Jede Frau ist hier eine Prinzessin: Bei dem russisch-amerikanischen Neoklassizisten George Balanchine dürfen die Damen oftmals eine Krone tragen. Auch in „Jewels“ von 1967 ist es so: Auffälliger Kopfschmuck ist fester Bestandteil der Kostüme der Weiblichkeit, ob für die „Emeralds“, die „Rubies“ oder die „Diamonds“. Diesen drei Edelsteinen – Smaragden, Rubinen, Diamanten – ist das Ballett gewidmet, und es lotet nacheinander die Stimmungen aus, die Balanchine mit ihren verband. Auf der zweiten Ebene, der ballettbezogenen, spiegeln die drei Teile zudem die für Balanchine wichtigen drei Schulen des klassischen Tanzes: die französische, die italienische, die russische. Die dänische Stilrichtung fehlt in „Jewels“hingegen ganz, ebenso wie die Saphire, die, gemmologisch betrachtet, ebenbürtig zu den großen Vier der Edelsteinwelt zählen. Vergebens hoffe ich seit Jahren, dass sich ein Choreograf erbarmt und – am besten vor oder nach den roten „Rubies“ – oder auch ganz vorab – einen impressionistischen vierten Teil zusätzlich zu Balanchines Juwelen anbietet. Zumal es Saphire in Blau, Gelb, Rot, Orange und sogar Olivgrün gibt – man könnte also im dänischen Stil ein munteres Konfetti-Ballett hintupfen, in scharfem Kontrast zu den abschließenden weißen „Diamonds“. Aber anscheinend ist es wenig inspirierend, Balanchines Gedanken zu vervollständigen. Oder ist die Ehrfurcht vor dem Genie ein Hemmnis? Den meisten Ballettchefs genügt wohl bereits der Aufwand, den es an sich schon bedeutet, mit den vorgeschriebenen Probenleitern vom Balanchine Trust zu arbeiten, um die Lizenz für ein Stück wie „Jewels“ zu erhalten. So auch beim Staatsballett Berlin (SBB), wo die „Jewels“ wieder munter auf den Spielplan geklackert sind. Gelandet sind sie – statt in der vom Festlichkeitsfaktor her besser passenden Staatsoper Unter den Linden– in der Deutschen Oper Berlin, wo sie früher auch schon getanzt wurden, und wo sie vom Ambiente des Zuschauersaals in ihrer Modernität betont werden. Der begeisternde Film- und BallettdirigentRobert Reimer lässt dazu die Musiken von Gabriel Fauré, Igor Stravinsky und Peter I. Tschaikowsky so zart und dennoch kräftig erklingen, dass allein schon der Ohrenschmaus den Vorstellungsbesuch lohnt. Leben und Tod finden sich in dieser Musik… Und dann erst der Tanz dazu! Das sind „Jewels“ auf Wunschniveau.
Und zwar in Top-Besetzung: So brillierten Polina Semionova und Alejandro Virelles bei der Wiederaufnahme, als wären die diamantenen Pas de deux just für sie erfunden worden.
Gerade auch für die Fans von Polina freut es einen zu sehen, wie virtuos und doch herzlich sie die russische Klassik zu präsentieren weiß. Und Alejandro wird mit seinen formvollendet eleganten Sprüngen und seiner souveränen, stets gelassen wirkenden Heiterkeit weiter Anhänger gewinnen durch diesen Part, in dem er im übrigen soeben sein Debüt beging.
Aber auch die Zweitbesetzung der Diamanten begeistert: Mikhail Kaniskin, der bereits 2016 diesen Part mit Polina tanzte, bietet ihr heuer ebenfalls seine breiten Schultern und kräftigen Arme, um sie als virtuoser Primoballerino brillieren zu lassen.
Eigentlich war er mit Aurora Dickie besetzt, die eine sehr akkurate Balanchine-Tänzerin ist, aber eine etwas bodenständigere, darum vielleicht umso interessantere Interpretation anbieten würde. Doch Dickies Debüt am 17. Oktober 2019 entfiel, sie wird es im Juni 2020 nachholen; statt ihrer beglückte erneut Polina Semionova die Herzen der Zuschauer.
Ende Oktober 2019 wird dann ein weiteres glamouröses Paar – für nicht wenige Fans ist es das am meisten Besondere in Berlin – als Diamanten-Duo auftanzen: Iana Salenko mit ihrem Ehemann Marian Walter.
