der vielseitige Alcalde, der promovierer Musikwissenschaftler und Philosoph ist, aber auch als international beschäftigter Dirigent arbeitet, die Premiere von Duatos „Romeo und Julia“ dirigierte. Bis 2010 war er dann Musikalischer Leiter von Nachos Spanischem Nationalballett.
„Static Time“, die „statische Zeit“, beginnt mit einem Männerduo, das Freundschaft und Rivalität, Zueinanderstehen und Sichbekämpfen, Leben und Tod verkörpert.
Dominic Hodal, in dunkler Strumpfhose ohne Shirt, liegt regungslos links vorne auf der Bühne. Einzelne Flötentöne schwellen an, sie sensibilisieren, gehen aber auch auf den Geist. Arshak Ghalumyan, in einen grauen Anzug gewandet, kommt von hinten, wo eine Art Skulptur wie eine moderne Bauruine steht (Bühnenbild: Jaffar Chalabi).
Arshak läuft nach vorne, stürzt sich auf den immer noch verletzlich wirkenden, reglos da liegenden Hodal. Den bringt der ungestüme Partner zum Erwachen!
Ein langsames Ringen und Kämpfen der beiden Männer beginnt, ein Diskutieren mit den Körpern. Mal hat er eine die Oberhand, dann der andere. Ghalumyan sitzt kurz auf den hoch gestellten Knien des liegenden Hodals, wie auf einem Hocker – den Kopf wie Rodins „Denker“ verzweifelt aufgestützt. Wieder stehend, setzt er dann einen Fuß auf die Schulter des auf dem Bauch liegenden Dominic, wie im versuchsweise ausprobierten Triumph über eine Beute.
Dann dreht sich das Verhältnis um: Dominic Hodal wird der Überlegene, der den anderen für sich benutzen kann; es gibt Hebungen, Rollen am Boden, ein Drunter und Drüber und Miteinander wie aus einem Guss.
All das geschieht in rasantem, aber nicht überdreht wirkenden Tempo sowie mit einem Höchstmaß an Geschmeidigkeit. Keine Bewegung wirkt eckig; alles ist rund und organisch und wie von einer inneren Zwangsläufigkeit getragen.
Diese Pas de deux bilden die Kerne des Stücks „Static Time“, und es sieht so aus, als verkörperten sie die grundsätzlichen Gegensätze, die Dichotomien, des Lebens. Die barocken Allegorien, mit denen man Salzfässer, Kirchenkanzeln und Gartenkunst bestückte, haben somit moderne Pendants.
Der Tod steht dabei unvermeidlich am Ende als Zielpunkt da, aber ohne ein großes Drama zu sein, also ohne – als tiefster Grund von allen – seinen Schrecken als Novität zu feiern. Er war ja schon von Beginn an dabei in diesem Stück, er ist allen Dingen immanent. Das Ende als Ziel des Seins.
Der Weg dorthin ist deshalb nicht weniger ergiebig und auch nicht unwichtig in seinen Details. Aber er hätte kein Ziel und keine Dringlichkeit, wäre die Sterblichkeit nicht der stete heimliche Antrieb zu jedwedem menschlichen Handeln.
Es geht ums Leben mit dem Wissen, dass alles endlich ist – alles.
„Mein sind die Jahre nicht, / die mir die Zeit genommen; / mein sind die Jahre nicht, / die etwa mögen kommen; / der Augenblick ist mein, / und nehme ich den in acht, / so ist der mein, / der Zeit und Ewigkeit gemacht.“
Diese Zeilen stammen von dem Barockdichter Andreas Gryphius (1616-1664), und der Barock mit seinem überspannten, aber auch sinnlichen Lebensgefühl ist ohnehin das heimliche Leitmotiv in allen Arbeiten von Nacho Duato. Carpe diem, pflücke den Tag, genieße die Gegenwart, aber bedenke des Todes dabei – memento mori!
