Bühnenprobe! „Impressing the Czar“ heißt das abendfüllende Ballett. Wo ist der Zar? Nirgendwo – es gibt ihn nur im Stücktitel. Doch dazu später. Erstmal greift, im Dunkel des Zuschauerraums in der Semperoper in Dresden, William Forsythe, 67 und einer der größten lebenden Choreografen, zum Mikrofon. Sicher und ruhig zählt er auf Englisch den Takt: „One, two, three…“ Zu zählen – das ist für die Künstler in seinem Stück sehr wichtig, denn die Musik, die teilweise von Beethoven stammt, teilweise aber auch krass modern und synthetisch einher kommt, ist collageartig verschnitten – und ist ein Hörerlebnis für sich.
Forsythe aber hat eine beeindruckende, baritontiefe Stimme, von der eine geradezu hypnotische Kraft ausgeht. Die Tänzer auf der Bühne lassen sich leiten von diesem Klang, der zugleich eine Anweisung ist.
Forsythes selten komplett aufgeführtes, furios-satirisches Werk „Impressing the Czar“ („Den Zar beeindrucken“) von 1988 wird hier zur vollständigen Aufführung gebracht – und das Semperoper Ballett hat für die folgenden fünf Jahre die einzige europäische Lizenz daran, die ersten drei Jahre sogar mit weltweiter Exklusivität.
Die Truppe hat sich ohnehin den Ruf erarbeitet, eine der weltbesten Companien für Forsythe-Werke zu sein, wenn nicht sogar die beste überhaupt – in Paris, wo die kritischen Kenner im Publikum wie in der Presse sitzen, wurde das Semperoper Ballett mit seiner Art, Forsythe zu tanzen, bereits frenetisch gefeiert.
Der erste Akt von „Impressing the Czar“ ist ein ganz typisches Forsythe-Werk, wenn es so etwas wie „typisch“ bei jemandem, der im Ruch steht, dauerhaft Avantgarde zu sein, überhaupt gibt: Der Stil ist schnell, akkurat, teils neoklassisch, teils hypermodern. Tanztheater – mit Anklängen an Pina Bausch und Robert Wilson – mischt sich mit hübsch rasant getanzten Einlagen, die an Petipa oder Balanchine erinnern. Und man sieht, by the way, wo Alexei Ratmansky für seine furios überdrehte Ballettmanier gelernt hat: bei William Forsythe.
Viele Figuren und Szenerien finden im wirklich witzig benannten ersten Akt, der „Potemkin’s Signature“ („Potemkins Unterschrift“) heißt, zeitgleich statt. Tanz und andere Künste mischen sich, das klassische Ballett taucht nur in der Körpersprache zitiert auf, auf ästhetische wie auf humoristische Weise.
Ironie auf Tänzerisch: Es geht um Hochstapelei, um Under- und Overstatement – und um die Vortäuschung von etwas, dessen Sein sich im Schein bereits erschöpft.
Darum „Potemkin“, mit Bezug auf die „Potemkin’schen Dörfer“, die angeblich zum Vorzeigen beim Staatsbesuch der Zarin Katharina der Großen als bloße Fassaden errichtet wurden.
Die „Signature“ aber bedeutet hier eine teilweise Negierung dessen, weil das offizielle, unterschriebene Protokoll zur Zarenzeit nichts mit der Legende, die Potemkin’schen Dörfer seien nur Fassaden, zu tun hatte. Die Legende, die zum geflügelten Sprichwort der Potemkin’schen Dörfer führte, ist nämlich nur Rufmord an Potemkin gewesen: Potemkin’sche Dörfer haben niemals existiert – und dennoch als Sprichwort überlebt.
Fürs Verständnis des Tanzes ist dieser Kontext allerdings nicht unbedingt vonnöten. Es genügt, den Titel mit dem Potemkin darin als absurden Scherz zu begreifen. Offenbar soll hier was in Frage gestellt werden, das sonst immer glasklar ist. Das wird man dann sicher schon sehen, auf der Bühne, dreidimensional und live getanzt!