Salenko wechselt somit von den Rubies, die sie früher tanzte, zu den Diamanten, während der famose Dinu Tamazlacaru, der früher mit Salenko in den Rubinen auftanzte, dieses am 31. Oktober 2019 zusammen mit Yolanda Correa machen wird. Ich verspreche mir davon eine absolut delikate Darbietung!
Zu Beginn aber heißt es: Kraft tanken und entspannen bei den elegisch-eleganten, melancholisch-märchenhaften Smaragden.
Elisa Carrillo Cabrera ist hier die bewährte Majestät im wadenlangen, glockigen Tüllrock zum smaragdgrünen Mieder. Wunderschön ist der Eindruck ihrer fein geführten Ports de bras und des schwebenden Spitzentanzes im Walzertakt!
Wie eine Frühlingsfee, die den Sonnenschein genießt… mit Grandezza und doch auch dem Esprit des Meditativen.
Zusammen mit Konstantin Lorenz als Bühnenpartner vermag sie es, in die Sphäre äußerster Erhabenheit bei sehnsuchtsvoller Grundierung vorzudringen.
Lorenz ist ein interessanter Fall. Nur langsam entwickelte er sich bisher, aber: Allein schon von seinem Debüt hier zu seiner jetzt zweiten Vorstellung in den „Emeralds“ waren unübersehbar Fortschritte zu erkennen. Sanft, weich, elegant und sicher in der Linienführung gewinnt er an lyrischem Flair, ist beim Partnern ein zuverlässiger, starker Mann und lässt bei den Solo-Sprüngen und Pirouetten den Mut des Abenteurers erkennen. Bravo! Hier lohnt sich die harte Arbeit, für die auch die Berliner Ballettmeister bravourös einstehen.
Für den Balanchine-Trust zeichnet der hoch renommierte Ben Huys bei den „Emeralds“ verantwortlich – das SBB profitiert eindeutig von seinem Sinn für Form, Erhabenheit und Verspieltheit.
Ebenfalls ein vorzügliches Debüt gab Jenni Schäferhoff ab. Sie, die in der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet wurde und schon beim Semperoper Ballett in Dresden höchst positiv auffiel, darf endlich auch dem Berliner Publikum zeigen, was sie kann.
Im Solo ebenso wie als Paar mit Alexej Orlenco gelingen ihr wunderbare Phrasen, die von Verträumtheit und Perfektion gleichermaßen künden. Selbstbewusst, aber nicht aufdringlich charmiert sie zu den walzernden Klängen von Fauré, ganz musikalisch und anrührend. Auch die schwierigen langen, gestaksten Nur-auf-Spitze-Laufen-Schritte im Solo wie am Arm ihres Partners meistert sie, und ihre gedrehten Balancés, nun ja, die haben einen so hochkarätigen Charme, dass man sie wieder und wieder sehen möchte.
Alexej Orlenco beweist einmal mehr, wieviel Solistenblut er in sich hat und wie sicher er hohe Springkunst mit Ausdrucksstärke und Präsenz zu verbinden weiß. Er ist hier der männlich personifizierte Frühling, verleiht dem glühenden „Jardin“, also dem „Garten“, wie man die kostbaren Einschlüsse in Smaragden nennt, ihr wahres Feuer.
Und außer den wirklich edelmütigen zehn Damen des Corps de ballet, die in ihren Tendu-Posen und Cambrés so anmutig wirken wie ein Ballett aus lebendigem Blattwerk oder auch aus grazil ziselierten Metallbändern, gibt es da noch dieses fantastische Trio, das aus einer ganz andern Welt als die Paare und die Damengruppe zu kommen scheint.
Fröhlich und rückhaltlos lächelnd begeistert hierin Alexander Bird zwar nicht mit Technik pur, aber mit einer strahlenden Expressivität, die einfach Freude macht!
Die beiden Ladies zu seinen Seiten – Luciana Voltolini und Aya Okumura– wissen das offensichtlich auch zu schätzen, sie trippeln und springen wie beflügelt mit Bird über die Bühne.
Und dennoch wird dieses Stück – die „Smaragde“ – stets getragen von einem Quäntchen Melancholie, und wenn man zu Tränen gerührt wird, so mischen sich Tränen der Freude mit solchen der Wehmut.