Später stehen sich Arshak Ghalumyan und Dominic Hodal gegenüber, sinken einander an die Schulter, kullern am Boden, stehen auf, gehen ein paar Schritte. Dominic will Arshak den Arm umlegen, der wehrt ab, immer wieder – eine Geste, die die Harmonie dieser Beziehung nicht unbedingt in Frage stellt, aber die Grenzen neu zieht.
Sie beklettern einander mit der neuen inneren Distanz, als gelte es, ein Problem zu bewältigen. Sie drehen sich umeinander, sind zwischendurch für einige Schritte auch mal synchron, ansonsten in sehr eigenständigen Choreografien.
Vielleicht sind sie Kain und Abel, und der Erschlagene, der am Anfang und am Ende reglos am Boden liegt, ist der moderne Abel.
Nacho Duato erschuf jedenfalls aus seinen beiden mit kreierenden Tänzerpersönlichkeiten – Ghalumyan mit seiner direkten, handlungsaktiven Art und Hodal mit seiner souverän-ruhigen, abwartenden Haltung – zwei Kunstfiguren, die, wie eine personifizierende Allegorie, für das modernde Dasein stehen könnten.
Die beiden Ballerinos nehmen die Aufgabenaufteilung dankbar an, füllen sie mit Emotion und gegenseitiger Verbindlichkeit. Das ist berückend anzusehen, entführt einen in das Reich zeitlos gleich bleibender Beziehungen, wie sie sich Kinder so sehr wünschen. Kontinuität als manifestes Lebensziel, das Miteinanderzurechtkommen auf relativ engem Raum als Hauptaufgabe des modernen Menschen.
Sogar akrobatische Sentenzen, etwa wenn Hodal einen Radschlag vollführt und sich dabei an den Hüften des Partners festhält statt sich mit den Händen auf dem Boden zu verorten, haben hier den Schmelz von Innerlichkeit, von Behaglichkeit fast – und von selbstverständlicher, unaufgeregter Bereitschaft zu absoluter Aktivität.
Der Stillstand der Zeit, den der Titel „Static Time“ nahe legt, ist dialektisch gemeint und zielt keineswegs auf Standbilder oder eingefrorene Momente ab – vielmehr entfächert sich unterm Mikroskop des Choreografen, der jede körperliche Kleinigkeit untersucht und mit Bewegung behandelt, ein Kosmos aus Abfolgen, Posen, Interaktionen.
Es geht sozusagen um das unsichtbare Leben im Wassertropfen, um jene Urzellen, die zu Beginn und am Ende des Seins stehen. Energie und kleinste Lebensformen, aber auch das Wirken der naturalen Kräfte sind in dieser Choreo verewigt.
Zum Teil hat sie den Zauber einer Anfängerarbeit, weil so wenig effekthascherisch und so puristisch auf die Menschlichkeit der Tänzer gesetzt wird. Weder werden sie übererotisiert noch in ihrer körperlichen Muskelkraft heroisiert. Dennoch entwickelt das Stück einen stark sinnenhaften Flow, der mitreißt und mit in eine andere Welt trägt, in der Probleme lösbar und das Ende – der Tod – kein erbarmungsloser Schnitter mehr ist, sondern eine hinzunehmende Tatsache.
Doch zuvor entstehen beeindruckende Bilder. Musikalisch liefern sich Klavier und Cello gerade ein hartes Duell, als Arshak und Dominic sich unter der wandelbaren Bühnenskulptur von Jaffar Chalabi einfinden. Dieses Konstukt hat sich durch Dreh- und Hebebewegungen vom Teilbuchstaben zu einer Art Dach und Säule gemausert. Dort stehen die zwei jungen Männer und warten, dass die Welt sich weiter verändert.
