Selbstredend kann man von Balletten wie „Onegin“ von John Cranko niemals genug bekommen. Erst recht nicht, wenn auch die musikalisch-künstlerische Seite so hervorragend in vielen Facetten schillert wie mit der Staatskapelle Berlin unter Paul Connelly. Dieser Dirigent kann es einfach: Das große Orchester spielt unter ihm wie ein einziges Wesen, der Begriff „Klangkörper“ für ein Musikensemble macht hier absolut Sinn. Und Connelly beherrscht den Schmelz, der hier notwendig ist, ebenso wie den temperamentvollen Schwung. Die Streicher spielen samtweich und hingebungsvoll, während das Blech auftrumpft und sich ebenfalls elegisch in seinen melodiösen Phrasen ergeht. So auch am letzten Samstag in der Staatsoper Unter den Linden. Da stimmen die Crescendi bis ins kleinste Detail – und auch jene Momente, in denen nach erfolgtem rhythmischem Rausch eine sanfte Stille eintritt. Wie köstlich klingen die Höhen! Wie mitreißend ertönen die absteigenden, an russischer Folklore orientierten Motive! Der Komponist Kurt-Heinz Stolze, der auf der Grundlage verschiedenster Stücke von Peter I. Tschaikowsky für „Onegin“ tätig war, schuf eine unübertreffliche Partitur für das Ballett. Unglaublich hingegen war die Krachmusik eines lauten Open-Air-Konzerts auf dem Bebelplatz, das in den Pausen des Balletts auch im Opernhaus den Kulturgenuss verhunzte. Hier sollten die Intendanzen der Staatsoper und des Staatsballetts das Recht ihrer Kundschaft auf einen ungestörten Aufenthalt im Opernhaus geltend machen. Die Tickets sind teuer genug, um in den Pausen Ruhe zum Reden zu haben. Die Tänzer:innen vom Staatsballett Berlin wissen hingegen, wie sie mit viel Liebe zur klassischen Musik dieselbe würdigen können – und sie folgen den Klängen auf der Bühne mit munter gesetzten Schritten. Aufstrebende Arme und exakte Posen wie Arabesken und Attitüden erfreuen zwischen den Lauf- und Trippelschritten der Damen in Spitzenschuhen. Die Herren dürfen mit hohen Sprüngen zeigen, wieviel Kraft sie in den Beinen haben – und das Corps de ballet ist mal wieder eine Augenweide für sich. Im Zentrum des Geschehens aber stehen die Liebesgeschichten, wie sie schon Alexander Puschkin in seinem Versroman „Eugen Onegin“ geschildert hat. Stets stehen sich dabei zwei Modelle an Paar-Beziehungen auf der Bühne gegenüber. Es wird also gemischtes Doppel gespielt – und das im ersten, zweiten und dritten Akt.
Yolanda Correa ist hier mit weit auffächernder Eleganz und mädchenhafter Anmut die belesene Landpomeranze Tatjana, die schon längst hätte verheiratet sein können: ein ungewöhnliches Mädchen, zwar überdurchschnittlich gebildet, aber keineswegs locker genug, um aufgeschlossen für die typischen Vergnügungen auf dem Land zu sein.
Ihre jüngere Schwester Olga ist da ganz anders: Iana Balova tanzt die leichtlebige, heißblütige Olga mit Verve. Was für ein Genuss, ihrer unbedacht-munteren Art zuzusehen! Sie kokettiert gern und aus vollem Herzen heraus, sie flirtet mit jeder und jedem, lächelt und scherzt, schmückt sich mit gebührender Eitelkeit, sie tänzelt und hüpft aus bester Stimmung heraus den ganzen Tag – und nimmt, was sie kriegen kann. Die Aufmerksamkeit ihres Verlobten Lenski ebenso wie die des arroganten Eigenbrötlers Onegin.
Mit der Besetzung ihres Verlobten ist es so eine Sache. Alexander Bird ist weder vom schauspielerischen Können her noch vom körperlichen Einsatz als Lenski genügend. Die emotionalen Szenen, die er als empfindamer, eifersüchtiger, zudem auch noch melancholischer Lenski zu leisten hat, setzt Alexander Bird so richtig schön in den Sand.