Da kommt einem ein Vers aus den „Sonetten an Orpheus“ von Rainer Maria Rilke in den Sinn, und Orpheus als Wanderer zwischen den Welten des Lebens und des Todes ist auch hier der beste Zeuge für die Bedeutung von wahrer Schönheit für die Qualität des Lebens:
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
So ist diese sehnsuchtsvolle, unbedingt erhabene, aber sehr wohl um den Tod wissende Fröhlichkeit, die auch in der Musik von Gabriel Fauré steckt.
Robert Reimer spielt diese romantisch-unheimliche Note voll aus, lässt das Orchester der Deutschen Oper Berlin wogen und schwelgen – und keine Sekunde in der Konzentration nachlassen. Bravo, Bravo, Bravo!
Die Musik entstammt übrigens den Bühnenmusiken „Pelléas et Mélisande“ und „Shylock“ von Fauré, beide sind kurz vor 1900 entstanden.
1900 wiederum ist das Jahr, in dem Sigmund Freuds „Traumdeutung“ erstmals publiziert wurde, und die wichtigste Erkenntnis, die Freud darin formuliert – dass es Schichten des Bewussten und des Unbewussten gibt, welche mit verschieden starken Kräften wirken können – hat auch Einfluss auf die Kultur insgesamt ausgeübt. Auch aufs Ballett!
Und so vereinen sich in den smaragdenen Tänzen von Balanchine bewusste und unbewusste Einflüsse, denen der Choreograf ausgesetzt war und die seine Seele nach außen zu spiegeln vermochte…
Seelenkraft! Das ist, was hier die Damen und Herren zu Prinzen und Prinzessinnen macht.
Da sind die funkelnden Diademe und die Glitzersteine auf den Gewändern fast nur luxuriöser Zusatz.
Die Kostüme für die Uraufführung von „Jewels“ (1967) kreierte Balanchines langjährige Komplizin der Klamotten im Kampf des Schönen gegen die Schwerkraft namens Barbara Karinska.
Fürs Staatsballett Berlin empfand Lorenzo Caprile diese Entwürfe nach, interpretierte nicht wirklich neu, sondern passte seine Ideen den Originalen an wie eine Nachdichtung sich dem ursprünglichen Text anpasst.
Für die so oder so spärlich gehaltenen Bühnenbilder gilt Ähnliches, für Berlin kommen sie von Pepe Leal. Dass hier überhaupt mehr als Licht den Tanzboden bereitet, kann man durchaus diskutieren.
Denn natürlich kann man sich fragen, ob es Sinn macht, mit der Bühnenausstattung kaum Eigenes auszusagen, sondern einfach nur die Wirkung des Tanzes und des Themas zu bekräftigen. Man könnte sich schließlich auch ganz andere, vielfältigere Möglichkeiten vorstellen, um hier Atmosphäre und zusätzliche Gedanken mit den Räumen zu evozieren.
Wenigstens stören die Kulissen hier nicht.
Für die „Emeralds“ gibt es Textilien: in Form eines smaragdgrünen, in Falten gelegten Vorhangs im Hintergrund und samtener, schwer wirkender Gassenverbrämungen seitlich.
Die „Rubies“ haben statische rote Blitze in der Sphäre, und über den „Diamonds“ schwebt eine Reihe mattmetallfarbener Kristalle, die allerdings – ob gewollt oder ungewollt – nach Weltraummüll aussehen. Sci-Fi-Elemente am Himmelszelt?!
Für die Kostüme – so, wie Balanchine sie wollte – gilt hingegen, dass sie eine Mischung aus Disney-World-Kostümen und Romantik des 19. Jahrhunderts sind. Umso erstaunlicher, dass sich noch nie jemand beschwert hat, dieses Ballett sei veraltet oder zu nostalgisch oder sonst irgendwie unzeitgemäß.
Es scheint, dass „Jewels“ jenen Nerv in uns, der für Märchen, aber nicht für Kitsch zuständig ist, exakt trifft.
Seit Mai 2016 sind die „Juwelen“ ja beim SBB beheimatet, aber dank der hohen Schwierigkeitsgrade in diesem Dreiteiler wird es damit dem Publikum wie den TänzerInnen niemals langweilig.
Einen harten Kontrast zu den elegisch-sanften Smaragden bilden denn auch die furios-feurigen Rubine.
Die Musik von Igor Strawinsky – vom Orchester der Deutschen Oper Berlin sowie von Alina Pronina am Klavier mit wunderbar zackiger, dennoch leichtherziger Haltung präsentiert – ist aber auch ein Alarmsignal für die Sinne. Achtung, Aufwachen, hier geht die Post ab!