Aber nichts passiert. Sie sind zurückgeworfen auf sich, auf ihre Zweiheit, auf ihr Miteinander. Fast ist es wie ein aggressiver Liebesakt, was sie dann miteinander machen. Dominic bleibt reglos liegen, auf dem Bauch. Er ist der Geopferte, der sich zurückzieht ins Totenreich, in die Gefilde des Schweigens, aus denen er einst kam.
Man erinnere sich: Auch zu Beginn des Stücks lag er am Boden, reglos, wie verstorben, er wurde erst durch die Beziehung zum Tanzpartner lebendig. Und vielleicht war alles nur Erinnerung, was wir gesehen haben.
Was ich hier wie einen einzigen Pas de deux geschildert habe, ist unterbrochen von Sentenzen von und mit anderen Tänzern und Tanzgruppen. Denn die Dramaturgie des Stücks funktioniert in doppelter Hinsicht: Die mit moderner Musik bezeichneten Stücke könnten auch für sich stehen, sie bilden dann diesen Männerpaartanz, der den Kern des Balletts ausmacht.
Eingefügt – und zwar mit organischen Einblendungen, keineswegs mit harten Brüchen – sind die Adagio-Tänze zu Mozart, Rachmaninow und Schubert als eine zweite Ebene, die ebenfalls für sich stehen könnte. Diese Stücke würden „als Inseln aus einem gemeinsamen Meer“ hervor ragen, verlautbart das Programmheft – und das geht so:
Da ergeben sich Pas de trois mit selbstbewusst-selbstvergessen tanzenden Frauen wie Giuliana Bottino, Elisa Carrillo Cabrera und Anastasia Kurkova. Arshak Ghalumyan macht in den Passagen, in denen er sich von Dominic Hodal gelöst hat, weiter führende Erfahrungen; paarweise, im Terzett, auch ohne Kampf und Übertrumpfung.
Das Verhältnis der Geschlechter zueinander wird immer wieder neu definiert. Da springt das Mädchen am Jungen hoch, klebt für einen Moment wie magnetisch befestigt auf seiner Brust, dann lässt er sie wie auf einem Sprungbrett dort abfedern.
Ein anderes Mal geht ein Sextett aus Tänzerinnen und Tänzern wie in Zeitlupe gegen starken Wind. Ty Gurfein, Sacha Males und Wei Wang bilden die männlich-anmutige Verstärkung. Dazu scratchen die Streicher aus dem Orchestergraben, als bahne sich ein Jahrhundertunwetter an.
Die Gruppe bildet dann ein Knäuel, einen Reigen. Sie biegen die Rücken und lassen sich anscheinend emotional fallen. Schließlich robben alle am Boden entlang, hübsch auf die Bühnenfläche verteilt wie Dekorstücke auf ein Tablett.
Die Kostüme von Angelina Atlagic, der in Belgrad ausgebildeten Spezialistin, die fest zum imaginären Teamkosmos von Nacho Duato gehört, betonen die festliche Heutigkeit, die das Stück bei allen Barockbezügen transportiert. Da ist nichts nur beliebig, aber alles hat die Assoziation von Zufall – eine gewisse Flippigkeit paart sich mit existenzialistischer Einfachheit.
Manchmal ergibt sich eine Hebefigur am Boden: Ein Mann, auf dem Rücken liegend, streckt die Beine von sich, auch in die Höhe, während auf ihm eine Frau liegt, die ebenfalls die Beine sternförmig abstreckt. Was passiert? Es kommt ein Dritter und zieht an einem Bein des liegenden Mannes – wie ein Vehikel manövriert er den Beziehungsclinch in eine andere Bühnensphäre: teilnehmend, sich einmischend und bestimmend. Faszinierend ist das – und zugleich eine zitierende Anspielung auf das zweite Ballett des Abends, „Click-Pause-Silence“ von Jiří Kylián.