Obwohl die Frage, was an einer Tanz- oder Theateraufführung im übertragenen Sinn ein Potemkin’sches Dorf ist und was sozusagen echt, sicher immer die Zuschauerherzen zu bewegen vermag. Motto: Was wollen wir unseren Bühnenlieblingen denn nun wirklich glauben? Alles? Wollen wir das überhaupt? Wollen sie das überhaupt?
Hier, im ersten Akt des „zu beeindruckenden Zaren“, steht zur Verwirrung des Ballettomanen auch noch ballettfremdes Personal mit auf der Bühne. Es wird nämlich ziemlich viel gesprochen – und dabei agiert, als handle es sich um eine cineastische Boulevardkomödie.
Tänzer und Schauspieler mischen sich, das Bühnenfeld wird ein melting pot an Aktionen. Wo man hinsieht: fabulöse Extravaganz – die scheinbar auf rein gar nichts referiert. Dennoch ist das spannend und fürs Auge eine Erquickung. Das liegt nicht zuletzt an den künstlerischen Leistungen, die auch bei dieser Bühnenprobe voll entfaltet werden. Da ist die energische Schauspielerinnenrolle Agnes, von Helen Pickett mit viel theatralischem Geschick gespielt. Da ist Tracy, mit überwältigender Anmut getanzt von Elena Vostrotina, die mit vier jungen Männern im Schlepptau ein Tanzquintett erster Güte abgibt. Was die beiden Frauenfiguren miteinander zu tun haben? Das muss der Zuschauer selbst entscheiden, sofern er dazu überhaupt Zeit hat. Denn weitere Personen fesseln seinen Blick.
Da ist der angenehmerweise nur sehr leicht bekleidete Tony, getanzt von István Simon, der mit exzellenten Arabesken, Sprüngen und Drehungen beeindruckt. Und da ist der schöne, lendenbeschürzte, aber auch dubiose Mr. Pnut (ausgesprochen wie die Erdnuss, die nichts wert ist: „Peanut“), getanzt von Julian Amir Lacey. Er ist eine wandelnde Karikatur des Heiligen Sebastian, zugleich aber auch eine Art Mode-Ikone, die sich liebend gern in ein Spotlight in Positur stellt. Manchmal helfen ihm Pfeil und Bogen dabei, sich wie Markus Schenkenberg zu fühlen. Er sieht für ballettöse Augen ohnehin viel besser aus. Aber Pfeile schießt er nur imaginär ab.
Dafür verschießen andere Teilnehmer – groteskerweise und witzigerweise völlig unmotiviert – goldene Gummipfeile durch die Gegend. Die Aufregung, die sie dabei produzieren, ist absichtlich vorgeführtes Spiel-Theater: Jeder darf sich sein Teil dabei denken, eine absolute Wahrheit ist zumindest zu diesem Zeitpunkt der Aufführung noch nicht in Sicht.
Das Bühnenbild verströmt das Flair eines Gemäldes von Salvadore Dalí, ohne dass konkrete Formen aus seinen Bildern zitiert würden. Aber die surreale Stimmung und irreale Zusammenstellung von Stilelementen wird in diesem Sinne erzeugt. Forsythe kreierte übrigens auch die Kostüme – und ist am Design der Bühnenausstattung und des Lichts maßgeblich mit beteiligt. Das gewollte Kuddelmuddel, das dennoch eine beglückende Ästhetik und einen erhabenen Stil suggeriert, ist denn auch perfekt:
Rechts auf der Bühne ist ein Spielfeld mit kleinen Kegeln aufgebaut – irgendwann werden sie mit einem Bootspaddel (!) einfach in die Kulissen gefegt. Derweil wird in der linken Bühnenhälfte vor, hinter und neben einer schräg wie im Fall aufgestellten dunklen Wand getanzt. Was getanzt wird? Alles, was die klassische Technik im Verein mit ihren modernen Nutzungen so hergibt, und zwar in Windeseile, als entfächere sich eine Geschichte des modernen Balletts von seinen Ursprüngen bis heute – derweil wird rechts auf der Bühne das Spielfeld abgeräumt.
Phänomenal, wie hier die linke und die rechte Gehirnhälfte des Zuschauers sozusagen doppelt beschäftigt werden. Zumindest der Behauptung nach, also als Potemkin’sches Dorf.