Das „Capriccio für Klavier und Orchester“ von 1929 komponierteStrawinsky, um es selbst als Pianist uraufzuführen. Es greift Einflüsse aus dem Jazz auf und ist einerseits keck und ironisch, andererseits aber auch mit akkuratem Stakkato unterwegs. Dennoch wird einem Harmonie hier nachgerade untergejubelt – es ist die aufgedrehte Untergangsstimmung, die hier fasziniert.
Drei Solisten haben das Vergnügen, dazu mit furiosen Pirouetten, blitzschnellen Sprüngen und schelmischen Zitaten aus der Tier-Körpersprache zu brillieren. Dizzy und durchgedreht darf hier alles sein, jeder Schritt, jede Hebung, jede Pose, wiewohl die technische Perfidie höchste Anspannung erfordert.
Evelina Godunova und Daniil Simkin gaben ihre Debüts in völliger Übereinstimmung und mit begeisternder Verve!
Sie betonen das Schräge, Alberne, Abgedrehte ihres choreografierten Flirts.
Und wenn Daniil Evelina im Passé auf den Spitzenschuh stellt, um sie dann loszulassen, dann hat das was von Experiment, von Puppenspiel, von scherzhaftem Ausprobieren. Weil sie dann aber akkurat stehen bleibt und nicht ein Jota wackelt, obsiegt auch hier die Virtuosität.
Selbiges gilt für die Drehfiguren: Wie eine Marionette lässt sich die Ballerina von ihrem Kavalier biegen und beugen, drehen und schwenken. Und verbleibt in jedem Bruchteil einer Sekunde: bildschön und fit in Form.
Ganz im Sinne des alten Balanchine, dem es gar nicht technisch perfekt genug sein konnte.
Was im übrigen nicht nur sein Vorzug, sondern – als Choreograf – auch sein Schwachpunkt war: Seine Handlungsballette leiden an inhaltlicher Anämie, sind auf formale Höhepunkte zugespitzt, und anders als in seinen Themenballetten gelingt es Mister B. in seinen dramatischen Stücken nicht, vollends einen eigenen Weltentwurf abzuliefern. Charme haben sie dennoch, und selbstredend sind sie sehenswert, auch wenn sie eben nicht so intensiv geraten sind wie zum Beispiel seine Juwelen.
An der Choreografie zu „Jewels“ ist indes wirklich schwerlich herumzumeckern.
Außer den fantastischen Pas de deux und Soli, Pas de trois und Pas de Cinq bestehen auch die Corps-Szenen jedes noch so kritische Ansehen.
Die Gruppenformationen sind Kleinode für sich, Ballette im Ballett, die man im übrigen am besten aus den Rängen erkennen kann.
Wenn man die geometrischen Qualitäten von Balanchines Balletten nicht übersieht, eröffnet sich stets noch eine weitere Perspektive.
Auch die Soli leben nicht nur von den Momentaufnahmen, die sie in großer Schönheit vorleben. Sondern auch die geometrischen Konstrukte, die eine Pose mit der nächsten verbinden, sind ein besonderes Augenmerk wert.
Man möchte eine Fliege sein, um all das en detail zu würdigen! Fliegen verarbeiten nämlich rund 260 Bilder pro Sekunde mit ihren kongenialen Facettenaugen, während wir Menschen es nur auf läppische 24 pro Sekunde bringen.
Ich bin mir sicher, die kultivierte Fliege von heute wird mir da trotz oder wegen ihres scharfen Blicks Recht geben:
Wenn Daniil Simkin hier so schelmisch springt, als mache er damit gerade einen Witz, und wenn Evelina Godunova dazu selbstbewusst und kokettierend tänzelt, dann ist das schon ganz große Kunst, keine Frage!
Dennoch freut man sich auch auf den 31. Oktober 2019, weil Dinu Tamazlacaru mit Yolanda Correa höchstwahrscheinlich noch ein ganz eigenes Format aus den „Rubies“ machen wird. Man darf gespannt sein.
Derweil gibt es einen dritten Solo-Part in diesem Teilstück, und den darf man nicht vergessen:
Julia Golitsina tanzt in allen Besetzungen diese Partie einer Außenseiterin, in die sie sich seit der Premiere 2016 eingefühlt hat wie in eine zweite Haut.
