Onegin mit Berliner Wumms Das Staatsballett Berlin zeigt zur Spielzeiteröffnung „Onegin“ von John Cranko in drei Besetzungen. Zuerst mit Aya Okumura und Dinu Tamazlacaru, Daniil Simkin und Evelina Godunova in den Hauptrollen

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Aya Okumura als Tatjana und Dinu Tamazlacaru als „Onegin“ nach ihren Rollendebüts mit dem Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Er ist wieder zu sehen! „Onegin“, der komplizierte Dandy, den der russische Dichter Alexander Puschkin einst erfand und der in der Ballettwelt von Stuttgart aus eine weitere Weltkarriere startete, tanzt seit gestern wieder in der Hauptstadt. Ach, endlich! Wie konnten wir es nur so lange ohne ihn aushalten?! Mikhail Kaniskin, wohl einer der besten Onegins überhaupt, tanzte im April 2019 ein letztes Mal die ganze Partie. Auf seiner Gala im August 2020 bot er uns immerhin den Schluss-Pas-de-deux zum vollen Genuss. Seither schmachtet Berlin nach weiteren Onegin-Events. Und jetzt gibt es beim Staatsballett Berlin (SBB) gleich drei neue Besetzungen. Es sind Newcomer dabei und gestandene Kräfte, doch werfen wir bei diesem Anlass zunächst einen Blick zurück: 1965 war die Uraufführung von „Onegin“ in der Choreografie von John Cranko, mit einem langatmigen Prolog, der wegfiel, als 1967 die noch heute gepielte, hoch brillante, emotional einnehmende zweite Version des Cranko-Stücks premierte. Heinz Clauss tanzte mit köstlich dekadent-hochmütigem Flair die Titelpartie, flankiert und pointiert von einer abgründig intelligenten Marcia Haydée als Tatjana. Was für ein Paar! Aber ursprünglich wollte Cranko das Stück für die Superstars Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn in London kreieren. Nur gefielen der Fonteyn seine Pläne mit vielen hohen Hebungen überhaupt nicht. Sie tanzte lieber relativ bodennah. Und so blieb das Konzept in Deutschland. Es ist Crankos Bestleistung und sowieso eines der besten Ballette des 20. Jahrhunderts. Reid Anderson, der selbst mal ein fulminanter Onegin war und mit Cranko arbeitete, half das Drama jetzt in Berlin erneut einzustudieren. Offiziell coacht Jane Bourne in Berlin, aber Anderson, ehemaliger Stuttgarter Ballettintendant, war höchstselbst angereist, um den Neulingen in ihren Rollen das spezielle Onegin-Feeling zu vermitteln. Den Start zur Spielzeiteröffnung machten gestern Dinu Tamazlacaru in der Titelrolle und Aya Okumura als Tatjana.

Dinu Tamazlacaru aus Moldawien, versierter, langjähriger Berliner Star, der seit dieser Spielzeit nurmehr Gastballerino beim SBB ist, debütierte in diesem Part, nachdem er bisher, also seit vielen Jahren, die zweite männliche Hauptrolle als Lenski virtuos interpretierte und damit auch bekannt wurde. Jetzt tanzt er also den draufgängerischen, arroganten Lebemann Onegin statt den lyrisch-empfindsamen Poeten Lenski.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Spagatsprünge und Lebenslust beim Staatsballett Berlin im ersten Akt in „Onegin“, hier mit Daniil Simkin (Lenski) und Evelina Godunova (Olga) vorn, gefolgt von Gregor Glocke und Partnerin. Yeah, yeah, yeah! Foto: Carlos Quezada

Vorab musste man sich angesichts des Profils des zarten, sprungmächtigen Dinu schon fragen: Wird das gutgehen? Er ist ein zauberhafter Melancholiker und ein strahlender Prinz. Aber ein Dandy, dem das Leben nur Genuss ist? Dinu Tamazlacaru steht – egal, was er tanzt – stets für das Streben im Menschen, für die Sehnsucht, für den Antrieb. Eugen Onegin, dieser reiche Erbe aus der russischen Oberschicht, ist genau das Gegenteil. Ein Nihilist, wenn man so will, kein Götterliebling, wie Tamazlacaru sie zumeist verkörpert.