So ist denn auch dieser ganze erste Akt: wild, ungezähmt, scheinbar chaotisch – dennoch aber wirkt er harmonisch, denn die Rhythmen der unterschiedlichen Tänze und Pantomimen, die stattfinden, sind aufeinander abgestimmt. Da gibt es ein Quintett aus vier Jungs mit nacktem Oberkörper und einer höchst elegant tanzenden Dame. Eine weitere Gruppe besteht aus Frauen in festlichen, schulterfreien Roben. Ein Tänzerpaar in Schwarzweiß, das entfernt an Balanchines Schuluniformen erinnert, entzückt mit teils synchronen, teils gegenläufigen Bewegungen.
Soviel ist hier los, dass man denkt: Da muss doch was passieren! Gibt es eine Handlung?
Aber genau das ist nicht der Fall. Der Dresdner Ballettdramaturg Stefan Ulrich, der auch im Foyer der Semperoper die Einführungen hält, hat sich mit William Forsythe (der Interviews ansonsten scheut wie kaum ein anderer Ballettkünstler) unterhalten. Ulrich kann darum klipp und klar und sozusagen autorisiert sagen: „Es handelt sich um eine Parodie auf das klassische Handlungsballett.“ Der Dramaturg kann das weiter ausführen: „Das klassische Handlungsballett des 19. Jahrhunderts wird hier im 20. Jahrhundert artifiziell transponiert und zu einer neuen postmodernen Form geführt.“
Eine Persiflage auf höchstem Level. Alle paar Minuten entsteht in „Potemkin’s Signature“ etwas Komisches, eine ulkige Situation, die das Leben, die Kunstgeschichte und insbesondere das Ballett durch den Kakao zieht. Botticelli wird szenisch zitiert – und das Leitmotiv von einem Paar Kirschen zieht sich im Bühnenbild durch das Stück im Stück (also den ersten Akt) wie eine eigenständige Allegorie. Denn die süßesten Früchte hängen bekanntlich meistens zu hoch… oder stehen schlicht zu quer im Raum.
Aaron S. Watkin weiß, woher diese Kirschen kommen: „Man hat Forsythe damals vor der Kreation des Stücks in Frankfurt gesagt, es sei nur noch wenig Budget für ein Bühnenbild übrig. Da hat er gesagt, ihm würden zwei Kirschen genügen.“ Das Budget verrät indes nichts über seine Wertigkeit, denn die schief gestellte dunkle Wand, die auf der Bühne links steht, das Spielfeld rechts und das breite Holzpaneel in der Mitte am Horizont wirken kostbar, auch wenn sie nicht gerade typische Ballettdekorationen bilden.
Hier geht es ja auch um etwas anderes: um Tiefgründigkeit, um die Frage, was hinter den Scherzen steht. Allerdings wird die Suche nach dem Sinn des Seins so lustig und mit tänzerischer Ironie aufgeladen präsentiert, dass sie auch ohne eindeutige Antwort erhellend ist.
Normales absurdes Theater, etwa des Dramatikers Samuel Beckett, wirkt gegen dieses zauberhaft durchgeknallte, verwirrend spaßige Ballett sogar bierernst. Bei Forsythe darf am Stück geschmunzelt und gestaunt, gestaunt und geschmunzelt werden! Die Stärken des Balletts werden ebenso vorgeführt wie die vermeintlichen Schwächen dieser Kunst.
Und ob es das Kostüm des japanischen Schulmädchens ist, das an „Das amerikanische Mädchen“ in „Parade“, einer Ballettavantgarde der Ballets Russes von 1917, erinnert, oder ob die im ersten Akt abwechselnd deutsch und englisch sprechende Schauspielerin auf einem holzgeschnitzten „Shakespeare“-Thron sitzt und am Telefon verzweifelt Mr. Pnut sucht – alles hier ist zugleich bare Münze, Theaterzitat und purer Nonsense.
Das Telefon ist übrigens ein Handy (ein Requisit, das es 1988 bei der Uraufführung noch nicht gab), und der gesprochene Text verrät, dass auch hier aktualisiert wurde: Sie habe Angst, fabuliert die Schauspielerin so famos wie pathetisch, dass Mr. Pnut die Sixtinische Madonna – die das Prunkstück im Dresdner Zwinger-Museum ist – gestohlen und auf dem Striezelmarkt (also dem Dresdner Weihnachtsmarkt) verhökert habe.