Der für „Rubies“ hier zuständige Coach vom Balanchine-Trust, die verehrte Grande Dame Patricia Neary, hat Julia selbst ausgewählt für diesen Part und immer wieder betont, wie sehr sie sich dadurch an ihre eigene Präsenz als Ballerina in dieser Choreografie erinnert sieht.
Spitz und spritzig, sportiv und spontan wirkt Golitsina– und ihren besten Momenten auch sexy wie ein weiblicher Sprengkörper: Man weiß nie, wann es voll losgeht mit ihr.
Da mag man an die Beschreibung der Rose in Rainer Maria Rilkes „Sonetten an Orpheus“ denken:
Rose, du thronende, denen im Altertum
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.
Bemerkenswert aber auch das Jungsquintett, das unter der Führung von Daniil Simkin abzockt und abhottet wie eine Horde wild gewordener Kadetten. Aber mit soviel Selbstironie, dass man unwillkürlich schmunzeln und lachen muss. Wow!
Die roten Kostüme mit ihren Uniformjacken wirken ohnehin wie eine Mischung aus Militärparodie und Karnevalsoutfit.
Und das Glitzergesteck im Haar der Damen lässt keinen Zweifel: Wir befinden uns in einer Fantasiewelt, die Konventionen und herkömmliche Erwartungen nach besten Kräften aufzubrechen sucht.
Ganz im Kontrast dazu stehen dann die „Diamonds“. Nach der zweiten Pause ist das Publikum eher aufgelockert, aber auf der Bühne triumphiert jetzt die großartige russische Klassik. Und sie reißt in ihren Bann, fasziniert vom ersten Szenenbild an, sowie der Vorhang den Blick frei gibt auf eine Schar liebreizende junge Damen in Weiß.
Die Musik von Tschaikowsky ist leicht, walzernd, beharrend, sie stammt aus seiner 3. Sinfonie in D-Dur („Die Polnische“) von 1875 (deren ersten Satz, der zart, fast zögerlich und wie von fern die Stimmung weiter Landschaften aufbaut, ließ Balanchine entfallen).
Wieder ergötzen die Gruppen-Environments – und natürlich das Paar, das hier ein Fest des Lebens zelebriert, als seien Weihnachten und Silvester und alle Geburtstage der Welt auf einen Tag gelegt worden.
Polina Semionova ist genau die Richtige im internationalen Reigen der bedeutenden Ballerinen, um hier voll zu erblühen!
Sie ist am Bolschoi in Moskau ausgebildet worden, die strenge, aber durch und durch anmutige Schönheit der Klassik liegt ihr wie nichts sonst. Das hier ist ihr Bravour-Stück, und sie tanzt es heute noch besser als 2016, mit feinsinnigen Nuancen und doch ganz im Sinne des Erfinders Balanchine.
„Raymonda“, „Dornröschen“, Odette, Odile – die ganze russische Petipa-Klassik steckt hier drin, und Polina zeigt das Eine wie das Andere mit hohem Mut und perfekter Ausarbeitung. Und: mit einer Lebensfreude, die ihresgleichen sucht!
Sowohl Alejandro Virelles als auch Mikhail Kaniskin– die beiden sind alternierend besetzt – sind fantastische Partner, mit Schwung und Souveränität, mit Eleganz und Noblesse.
Das Miteinander von Mann und Frau ist in diesem Pas de deux ganz besonders schön zu betrachten. Wie er sie präsentiert, ihr hilft, sie wörtlich beflügelt! Und wie sie zum Dank mit ihm Blicke tauscht, sich anschmiegt, in weiche Posen geht!
Kaniskin ist ein Meister im Partnern, und wie Polina hat er die Schule des Bolschoi genossen. Das macht die beiden hier zu einem Paar aus demselben Holz, und wenn sie synchron tanzen – was gen Ende der „Diamonds“ sehr wichtig ist – dann hängt der Himmel voller Geigen, sozusagen.
Aber auch Alejandro Virelles reizt die Choreografie für sich voll aus. Majestätisch, sinnlich, formvollendet, niemals nachlässig, aber auch nie ungelenk – so muss der Kavalier in „Diamonds“ sein!
Schließlich ist es die Prinzenliebe, die hier das Prinzessinnenglück zu dem macht, was es ist – Mann und Frau begegnen sich auf Augenhöhe, sind auch in den Soli funkelnde Edelsteine, aber im engen Zusammenspiel ist der Mann die stärkende Fassung für die Frau, auf dass deren Schönheiten noch stärker aufblitzen.