Wenn er Onegin mit dem Handschuh ohrfeigt, weil der zu heftig mit Olga tanzt und schäkert, dann wirkt das durch Birds Unvermögen, Wut und Eifersucht zu zeigen, einfach nur lächerlich. Und wenn er im berühmten „Mondschein-Solo“ mit höchster Tanzkunst vom Leben Abschied nimmt und sich auf das Sterben im Duell mit dem weit überlegenen Onegin vorbereitet, dann wirkt das bei Bird, als betreibe er nächtliche Gymnastik im Wald.
Es ist ein wenig peinlich, dass das tolle Staatsballett Berlin, das schon so viele berühmte und vor allem mitreißende Lenskis zu bieten hatte – von Vladimir Malakhov über Marian Walter und Dinu Tamazlacaru bis zu Daniil Simkin und in jüngerer Zeit auch Alexandre Cagnat – jetzt so eine Fehlbesetzung auftanzen lässt.
Dafür rettet Iana Balova die Auftritte des Paares Olga-Lenski. Sie als Olga überspielt einfach, dass ihr Verlobter schauspielerisch praktisch nicht vorhanden ist. Und sie funkelt nur so Lust am Leben und am Tanz, ihre Bewegungen sind präzise, aber mit paller Lebendigkeit gefüllt.
Genau so sollte eine Olga sein! Herzlichen Glückwunsch an Iana Balova für diese gelungene Darbietung einer Partie, die schnell auch unterschätzt wird. Denn das Leichte ist eben nicht immer leicht zu machen.
Man darf dazu sagen, dass sie bereits Übung mit der Rolle hat, während Alexander Bird sein Debüt bestreiten musste. Ich erinnere mich aber gut an vorherige Abende mit Iana Balova als Olga in den vergangenen Jahren – und sie hat schon immer besonders viel beglückende Mühe für diese Rollengestaltung aufbringen können. Von nicht kommt halt nichts – das gilt hier insbesondere für Bird.
Dennoch geht einem das Herz auf, wenn man diese muntere Gesellschaft im Garten der Familie Larina ansieht. Barbara Schroeder als Familienoberhaupt ist eine stete Garantin, um das Flair dieser Familie zu verstehen: Leben und leben lassen – das ist hier das Motto, und einige Verspieltheit gehört da ebenso dazu wie Zärtlichkeit im Umgang miteinander.
Ihre Töchter machen ihr keinen Kummer, auch wenn die eine – Olga – vielleicht etwas sehr vergnügungssüchtig ist und die andere – Tatjana – gar eigenbrötlerische Tendenzen entwickelt. Man hat einander liebt und bringt Verständnis für die verschiedenen Neigungen auf.
Das Ensemble vom Staatsballett Berlin begeistert dann einmal mehr in seinen folkloristisch angehauchten Auftritten. Toll springen und tollen die Burschen durch den Park, angeführt von einem absolut hervorragenden Dominic Whitbrook.
Und die Damen, später angeführt von Iana Balova als Olga, bilden einen neckischen Kreis, tanzen, wie es ist, sich als junges Mädchen von den Männern bewundern zu lassen.
Die beiden Spagatsprung-Diagonalen beginnen dieses Mal bereits mit soviel Herz und Schmiss, dass der Applaus schon bald nach Beginn aufbrandet. Bravo!
Bei den Solistenpaaren stehen sich dann die unterschiedlichsten Modelle von Beziehungen gegenüber. John Cranko hat gemäß dem Libretto nach Puschkin stets zwei Modelle pro Akt vorzustellen und auszuführen.
Olga und Lenski verkörpern im ersten Akt die unbedacht-jugendlich Liebenden. Sie sind so ineinander verknallt, dass sie die ganze Welt umarmen könnten. Voll Fürsorge füreinander tanzen sie ihren großen Pas de deux miteinander – und Iana Balova als Olga läuft dabei zur Hochform auf. Sie und ihre Lenski stehen für zuckersüße Harmonie und völliges Einverständnis, wie es typisch sein mag für unbedarfte, lebensunerfahrene Menschen. So unschuldig wird die Liebe nie wieder sein!
Ganz anders beginnt die Beziehung von Tatjana und Onegin. Eugen Onegin ist ein seltsamer Vogel, ein äußerst gutaussehender Mann, der sich dennoch schwer unverstanden fühlt. Arroganz ist die Folge in seinem Verhalten, aber Tatjana gegenüber barmt er auch um Verständnis für seine von Weltschmerz geplagte Seele.