Dieser Art ist der Humor hier: Abgedreht, surreal, fantastisch. Aber keineswegs vorgestrig!
Mister Bean könnte sich hier übrigens gut einpassen. Auch die klamaukige „Spanish Inquisition“ hätte noch gefehlt im Reigen der unbesiegbaren Superhelden, die Forsythe hier karikiert, und so unübersichtlich „Potemkin’s Signature“ auf den ersten Blick erscheint, so sehr werden Geist und Intellekt hier stetig beschäftigt.
So ist es auch bei der Klavierhauptprobe. Das Publikum schaut gebannt hin – und es ist etwas Besonderes, dass es dieses Publikum überhaupt gibt. Denn normalerweise sind Bühnenproben nicht öffentlich. Aber die kulturbewussten Dresdner sind eingeladen, im ersten Rang Platz zu nehmen. Die „Klavierhauptprobe“, die deshalb so heißt, weil man ursprünglich bei diesem Durchlauf im Kostüm die Klavierauszüge statt die Orchesterpartitur spielte, zeigte Omis mit Enkelkindern, jungen Frauen und mittelalten Herren, wohin die Reise mit William „Bill“ Forsythe geht – und ob Jung oder Alt, sie alle schienen großen Spaß zu haben.
Der harte Ernst, der dahinter steht, um so viel Kunst und Kunstfertigkeit galant auf die Bühne zu bringen, war aber immerhin zu erahnen. Da musste István Simon ein Solo mehrfach wiederholen, vor allem ein höchst komplizierter Sprung war gerade in der Wiederholung fesselnd zu sehen:
Eine Tour en l’air (für die ein Tänzer hochspringt, um sich in der Luft mehrfach um die eigene Achse zu drehen), die nicht, wie im Ballett üblich, auf beiden Füßen landend beendet wird, sondern die direkt in eine Arabeske führt. Das heißt, Simon muss nach den Drehungen in der Luft auf dem rechten Bein landen und das linke durchgestreckt und ruhig hinten hoch halten. Und er muss es halten, halten, halten, während sein Blick und die Arme eine sehnsuchtsvolle Balanchine-Pose formulieren! Dann darf er weiter hüpfen und so tun, als ob nichts wäre, obwohl er soeben eine Bestleistung des Balletts erbracht hat. Puh! Toll.
Aber nicht alles klappt reibungslos. Da ist die Szene mit Jenni Schäferhoff, der begabten Potsdamerin, die hier mit wallendem offenen Haar ein Abendkleid ausführt und darin über einem scheintoten schönen Mann hockt. Sie hat einen Auktionshammer in der rechten Hand, den sie kurz neben dem jungen Mann immer wieder auf den Boden nieder sausen lässt. So trommelt sie ein ganz eigenes Metrum: wumm, wumm, wumm!
Aber der Hammer ist wohl nicht ganz handlich konstruiert. Jenni haut heftig zu, es klingt aggressiv und hart, und Forsythe unterbricht sie. Beim zweiten Mal ist es leiser, klingt aber auch sehr matt. So geht es auch nicht. Also ein drittes Mal. Jetzt aber hat der Hammer genug – und bricht entzwei.
Wie gut, dass solche Sachen bei einer Probe und nicht bei der Premiere passieren! Jenni kann für heute ihr Hauen-mit-dem-Hammer nur noch andeuten, mit der leeren Hand, immerhin: Ihre kompliziert zu treffenden Einsätze sind vom Timing her richtig. Aber man sieht, was am Theater so alles passieren kann – und man malt sich aus, was noch alles mitunter passiert, ohne dass man es merkt, wenn man die Inszenierung nicht schon gut kennt.
Theorie und Praxis, dieser Unterschied spielt auch bei jeder Neueinstudierung eine Rolle. Für drei Wochen ist Forsythe mit einem runden halben Dutzend Ballettmeistern nach Dresden angereist, um sein „Impressing the Czar“ einzustudieren. Manches änderte er daran während der Probenzeit, er passte es an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Dresdner Tänzer an. Er schuf eine Dresdner Version von seinem „Zaren“.