Ballet is woman – dieser Leitspruch von George Balanchine (dessen „Don’t eat less, eat nothing!“ dem in gewissem Sinne entgegen steht) bestätigt sich in den „Diamonds“ immer wieder.
Aber so begeisternd die Grands jetés der Herren en manège (und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn) und die Fouettés, Penchés und Chainés der Dame auch sind – wenn Polina ihre linke Hand an ihren Hinterkopf legt und solchermaßen die „Raymonda“-Pose zitiert, dann ist der Spirit dieses Stücks erst wirklich komplett.
Alles Mädchenhafte dieser Welt, das dennoch die tätige Weiblichkeit impliziert, liegt in dieser Geste!
Als Antwort stützen die Ensemble-Damen ihre Hände manchmal ein, ganz leicht folkloristisch sind auch ihre Fußarbeiten charakterisiert.
Und die Sache steigert sich… ein Finale vom Feinsten bahnt sich an!
Schließlich bleiben auch die Damen hier nicht solo. Das Herren-Corps hat bald viel zu tun mit ihnen.
Sandra Jennings, die für den Balanchine-Trust nach Berlin kam, um die tanzenden Diamanten mit den besonderen Weihen auszustatten, wird hoffentlich ihre Freude gehabt haben.
Besonders Alicia Ruben und Tabatha Rumeur – die als Hauptpart vom Mädchen-Corps in den „Diamonds“ dort tanzt, steht, kniet, wo 2016 Lisa Breuker (heute als Lisa Pavlov der neue Star beim Badischen Staatstheater Karlsruhe) tanzte, stand, kniete – bezaubert mit weichen, schwingenden, dennoch strikt klassischen Bewegungen. Was für eine Augenweide!
Vielleicht bringt dieser Part ja heimlich Glück: Tabatha Rumeur und Alicia Ruben empfehlen sich jedenfalls für Solo-Aufgaben.
Vier schöne solistische Paare gibt es hier schon – Sarah Hees-Hochster, Cécile Kaltenbach, Clotilde Tran und Luciana Voltolini mit den Herren Cameron Hunter, Nikolay Korypaev, Konstantin Lorenz und Alexander Shpak. Sie zelebrieren das Leben als Duo in der Gruppe, und im Kontext von Balanchines Kreuzwegen, Reigen, Kreisen, Dreiecken und Polonaisen hat das eine speziellen anregenden Geschmack.
Schließlich tanzen alle 34 Diamanten, also alle Tänzerinnen und Tänzer des Stücks, synchron, bewegen sich in einer großen Apotheose mit einer prachtvollen Referenz, es ist eine Parade der Anmut, Développés ouvertes nach vorn und Spitzentanz der Damen inbegriffen – und wie in einem Kaleidoskop entstehen nochmals geometrisch gesetzte, wechselnde Formen, die einem den Atem mit ihrer Schönheit rauben.
Hier passen die Endverse aus Rilkes „Sonette an Orpheus“:
Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.
Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.
Denn wenn alles getan ist, kniet der Kavalier vor seiner Primaballerina, beide öffnen die Arme für das Publikum, und die gesamte Bühne scheint vor Glück und Zuversicht zu beben.
Gisela Sonnenburg
P.S. Während das Berliner Ballettpublikum sich den Balanchine-Juwelen widmete, verstarb in Havanna am 17. Oktober 2019 die kubanische Ballettlegende und frühe Balanchine-Ballerina Alicia Alonso (98). Sie tanzte in Balanchines kleiner Truppe Caravan, bevor sie ein Star wurde. Von 1940 bis 1959 tanzte sie in New York beim American Ballet Theater – auch noch, nachdem sie wegen einer schweren Augenerkrankung fast erblindete. Mit ihrem Ehemann Fernando Alonso, der sie stets in ihren Vorhaben unterstützte, leitete sie dann das Kubanische Nationalballett. Der sozialistischen Idee blieb sie, die weltweit verehrte Ballettikone, lebenslang ebenso treu wie den Idealen des Balletts.
Noch einmal passt ein Zitat aus Rilkes „Sonette an Orpheus“:
Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen -,
andere schicktet ihr scheu vorbei.
Aber die Schönste wird bleiben -, bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziss.
Adíos, Alicia Alonso!