Es sind solche modifizierten Zitate und Anpielungen, die das Ballett „Static Time“ zu einem Auftakt und Vermittler machen. Zwar wird aus der gezeigten Triple Bill „Duato / Kylián“ kein Puzzle, in dem ein Teil reibungslos zum anderen passt. Aber es gibt Verbindungen, Linien, die sich fortführen und entwickeln, es gibt metaphorische Vorwörter und Verklammerungen.
Hinterher kann niemand sagen, er habe drei einzelne Stücke gesehen. Vielmehr hat man einen Verbund aus drei Stücken gesehen, die aufeinander Bezug genommen haben.
Denn durch den Vorbau von „Static Time“ erhält auch Kyliáns Werk neue interpretatorische Nuancen – doch dazu später.
Ein Pas de trois mit zwei Frauen erfordert jetzt die ganze tänzerische Potenz. Als „blaue Gruppe“ – weil alle drei textilmäßig Blau tragen – fallen sie auf, die drei, die für wenige Minuten die perfekte Menage à trois üben. Ergebnislos. Denn alles hier ist dem Untergang geweiht – subtil, ohne davon ein Aufheben zu machen.
Am intensivsten wirkt da der letzte Paartanz von Arshak Ghalumyan und Dominic Hodal. Im Vorfeld der Uraufführung hatten die beiden davon geschwärmt, wie gemeinschaftlich die Kreation mit Nacho Duato entstanden sei.
Dieser Vorzug zeigt sich auch zum Adagio aus Franz Schuberts Streichquartett Nr. 10 Es-Dur. Die heimelige Innerlichkeit der Musik spielt sich im Tanz. Ghalumyan tanzt dazu ein Solo, erst lethargisch, dann mit einem dem Flamenco entlehnten Aufstampfen, und aus diesem tänzerischen Sichselbstbefragen ergibt sich ein Tanz mit der Gruppe.
Da mag man fast ein John-Neumeier-Zitat erkennen, als die Tänzerinnen und Tänzer sich rechts und links von Ghalumyan versammeln und an ihn rangehen, wie es die Ensembletänzer in Neumeiers sakralen Balletten wie „Messias“ oder „Matthäus-Passion“ tun.
Ein Mensch im Zentrum, über den sich die anderen als Gruppe definieren – das könnte die Geburt des Guru-Syndroms aus dem Geiste der Zusammengehörigkeit darstellen.
Es ist zugleich sicher ein Selbstportrait des Choreografen Nacho Duato, der sich in seiner neuen künstlerischen Heimat Berlin angekommen und auch angenommen fühlt. Seine Tänzerinnen und Tänzer haben ihn ins Herz geschlossen und sind bereit, ihm auf weitere choreografische Expeditionen zu folgen.
Doch das Schlusswort hat nicht die Hoffnung, die sich aus der Menschengruppe formulieren kann. Sondern die Skulptur, die angesichts des Todes – Dominic Hodal liegt immer noch als mahnendes Zeichen leblos auf der Bühne – zu einer letzten großen Drehbewegung ausholt. Sie dreht und senkt sich, und es ist, als werde ein Tor geschlossen – Vorhang.
Jubel und Verständnis sprachen aus dem Applaus dieser Uraufführung!
Tänzerisch war sie ohnehin über jeden Tadel erhaben.
Tatsächlich ist es schwer, dieser Tage ein Ballettensemble zu finden, das erstens so hochkarätig und akkurat trainiert ist, das zweitens ein so breit aufgestelltes, auch schlicht so großes Repertoire hat wie das Staatsballett Berlin, und das drittens so hoch motiviert ist und mit so viel Seele an die Arbeit geht wie diese tapfere Company, die schon so manchen Sturm der Kultur- und Hauspolitik unbeschadet zu überstehen wusste.
So ist auch das zweite Stück, „Click-Pause-Silence“ von Jiří Kylían, ein stilistisch und technisch anspruchsvolles Werk – eine Gelegenheit, Bravour im Kleinen zu zeigen, vor allem für Ilenia Montagnoli, die hier mit drei Herren (Olaf Kollmannsperger, Vladislav Marinov, Federico Spalitta) so geduldig wie konzentriert interagiert.