Das Werkverständnis im Ballett, stets „work in progress“ zu produzieren, ist generell neu – vor allem im Establishment. Forsythe aber hat es schon immer gehabt, ein Pionier auch in dieser Hinsicht.
Er kennt Aaron S. Watkin, den Dresdner Ballettdirektor, seit langem – und das Semperoper Ballett hat seit der Spielzeit 2006/07, seit Watkins Antritt, jede Saison mindestens ein Werk von Forsythe im aktuellen Repertoire.
Wie die beiden zusammen fanden, ist die Geschichte einer Künstlerfreundschaft. Forsythe lernte Watkin kennen, als letzterer noch klassischer Balletttänzer beim National Ballet of Canada war. Ob er nicht in seiner Company tanzen wolle, fragte Forsythe den jungen Aaron. Doch der lehnte ab und meinte: „Ich möchte noch klassisch tanzen. Vielleicht später!“
Nach einigen Jahren sahen sie sich wieder, der moderne Schöpfer „Bill“ Forsythe und der exquisite klassische Tänzer Aaron S. Watkin, der mittlerweile beim Het Nationale Ballet in Amsterdam engagiert war. Forsythe wiederholte seine Anfrage. Und Watkin sagte dieses Mal ja. Das gegenseitige Verständnis der beiden Ballettkünstler wuchs von diesem Augenblick an – und Aaron wurde erstmal Erster Solist unter der Ballettdirektion von Forsythe in Frankfurt / Main.
Auch als Watkin später bei Nacho Duato in Madrid (in der Compania Nacional de Danza) tanzte, riss der gute Draht zu William Forsythe nicht ab. Im Gegenteil: Watkin avancierte zum persönlichen choreografischen Assistenten von Forsythe und studierte dessen Stücke ein.
„Impressing the Czar“ ist allerdings ein Mammutwerk, von einem Coach allein nicht einzustudieren: Rund zweieinhalb Stunden dauert eine Aufführung, aber zeitgleich finden so viele Gigs statt, als wolle man die fünffache Zeitspanne füllen. Die vier Akte des hochmodernen, dennoch mit Klassik agierenden Stücks bilden zudem jedes für sich eine Einheit.
Der zweite Akt, „In the Middle, Somewhat Elevated“ entstand bereits ein Jahr vor dem ganzen Stück 1987 in Paris, und die Megastarballerina Sylvie Guillem machte es in vielen Aufführungen nicht nur auf Galas weltberühmt. Diverse sorgsam von Forsythe ausgewählte Truppen weltweit haben es bereits im Repertoire, auch das Semperoper Ballett zeigte die „Middle“ bereits.
Tänzer und Künstler, die mit Forsythe arbeiten, schwärmen davon, dass man bei der Arbeit mit ihm ganz ehrlich sein könne. Da müsse man nichts heucheln, sich nicht verstellen, man könne aufrichtig zeigen, was man wolle und was nicht – und sich einbringen, ohne sich bloß gestellt zu fühlen.
Sieht man sich den Mann mit dem grauen Baseball-Cap in der siebenten Parkett-Reihe während der beschriebenen Bühnenprobe an, glaubt man das unbenommen: Forsythe ist ruhig, überhaupt nicht hektisch, er wirkt klar und fordernd, aber keinesfalls unterdrückerisch oder irgendwie unter unguten Leistungsdruck setzend. Wenn ein Tänzer deutlich macht, dass er ein Problem hat, wird das ernst genommen – umgekehrt bemühen sich die Interpreten um optimale Vermittlung des choreografischen Anliegens.
Schnörkellos ist Forsythes Führungsstil und zwar unbedingt auf ein Gelingen ausgerichtet. Aber nicht um den Preis der Menschlichkeit – dieser Eindruck vermittelt sich nachdrücklich auf dieser Probe.