Es ist also ein Experiment, das immerhin für den Geschmack der meisten Zuschauer:innen gelang. Mit offensichtlich hart erarbeiteter Nonchalance tanzt Tamazlacaru den lässigen Obermacho, der verführt, nur um bewundert zu werden. Er frönt als gut aussehender Onegin dem Narzismus, er schwelgt im eigenen Reichtum und in der eigenen Attraktivität. Er hat es seiner Meinung nach nicht nötig, andere Menschen wirklich wahrzunehmen, ihnen gerecht zu werden. Er ist sich selbst genug.

Solche Menschen gibt es ja, und seltsamerweise üben sie vor allem auf Menschen, die mit der Bereitschaft ausgestattet sind, altruistisch zu handeln, oft einen starken Reiz aus. Insofern geht Tamazlacarus Onegin-Konzept voll auf.

Denn die junge Landadlige Tatjana erschreckt sich, als sie ihn kommen sieht – um sich dann Hals über Kopf in ihn zu verlieben.

Und er? Er bemüht sich zum Schein um die junge belesene Dame, aber er demütigt sie alsbald, und er lässt sie, als sie ihm ihr Herz öffnet, eiskalt fallen. Onegin, das ist ein selbstverliebter, oberflächlicher Besserwisser, der dennoch mit soviel Leidenschaft durchs Leben geht, dass er niemanden kalt lässt.

Den inneren Stolz, den ein Mikhail Kaniskin, ein Wieslaw Dudek und ein Roberto Bolle dieser Rolle zu verleihen vermochten, bringt Tamazlacaru zwar nicht so stark zum Ausdruck. Aber er betont die überhebliche Lebenslust dieses Mannes und Herzensbrechers, der zu spät erkennen wird, dass er mit seiner übertriebenen Selbstliebe auch die Befähigung fürs Liebesglück selbst opferte. Das überzeugt und rührt – und wie es sich für eine „Onegin“-Vorstellung gehört, steigert sich der emotionale Druck bis zur letzten Sekunde.

Das liegt auch an der richtigen Tatjana. Für Tamazlacarus zierliche Bühnenpartnerin Aya Okumura war es gestern ein noch bedeutenderer Abend in ihrem Werdegang als für den berühmten Star: Die Solistin, die aus Tokio stammt, tanzt erst seit 2019 in Berlin und wagte sich nunmehr erstmals an eine so große Aufgabe.

Schließlich ist die Tatjana eine der wichtigsten Rollen der Ballettgeschichte. Nadja Saidakova, einst selbst eine vielfach bewunderte Berliner Tatjana, erarbeitete mit Okumura eine eigene Interpretation – und siehe da, auch als zunächst scheinbar stilles, aber von Beginn an souveränes Mädchen entfaltet diese Partie ungeheure feminine Kraft, mit der Passion eines Urweibs.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Dramatisch und entschieden: Aya Okumura als Tatjana und Dinu Tamazlacaru als „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin am 09.09.21 in der Staatsoper Unter den Linden. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei entwickelt sie sich von Szene zu Szene, ganz rollengemäß, vom unschlüssigen Mädel zur erblühten Schönheit. Wie sie Onegin neugierig bestaunt, sein Verständnis erheischen will und ihm all ihre Liebe offenbart – das ist einfach entzückend.

Und dann findet sie den ruhenden Pol des Lebens mit dem Petersburger Hocharistokraten Fürst Gremin, von Yevgeniy Khissamutdinov leider noch etwas blass, also zu sehr zurückhaltend, dargestellt. Für Tatjana bedeutet diese Ehe nicht nur steilen gesellschaftlichen Aufstieg, sondern auch emotionale Sicherheit. Denn Gremin verehrt und akzeptiert sie, auf Augenhöhe biegen sie die Arme ins Port de bras, und wenn Gremin seine Gattin hochhebt, dann scheint sie wie selbstverständlich zu schweben.

All das wäre mit Onegin nicht möglich. Der schönste Liebes-Pas-de-deux der beiden findet in Tatjanas Traum statt. Und wenn er sie da hochhebt, nun ja, dann geht es für sie direkt ins Paradies. Allerdings befindet sie sich auch am Boden, wenn sie ihn begehrend-bewundernd anschmachtet.