Ein Fernseher, mit dem Rücken zum Publikum, zeigt im späteren Verlauf des Stücks in einer dann frei gelegten Spiegelwand Aufnahmen aus dem Ballettsaal.
Es ist zwar keine Uraufführung, sondern wurde zur Millenniumswende kreiert. Aber im Kontext, eingerahmt und auch inhaltlich umklammert von zwei Duato-Werken, erhält es neue Inhaltlichkeit.
Kylián ließ sich zusammen mit dem Komponisten Dirk Haubrich von Johann Sebastian Bachs Präludium Nr. 24 b-moll inspirieren. Sie machten es sich zur Aufgabe, dieses bekannte Stück Musik zu analysieren, es gleichermaßen unters Seziermesser zu legen – und neu zusammen zu setzen.
Herausgekommen sind eine Komposition, die in weiten Teilen kaum noch an Bach erinnert, und ein gymnastisch-konstruktivistisches Spiel, das den Ritt einer Frau mit drei Männern gleichermaßen poetisiert und dramatisiert.
Als wir von der Pause wieder in den Theatersaal kommen, steht ein Tänzer reglos vorn rechts an der Rampe. Einige Zugstangen mit Scheinwerfern sind aus dem Schnürboden heruntergefahren, eine modern-technische Anmutung des Bühnenbildes ergibt sich dadurch. Der Tanz, der jetzt langsam entsteht, ist zwar kein Experiment, aber ein abstrahierendes Treiben – insofern tut ihm der Kontext mit den emotional aufgeladenen Duato-Stücken gut.
Kylían und Duato kennen sich ja seit langem, Duato fing einst bei Kylián in Den Haag als Tänzer an, und der choreografische Mentor ließ den Newcomer Duato auch sein erstes Erfolgsstück machen, das denn auch gleich einen Preis bekam. Das Stück hieß „Jardi Tancat“ und ist bis heute eines der zauberhaftesten von Duato. Schon dieses kleine Meisterwerk ist von Kyliáns Gleichmut weit entfernt und enthält dafür zahlreiche typische Duato-Merkmale. Spanische Einflüsse, Partnerwechsel in den Pas de deux, eine Verbindlichkeit, die sich vertieft und wieder lockert – all das zeichnet Duatos Werke aus.
Kylián hingegen ist zwar strenger in der Form, aber verspielter in deren Bedeutung. Nichts ist hier ernst zu nehmen, alles könnte genau so, aber auch ganz anders sein. Mitunter entstehen Witzigkeiten mit leicht makabren Abgründen – dann ist Kylián in Hochform.
Da stellt die Frau ihren Fuß auf den Mann (Duato zitiert diese Geste in „Static Time“) – sie ist überlegen, dominant, hat Oberwasser. Auch das Jemanden-am-Bein-Ziehen, das Duato so eindringlich in Emotion umsetzt, findet sich hier: als spielerische Geste, eher ohne Ausdruck.
Die Personen agieren wie rätselhafte Symbole in abstrakten Gemälden. Dass die Musik mal wie Free Jazz, mal wie Zwölfton klingt, erhöht den Abwechslungsreichtum hier. Aber an sich geht es um eine Situation, wie sie viele Künstler im Alltag erleben: Man kommt nicht raus aus der Konstellation, in die man sich begeben hat, und man ist darum stets bemüht, das Beste draus zu machen.
Höhepunkt des Stücks ist ein akustisches und optisches Gewitter: Zu heftigen Lichtblitzen bricht ein lautes Getöse aus, kurz nur, aber es fährt einem wie ein Schock in die Glieder.