Als sein eigener dramaturgischer Berater ist William Forsythe allerdings weniger einfach zu verstehen. Da erlaubt er sich Spielereien und Assoziationen, die für ihn selbst künstlerische Notwendigkeit haben, die objektiv aber schwer zu enträtseln sind. Aber natürlich weiß der Tanzschöpfer, dass so etwas den Reiz erhöht – allzu leicht darf es ein moderner Künstler seinem Publikum nämlich nicht machen, sonst wird er schnell als plakativ oder einfältig abgestempelt. Immerhin sind heute mehr als zweitausend Jahre kulturgeschichtlicher Background zu berücksichtigen, wenn man Künstler ist – und Forsythe gehört zu denen, die das wirklich auch tun.
Die Titel seiner Stücke sind indes gehörig verwirrend, und das gilt sowohl für den Stücktitel vom „Zaren“ als auch für die Benenung der einzelnen Akte. Die Sache mit dem Zaren an sich ist allerdings nicht ganz ernst zu nehmen: Ein Zar spielt keineswegs die Hauptrolle im Stück, denn Forsythe ließ sich lediglich vom Misserfolg des 1890 uraufgeführten Balletts „Dornröschen“ bei Zar Nikolaus II. inspirieren. Ursprünglich sollte sogar das vorab choreografierte Teilstück „In the Middle, Somewhat Elevated“ („In der Mitte, etwas erhaben“) so heißen: „Impressing the Czar“.
Die weiteren Akte, die konkret anders sind als der erste, werden später geprobt; Stück für Stück geht es voran bei der Einstudierung eines solchen Ballettmarathons. Der Besuch so einer Probe – nach einer guten Stunde proben die Künstler ohne Publikum weiter – macht in jedem Fall neugierig auf mehr und ist von daher dringend empfohlen. Allerdings finden die Theaterproben selbstverständlich tagsüber statt – nicht alle Interessenten können daher kommen.
Die Spannung aufs Ganze steigt aber so oder so, wenn eine Premiere näher rückt. Noch ist etwas Zeit, sich mit William Forsythe zur Einstimmung zu beschäftigen – auf youtube findet sich so manches Kleinod. Die Aufnahmen vom Royal Ballet of Flanders, das dort mit „Impressing the Czar“ zu sehen ist, sollten indes nicht zum Maßstab gemacht werden: Die Flandern tanzen, mit dem Semperoper Ballett verglichen, technisch wie inhaltlich auf einem eher niedrigen Niveau.
Abschließend wird es Zeit, noch etwas zum Umgang mit Worten bei Forsythe zu sagen. „Impressing the Czar“! Der Titel lautet ja übersetzt: „Den Zaren beeindrucken“. Diese Herausforderung, die Forsythe da locker-flockig als Antwort auf die Ablehung von „Dornröschen“ durch Nikolaus II. formuliert hat, ist keineswegs nur grotesk gemeint. Sie spielt, ganz zielsicher, auch darauf an, dass es einem Künstler egal sein muss, ob die herrschende Klasse seine Kunst liebt oder ob nicht.
Zugleich ironisiert Forsythe damit aber auch die Situation, in der sich die Künstler heutzutage befinden: Es sind Strategien der Vermarktung, die gefragt sind, und ein Künstler, der sich nicht gut verkaufen kann noch andere hat, die das für ihn tun, läuft Gefahr, im Getümmel der konkurrierenden Wettbewerbe unterzugehen.
Das Semperoper Ballett dürfte mit seinen Leistungen dieser Gefahr auch ohne aufwändige Werbung flott entgehen: Charmant, aber keineswegs beliebig tanzt es den Forsythe trotz aller technischen Raffinesse mit einer so großen Selbstverständlichkeit, als sei es ein Stück Dresdner Urkultur. Und prompt findet man darin Leichtes, das auch Kinder verstehen, ebenso wie Hintergründiges, das Kulturfreaks das metaphorische Knacken von Nüssen aufgibt. Für Ballettfans jedweder Couleur gilt darum: Hingehen!
Gisela Sonnenburg
Am Freitag, den 15. Mai, gibt es um 9.45 Uhr (bis 10.45 Uhr) noch eine öffentliche Bühnenprobe!
Am 20. Mai findet eine nur für Schulklassen öffentliche Hauptprobe statt.
Premiere ist am 22. Mai, danach gibt es Vorstellungen am 25., 27. und 28. Mai sowie im Juni und Juli