Tamazlacaru und Okumura: Sie geben ein durchaus schlüssiges Paar und Anti-Paar ab. Dass es zwischen ihnen funkt, in ihren Rollen, das spürt man – in künftigen Vorstellungen mögen sie diesen Aspekt, den des wortlosen Flirtens, noch verstärken.

Ihr Gegenspieler-Pärchen bilden hingegen die bereits miteinander erfahrenen Evelina Godunova als Olga, also als mustergültig lebenslustige Schwester der intellektuellen Tatjana, und Daniil Simkin als Lenski.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Evelina Godunova als Olga und Daniil Simkin als Lenski beim Schlussapplaus nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin. Top! Foto: Gisela Sonnenburg

Hier gibt es einen großen Hingucker! Daniil Simkin überrascht und beglückt mit wirklich innig gespielter, vollauf passionierter Darstellungsweise. Da ist nichts oberflächlich hingezutzelt, nichts ist routiniert ohne innere Anteilnahme abgespult. Im Gegenteil: Alle Emotionen des verliebten und heißblütigen, aber eben auch traumtänzerisch-leichtfüßigen Lenski werden fasslich.

Natürlich erscheint Simkin auch als das gewohnte Sprung- und Pirouettenwunder. Aber die Poesie der Posen und den Facettenreichtum der inneren Handlung hat er noch nie so ausgereizt wie jetzt. Sein Lenski ist jetzt in der Tat vorzüglich – und berührt ungemein, wenn er erkennen muss, dass sein Leben längst nicht so verläuft, wie er es wollte.

Aus Eifersucht – denn seine Verlobte Olga tanzt und scherzt nur zu gerne mit dem gut aussehenden Onegin – verlangt er von seinem Freund Genugtuung im Duell. Er ohrfeigt ihn – und wirft ihm den Handschuh als Forderung vor die Füße.

Alle wollen ihn davon abbringen, sich mit dem viel erfahreneren Onegin zu duellieren. Aber Lenski besteht auf sein Recht, sich ins Unglück zu stürzen. Simkin spielt das mit bärbeißiger Wut, mit heller Freude auch am Destruktiven – womit er sich quasi wie von selbst auch als Onegin empfiehlt.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Evelina Godunova (Olga) und Daniil Simkin (Lenski, und was für einer!) nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Und eines steht fest:

Simkins melancholisches, todessehnsüchtiges, zugleich aber auch vitales, äußerst sinnliches Solo als Lenski im Mondschein kurz vor Morgengrauen ist allein schon den Besuch der Vorstellung wert!

Seine charmante Bühnenpartnerin Evelina Godunova bleibt dagegen ein wenig an der Oberfläche, kommt vom fröhlichen Gestus des unbeschwerten Mädchens nur in den absoluten Kummerszenen weg. Wenn sie mit Onegin tanzt, so vermisst man die Koketterie, und auch Lenski gegenüber dürfte sie stärkere Flirtmanöver auffahren, als ihn nur anzuhimmeln. Olga hat es nämlich faustdick hinter den Ohren, sie hat sich raffinierterweise einen Verlobten geangelt, noch bevor ihre ältere Schwester es tat. Was damals unüblich war.

In den Posen und Hebungen, Umarmungen und Drehungen sind die beiden aber unvergesslich schön zusammen.

Vorhang

Rückblick auf den 26.02.2015: Ein magisches Quintett stand da beim Schlussapplaus mit dem Staatsballett Berlin mit Onegin (Wieslaw Dudek) in der Mitte, dazu Tatjana (Polina Semionova), Fürst Gremin (Martin Szymanski) und vorne rechts Olga (Iana Salenko) und Lenski (Dinu Tamazlacaru). Foto: Gisela Sonnenburg

Iana Salenko, die gerade ihre dritte Schwangerschaft genießt, war in der Vergangenheit allerdings sicher auch eine superbe Olga. Und als Lenski in Berlin setzte nicht nur ihr Gatte Marian Walter Maßstäbe, sondern vor allem auch ihr Berliner Förderer Vladimir Malakhov, an den man sich in Berlin immer mal wieder seufzend erinnert.

Als Lenski ist Daniil Simkin allerdings ein hundertprozentiger Weltstar, jemand, für den man Schlange stehen und zur Not ein Zelt aufschlagen würde! Mit ihm hat die  Berliner Aufführung jenen Wumms, für den man einst Ballettfan wurde.