Zunächst bleibt dieser Einbruch in die Ruhe des ersten Teils von „Click-Pause-Silence“ (der Titel beschreibt die Ergebnisse des Musik-Sezierens) noch folgenlos. Aber dann muss sich die Frau eine Menge gefallen lassen, während die tanzenden Männer versuchen, sich selbst zu verwirklichen. Trennung steht als Thema an. Trauer liegt in der Luft.
Am Ende sind die Männer weg, verstreut in alle Winde, während die Frau, um etliche Erfahrungen reicher, gedankenvoll langsam das Feld räumt.
Es ist nicht das stärkste Stück von Kylián, aber durch den Bezug zum technischen Equipment und durch die „Gewitter-Einlage“ eine Art Klassiker. Man könnte es ein konstruktivistisches Ballett nennen, und auch, wenn Kylián, wie er sagt, beim Kreieren eher an den Maler Paul Gauguin gedacht hat, so erinnert seine Kreation doch auch an Gauguins Zeitgenossen Kandinsky und Jawlensky.
Nach noch einer Pause, die einem länger vorkommt, als das ganze Kylián-Stück war, wird es dann noch einmal sehr ernst. „White Darkness“ wurde 2001 von Nacho Duato kreiert, und der traurige Drogentod seiner Schwester war dabei der gedankliche Anlass.
In Berlin entfächert sich heute mit diesem Stück die Schilderung einer Paarbeziehung, die von Kokain zerstört wird – grandios tanzen Krasina Pavlova und Mikhail Kaniskin das Paar, das im Kampf gegen die Sucht erst zusammen findet und dann zerbricht.
Der Titel, „Weiße Dunkelkeit“, deutet es an: Das Bestreben, aus der Düsternis ins Licht zu gelangen, scheint durch die weiße Droge Kokain erfüllbar zu sein, solange, bis die Dunkelheit alles verschlingt. Das weiße Licht entpuppt sich als düsterste Finsternis.
Zu Beginn steht das aber noch nicht fest. Rechts sind bunte Scheinwerfertürme aufgebaut: wie in Kyliáns Stück ist die Technik des Lichts also Teil des Bühnenbildes. Die Herzstücke von „White Darkness“ sind die erschütternden Pas de deux des Hauptpaares, in deren Verlauf klar wird, dass die Liebe hier keine Chance gegen die Droge hat.
Zuvor aber zeigt Krasina Pavlova, barfuß in einem erotisch-eleganten Kleid in Pflaumenlila von Lourdes Frías tanzend, ein Sol: herzzerreißend, wehleidig, zuckend vor Sehnsucht nach Neuem, aber auch ängstlich sich wegduckend.
Sie konsumiert irgend etwas, hält sich aber gleich erschrocken den Mund zu, benutzt den Tanz als Tarnung. Andere Paare kommen, in schwarzen Hotpants und passenden Oberteilen, und die Welt scheint noch so normal, wie jeden Tag.
Dann aber verändert sich etwas, und die Musik von Karl Jenkins, die in großen melodischen Leitmotiven mit heftig barmenden Streichern und fast Mahler’schen Kontrapunkten wirklich exzellent Stimmungen zu erzeugen weiß, deutet darauf hin, dass der Alltag bald nie mehr nur Alltag sein wird. Sondern sich zunehmend auf die Droge ausrichtet, die alles vereinnahmt und alles verzerrt.
Grand jetés, Pirouetten – so schnell fliegt die Zeit hier vorbei. In gewisser Weise ist „Static Time“ die Antithese auf „White Darkness“, in dem der Zeitverlauf künstlich beschleunigt erscheint. Anklänge an Minimal music treiben das voran. Das hektische Großstadtleben aufersteht vor unseren Augen, ohne dass Filmeinspielungen oder Autogehupe das belegen müssten.
Inmitten des Getümmels: die Liebe als Fluchtpunkt, als Hoffnung, als Sinn des Lebens. Die Pas de deux sind traumhaft in ihrer Innigkeit, aufrüttelnd in ihren Bemühungen, der Wirkung einer Droge etwas entgegen zu setzen.