Er führt sie zum Spaziergang aus – und verführt sie dabei mit der Offenbarung seiner innersten Gedanken zu einer mehr kosmopolitischen Weltansicht, als sie sie sich bisher vorstellen konnte. Leider verliebt sie sich dabei in ihn. Das wird nicht nur ihr Glück sein.
Alexei Orlenco ist der neue Onegin in dieser Saison, der noch den stürmerischen Drang zur Liebe in sich spürt, als sei er ein Romeo, der aber dennoch schon abgeklärt genug ist, um dem nachzugeben.
Yolanda Correa, die eigentlich mit Alejandro Virelles auftreten sollte, musste eine Woche vor der Aufführung umdenken – und sich mit Alexei Orlenco einproben. Ihre Tatjana ist vor allem bildhübsch und jungmädchenhaft in den feingliedrigen Bewegungen, und es wundert einen darum nicht, dass sie Onegin sein Bekenntnis zum provinzfeindlichen Denken entlockt.
Ach, und für ihn ist es ja so schwer, trotz des Strebens in die große Welt bei den netten Larinas einfach mal eben nett zu sein. Sie versteht das – und himmelt ihn an.
Nachts träumt sie dann, er trete aus ihrem Wandspiegel und tanze mit ihr den Liebestanz ihres Lebens. Oh, wie schön er sie anfasst, wie sanft er sie empor hebt – welche Perspektiven eröffnet er ihr mit dieser geträumten Fortsetzung des Spaziergangs, bei dem er sie nur hochhob wie ein kleines Mädel.
Jetzt fühlt Tatajana die erhebende, respektvolle Liebe in sich regieren – und sie genießt den Traum von diesem mysteriösen Mann, als sei es ihre Bestimmung.
Fatalerweise schreibt sie einen Liebesbrief an ihn. Ihre Amme (Martina Böckmann muss in diese Rolle noch etwas hineinwachsen und mehr Schauspiel abliefern) nimmt den Brief und sorgt dafür, dass er Onegin erreicht.
Die Enttäuschung könnte nicht größer sein: Bei nächster Gelegenheit gibt Onegin der süßen Tatjana den Brief zurück, zerzupft ihn in ihre geöffneten Hände. Herzlos, kalt, abweisend – so ist ein Onegin eben.
Für Tatjana bricht eine Welt zusammen. Endlich hatte sie sich verliebt – und nun das!
Sie kämpft um ihn, tanzt um ihr Leben mit entzückenden Sprüngen und fast aufdringlichen Chainés in seine Richtung. Ihre Pirouetten sind superbe und delikat, und es ist nicht zu glauben, dass er da nicht weich wird.
Yolanda Correa gelingt gerade dieses Solo mit unbedingter Meisterschaft.
Aber einem Onegin kann man nichts vormachen. Tatjana will Liebe – und er will nur Hedonismus. Sie sucht soziale Sicherheit, er den wechselhaften Genuss. Da passt halt nichts zusammen.
Als Onegin dann seinem Machismo frönt und der süßen Olga auch noch den Kopf verdreht – mit netten Komplimenten und großartig synchron getanzten Gesellschaftstänzen – begreift auch Lenski, dass sein Freund Onegin ein nicht gerade einfacher Mensch ist.
Und er lässt sich provozieren. Lenski fordert Onegin zum Duell. Alle ahnen, wie das ausgehen wird. Tatsächlich stirbt Lenski, von der Kugel getroffen – und Onegin, von Kummer schier zerfressen, reist ab, geht für viele Jahre auf Reisen.
Zehn Jahre später trifft er erneut auf Tatjana, die mittlerweile eine glücklich verheiratete Dame der höheren Gesellschaft ist.
Ihr Tanz mit Fürst Gremin, ihrem Gatten, stellt das dritte Beziehungsmodell hier vor: sanfter Einklang, gegenseitiges Verständnis und unbedingte Loyalität zueinander prägen es.
Konstantin Lorenz ist überraschend überzeugend als Gremin. Taktvoll und doch dominant lenkt er seine Tatjana, hält sie in wunderschönen Posen, charmiert ihr zu und macht allen klar, wie stolz er auf diese ungewöhnliche Person als angetraute Ehefrau ist.
Lorenz hatte sein Debüt in dieser Vorstellung, aber er hat die Sicherheit, das niemals merken zu lassen. Mit eingehender Mimik und gut getimeten Bewegungen bietet er Yolanda Correa die Möglichkeit, eine endlich glückliche Tatjana zu sein.