Wer sich nun mit Yevgeniy Khissamutdinov als Gremin einen ebenbürtigen dritten Typus Mann im Stück erhofft, wird etwas enttäuscht. Zu altväterlich, zu zurückhaltend, zu wenig sinnlich kommt er in die Szene, wo er doch der Superfrau Tatjana zum auch erotischen Erblühen verhelfen soll. Da kann auch die schönste Choreografie nicht mehr viel retten – Tatjana kann ihre gute Ehe nicht mit sich selbst führen.

Auch das Ensemble vom SBB ist noch nicht ganz wieder da, wo es mal war. Über ein Jahrzehnt lang tanzte es den „Onegin“ besser als das Stuttgarter Ballett, was in diesem Fall wirklich was heißen will.

Und der Spaß, die Spielfreude, die hier unbedingt wichtig sind, sind auch heute da!

Aber in den Details liegt eben oft das Problem. Da gibt es diesen neckischen Folklore-Rundtanz der Mädchen in gelben Flattergewändern im Garten von Tatjanas Familie. Es handelt sich um griechische Folkloreschritte, die John Cranko balletös aufbrezelte und die im Rhythmus der Musik von Peter I. Tschaikowsky, von Kurt-Heinz Stolze bearbeitet, durchaus russisch anmuten.

Aber es ist ein Tanz im Kreis – und gestern tanzten die Damen eine Art wabbelige Eiformation. Da hätte man wohl mehr Proben ansetzen müssen.

Auch die Jungs müssen noch üben, und zwar nicht, hoch zu springen, sondern gut zu springen. Zu Beginn des zweiten Akts purzeln sie von rechts nach links herein, jeder mit einem eigenen, individuellen Sprung. Aber man sah gestern häufig mehr Wollen als Können, und die jungen Herren sprangen ziemlich zappelig recht hoch, noch höher – und sie landeten irgendwie, aber nicht schön, sodass man den Eindruck hatte, es gehe nur ums Angeben.

Die Sprünge sollen aber Ausdruck von Individualität und Lebensfreude sein, und weil es Ballettsprünge sind, müssen sie diszipliniert und in fester Form dargeboten werden. Sie dürfen nicht bemüht, verrissen oder verzappelt wirken, sondern müssen leichthin serviert werden, als sei es völlig mühelos, so zu springen.

Ganz exzellent klappten dafür die auch sehr wichtigen seriellen Spagatsprünge der Damen an den Händen ihrer Kavaliere, die im ersten Akt zwei Mal diagonal über die Bühne geboten werden. Fantastique, liebes SBB, das ist genau der Berliner Wumms, der mitreißt und auch im Tiefsten anrührt!

Onegin gewinnt mit dem Ensemble

Was für ein Highlight! Immer wieder! Seit 2003, denn seitdem ist das Ballett „Onegin“ in Berlin zu sehen. Das Ensemble vom Staatsballett Berlin zeigt hier die seriellen Spagatsprünge der Damen an den Händen ihrer Herren in „Onegin“ im ersten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Die Choreografie von John Cranko ist aber auch gerade an dieser Stelle im Stück gut durchdacht. Denn sie zeigt, wie sich in der Harmonie einer menschlichen Gruppe die Bedenken auflösen und die aggressiven Stimmungen zu munteren, kraftvollen und bildschönen Formationen finden.

Auch bei den reichlich vorhandenen Wiener-Walzer-Takten in den Ballszenen ist das Ensemble hervorragend aufgestellt, reißt mit, ist so lyrisch wie möglich und so taktsicher wie notwendig.

Dabei wechselt die Stimmung im Verlauf des Stücks immens.

Nachdem Onegin im Duell den Verlobten von Olga erschoss und sich auf Jahre von der Familie Olgas fernhielt, trifft er in Petersburg unverhofft erneut auf Tatjana.

Olga heiratet übrigens bei Puschkin und jenseits des Librettos des Cranko-Balletts bald einen anderen und verschwindet aus unserem Sichtrahmen in diesem Ballett. Aber Tatjana bleibt eben der Zielpunkt unserer Aufmerksamkeit!