Mikhail Kaniskin entfächert mit männlicher Sensibiliät alle Farben, die so ein selbst ernannter Retter einer drogenkranken Person nur haben kann. Er ist zunächst souverän wie ein Fels in der Brandung, hält seine Partnerin, hebt sie, lässt sie springen, fängt sie auf – doch als sie immer stärker nach dem weißpudrigen Sand, der aus dem Schnürboden rieselt, verlangt, bricht sein Widerstand – und er teilt die Sucht mit ihr wie ein trauriges täglich Brot.
Wie vorher die Liebe gibt er ihr jetzt, als eine Réference aus der vierten Position, den weißen Sand; er lässt ihn im Zuge einer tänzerischen Pas-de-deux-Konstellation immer wieder aus seinen Händen in die ihrigen rieseln. Sie teilt sich ebenso mit: Krasina Pavlova als Suchtkranke zeigt die Zerbrechlichkeit und die Wollust am Rausch einer solchen Rolle. Es ist fesselnd und ergreifend zu sehen, wie sie ihrer Sucht verfällt und sich innerlich immer weiter von ihrem Mann und ihrer Umgebung entfernt. Dabei schafft sie es, die Drogentripps auch ein Stück weit wie Normalität aussehen zu lassen – das Leben als Weglaufprogramm vor dem eigenen Verstand.
Aber auch die anderen vier Paare werden von der Sucht nach Schnelligkeit und auch Unverbindlichkeit ergriffen. Langsam, aber sicher verändern sie sich, tanzen immer gehetzter, immer absurder das Funktionieren in einem menschlich entfremdenden Alltag. Da wird eine Frau von ihrem Partner in die Luft geschmissen, sie schafft es gerade noch, daraus einen Sprung zu machen. Das zappelnde Solo eines anderen Mannes macht deutlich: Diese Gesellschaft steht unter Strom, und die einzelnen Mitglieder sind nicht in der Lage, sich dem Gruppendruck zu entziehen, um selbstbestimmt ihren Weg zu gehen.
Elegisch träumt die Violine vor sich hin, aber der Tanz zeigt, wie diese Gesellschaft am Zerbrechen ist. Mit großer Sorgfalt und persönlichem Einsatz tanzen Weronika Frodyma, Alexander Korn, Cécile Kaltenbach und Nikolay Korypaev, Danielle Muir und Lucio Vidal, Xenia Wiest und Rishat Yulbarisov diese Vorgänge. Allen voran aber sind Krasina Pavlova und Mikhail Kaniskin hier die Sensation: ihre Zärtlichkeit zueinander wie auch ihr technisch mit virtuosen Kunststücken gepowerter, letztlich jedoch aussichtsloser Kampf gegen die weiße Sucht rühren an.
Am Ende ergießt sich ein golden angestrahlter Schwall aus weißem Puder auf die Bühne, Krasina stellt sich in diesen Sandwasserfall wie in eine Dusche aus Sonnenschein. Reglos bleibt sie einige Sekunden darin stehen, dann knickt sie ein – und sitzt im Schlussbild als eine Frau, die sich aufgegeben hat, leblos da.
„Duato / Kylián“ spannt damit den Bogen von Trauer über Trauer bis zur Trauer – allerdings mit so vielen zusätzlichen Elementen und auch bunten Aspekten angereichert, dass die Trauerarbeit wie ein leichthin zu bewältigendes Schemenspiel erscheint.
Aber dafür wirkt die Hoffnung, die Nacho Duato mit seiner einfach-komplizierten Beziehungsflechterei sät, noch lange nach. Mehr kann man von so einem Abend Kammertanz, der von nur 22 Tänzerinnen und Tänzern geleistet wird, kaum erwarten.
Gisela Sonnenburg
Termine im Schiller Theater Berlin: siehe „Spielplan“