Aber oh weh! Onegin fängt Feuer, beginnt, die einst von ihm verschmähte Tatjana zu begehren. Ist es gar Liebe, die ihn da erwischt?
Er kündigt seinen Besuch mit einem Brief bei Tatjana an. Er will nicht mehr das luxuriöse Lotterleben des Einzelgängers führen, er will eine echte Frau küssen und zumindest erotisch in Besitz nehmen. Will er gar mit ihr durchbrennen?
Tatjana ist ängstlich. Fast panisch. Yolanda Correa lässt uns spüren, dass dieser Mann eine Attacke auf ihre bürgerliche Existenz ist. Kann sie doch ihre Jungmädchenträume von der Liebe nicht vergessen.
Gremin ist gar nicht beunruhight. Er kennt seine Frau und vertraut ihr. Vielleicht weiß er nicht mal, welche Verwüstungen die Liebe im Herzen einer empfindsamen Dame anrichten kann.
Onegin kommt. Tatjana bangt um ihr Seelenheil. Sie tanzen. Er begehrt sie, immer stärker. Er küsst sie in den Nacken, auf die Schulter. Sie bleibt kühl. Er wirbelt sie durch die Luft. Sie kann noch immer widerstehen.
Aber irgendwann hat er es fast geschafft. Fast.
Sie wiederum schafft es, ihm weiter innerlich zu entkommen. Und auch den Höhepunkt des Pas de deux kann er nicht nutzen, um sie mit sich zu nehmen.
Die „Hexensprünge“ tanzt Yolanda Correa sauber als Diagonale, nicht ganz auf Münchner Art, wie die meisten aktuellen Berliner Ballerinen es tun.
Nun ja, man erinnert sich schon manchmal wehmütig an die akkuraten, wie gestochenen, hochfliegenden „Hexensprünge“ von Nadja Saidakova, die darin wie ein Engel durch die Luft flog. Sie liegt ja am Boden, bevor Onegin sie nur an ihren Händen in die Luft hebt.
Manchmal helfen Onegin-Tänzer mit einem Arm am Rücken der Tänzerin nach. Aber der Originalchoreografie nach sollte es nur ein Handgriff mit gekreuzten Armen sein, der die Dame hier emporliftet.
Zwei Mal gibt es diesen Sprung, der beim Bayerischen Staatsballett in München traditionell als waagerechter Luftspagat ausgeführt wird.
Der aber im Original, vom Stuttgarter Ballett kommend, eine hoch geschwungene Diagonale als nachgerade vertikaler Luftspagat darstellen sollte.
Nadja Saidakova war eine Meisterin ohnegleichen in dieser komplizierten Sache, die doch so erhebend und begeisternd anzusehen ist.
Vielleicht wird Berlin irgendwann wieder eine Tatjana mit dieser Kompetenz haben. Es ist auch schön, die anderen Varianten zu sehen. Aber man wartet doch darauf, dass dieses Highlight der klassisch-modernen Ballettkunst wieder in voller Blüte erstrahlt.
Vom Ausdruck her stellt Yolanda Correa aber klar, dass sie eine echte Tatjana ist. Sie lässt sich nicht mehr beschwatzen von ihrem Onegin. Sie weiß ja, was für ein Egoist er ist. Und sie weiß, was sie an ihrem Glück mit Gremin hat. Das will sie nicht verlieren, nicht mal aufs Spiel setzen.
Und so jagt sie Onegin zum Teufel, schickt ihn weg, mit allem Zorn, den sie zehn Jahre lang für ihn aufgespart hat.
Wie ein geprügelter Hund schleicht er sich. Er hat keine Chance mehr bei dieser schönen starken Frau.
Aber auch Tatjana ist keineswegs erlöst oder wenigstens gelassen. Onegin hat in ihr an einer alten Wunde gerührt, und sie ist vielleicht kurz davor, zusammen zu brechen. Es kostet sie viel seelische Anstrengung, ruhig zu bleiben.
Zur Besiegelung ihrer Entscheidung, aufrichtig und treu bei Gremin zu bleiben, hebt sie die zu Fäusten geballten Hände und senkt ganz langsam über die Musik hinweg die Unterarme.
Tatjana wird durchhalten. Auch ohne die Erfüllung einer alles umfassenden, alles vereinnahmenden großen Liebe, die ein wilder Mann namens Onegin einst in ihr geweckt hat.
Der Applaus verkündet, dass das Publikum das genau verstanden hat. Danke.
Gisela Sonnenburg