In den Armen von Gremin zeigt sie, wozu eine glückliche Ehefrau in der Lage ist: Vertrauen führt zu schönsten Tänzen und Hebungen, zu harmonischen Linien und wahrhaft liebender Gestik.

Aya Okumura gelingt dieser Spagat zwischen schüchterner Melancholikerin, erblühter Liebender und dann – am Ende – als innerlich zerrissene, dennoch sowohl vernünftig als auch liebend handelnder Heldin zur Gänze. Brava!

Der Onegin von Dinu Tamazlacaru stößt ja zufällig auf diese Gesellschaft, er will seinen alten Bekannten Gremin mal wieder besuchen, nachdem er lange auf Reisen war.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin mit den schönen Damen vorn – beim Schussapplaus nach „Onegin“ zur Spielzeiteröffnung 21/22. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine Dame nach der anderen hat er dabei genossen, im Walzertakt und mit dem kennerischen Blick des Genießers.

Aber hat er überhaupt ein Herz? Fast glaubt man es in dieser Besetzung nicht. Dinu Tamazlacaru spielt und tanzt Eugen Onegin mit soviel Wumms und Karacho, dass das Feinfühlige ein wenig untergeht. Seltsamerweise passt das ins ruppige Berlin ebenso wie ins Libretto. Denn natürlich ist dieser Onegin hier kein Weichei und kein Schmusebär, sondern ein hartgesottener, abgebrühter Egomane.

Als er das Glück sieht, das von Tatjana ausgeht, da sie nicht mehr mit dem Landadel im Garten flaniert, sondern an der Spitze der Gesellschaft tänzelt, bemerkt Onegin, was ihm entgangen ist.

Sein Leben war rastlos, er fand kein Zentrum, keine Liebe, nur Begehren. Jetzt will er das, was er bisher verpasst hat.

Und Tatjana liebt ihn. Immer noch. Er weiß das. Er brachte als erster Mann überhaupt das in ihr zum Schwingen, das man unbedingt Liebe nennen muss.

Aber sein Charakter verspricht keinen Hauptgewinn!

Und so entscheidet sich Tatjana, als Onegin sie heimlich allein aufsucht und ihrem neuen, idyllisch konzipierten Leben sozusagen aufstöbert wie der wilde Fuchs die brave Henne, letztlich gegen ihn. Allerdings wird es knapp, ach, es wird ja so knapp, dass sie sich nicht doch mit Haut und Haaren auf ihn einlässt. Und das ist so spannend!

Die „Hexensprünge“ fast am Ende führt Aya Okumura auf Münchner Art aus, also als horizontale Spagatsprünge, und nicht, wie im Original, als vertikale Spagatsprünge.

Ihre Passion aber hält und hält und hält – und lässt den Part der Tatjana taufrisch aussehen!

Dieser Pas de deux fasst denn auch zusammen, worum es in diesem modernen Klassiker geht: Um die Vielfalt der Liebe, aber auch darum, Verzicht zu üben, wenn das dem eigentlichen Ideal dient.

Die Musik, von Kurz-Heinz Stolze auf der Grundlage verschiedener Stücke wie „Francesca da Rimini“ von Peter I. Tschaikowsky erstellt, unterstützt das starke Pathos des Stücks unbedingt.

"Onegin" beim Staatsballett Berlin

Dirigent Ido Arad beim Schlussapplaus nach „Onegin“ auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden – yeah! Foto: Gisela Sonnenburg

Ido Arad, der unter anderem an der Universität der Künste in Berlin ausgebildet wurde, dirigierte gestern mit ergreifender Feinfühligkeit die brillant aufspielende Staatskapelle Berlin. Arad beginnt den „Onegin“ ganz weich und sanft, steigert die Musik kontinuierlich über Volltönigkeit und Festigkeit bis hin zum großen Dramaklang im dritten Akt. Ganz wunderbar! Und was für ein Berliner Wumms!

„Onegin“ – nach wie vor bedeutet er ein ethisch wirksames, erhebendes, aber auch beglückendes und ergreifendes Tanz-Spektakel. Da ist es unbegreiflich, dass es für die Folgevorstellungen noch Tickets gibt, zumal man sich durch die Abstandsregelungen im Zuschauersaal wirklich sicher fühlen kann. Also nichts wie hin!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

ballett journal