Liebe, Tanz und Weltverbesserung Luxusbesetzung mit vier Ersten Solisten: „Giselle“ erstmals mit Iana Salenko und Daniil Simkin vom Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin, mit Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera in weiteren Rollen

Hochkarätige Stars tanzen „Giselle“ beim Staatsballett Berlin, hier beim Schlussapplaus, von links nach rechts: Elisa Carrillo Cabrera, Daniil Simkin, Iana Salenko (vorn), neben ihr Mikhail Kaniskin. Bravo! Foto aus der Deutschen Oper Berlin vom 4.10.2019: Gisela Sonnenburg

Ist es nur eine romantische Idee, tränenreich die Welt verbessern zu wollen? Oder ist es sogar doch eine kluge? Zählt letztlich allein der materielle Fortschritt? Oder ist der zivilisatorische Fortschritt das eigentliche Ziel? Wo steht darin die Liebe? Und der Tanz? Frauen, die sich ihren Geliebten nicht nach sozialen Gesichtspunkten aussuchen, sondern die nach dem Herzen gehen – sind sie die eigentlichen Revoluzzerinnen? Zumal, wenn sie tanzen? Und ist Tanz die höchste Kunstform, wenn es um Freiheit geht? Gerade das Ballett mit seinen zahlreichen Regeln und Idealvorstellungen formuliert eine starke Loslösung von gesellschaftlichen Konventionen. Es setzt eigene Wertigkeiten: Anmut gegen Schwerkraft, Zartheit gegen Druck. Und das wirft immer wieder sinnvolle Fragen auf. Vor allem Handlungsballette zeitigen neben sinnlichem Vergnügen die Kraft der Debatte, wenn es um Gesellschaftskritik geht. „Giselle“, 1841 in Paris uraufgeführt, zeigt unter dem Deckmantel des romantischen Liebesideals die Opferung und Rache des weiblichen Geschlechts, wenn es seinen ureigenen femininen Gefühlen nicht nachkommen darf. Das Publikum saugt diese vielschichtige Lovestory begierig auf, zumal die Musik von Adolphe Adam einen folkoristisch-eleganten Klangteppich erschafft. Seit 2000 zählt die Inszenierung von „Giselle“ durch Patrice Bart, ehemaliger  Assistent von Rudolf Nurejew in Paris, denn auch zu den Lieblingsballetten des Berliner Publikums. Von Bart soeben persönlich aufgefrischt und neu einstudiert, begeistert das Stück jetzt in vielfacher Starbesetzung mit dem Staatsballett Berlin (SBB) in der Deutschen Oper Berlin. Iana Salenko und Daniil Simkin, Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera beglücken vor allem in einem fulminanten zweiten Akt, in dem auch Luciana Voltolini und Iana Balova für Highlights sorgen. Bravo! Was für eine Luxusbesetzung!

Stars und Damen-Corps vom Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus nach „Giselle“ von Patrice Bart, mit Luciana Voltolini (inks) und Iana Balova (rechts) außen. Foto: Gisela Sonnenburg

Das gut durchdachte, im ersten Akt mit Farben des Indian Summer berückende, im zweiten Akt klassisch mit Mondlicht im Wald bezaubernde Bühnenbild nebst Kostümausstattung von Peter Farmer besteht somit – nach dem Schiller Theater und der Staatsoper Unter den Linden– seinen dritten Spielort innerhalb der letzten Jahre ohne Verluste.

Und Paul Connelly erweist sich einmal mehr als glamouröser Ballettdirigent, der sowohl die Tänzer noch die Zuschauer mitnimmt: in den siebenten Balletthimmel, sozusagen.

Ach, und schon die Ouvertüre erzählt von so stürmischen Gefühlen!

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin legt sich mächtig ins Zeug, um Connellys Ansprüchen zu genügen – und gerade in den hohen Lagen im Gegensatz tiefen Bässen entfesseln sich akkurat Wellen der Dramatik.

Der erste Akt sprüht dann zunächst nur so vor Fröhlichkeit – und die wohlbehalten aus der zweiten Babypause zurückgekehrte Primaballerina Iana Salenko ist genau die Richtige, um als verliebtes Dorfmädel Giselle die Bühne zu ihrer Arena der Emotionen zu machen.

Herzlicher Szenenapplaus für die bildhübsche Salenko brandet auf, als sie aufs Spielfeld tänzelt!

Ihre Ballonés sind von schwebender Power, dennoch wirkt sie ganz bodenständig, wenn sie hier im ersten Akt erwartungsfroh den Tag begrüßt. Zwei Verehrer hat Giselle, doch nur der Eine hat ihr Herz gewonnen: Albrecht, der ihr seine wahre Identität als Herzog verheimlicht und sich als Bauernjunge Loys ausgibt.

Iana Salenko und Daniil Simkin mit Mikhail Kaniskin (hinter ihnen) und dem Staatsballett Berlin nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Daniil Simkin tanzt diesen Adligen, der zugleich ein Hallodri ist: mit der gebührenden Hitzigkeit und doch mit kontrolliert noblen hohen Sprüngen. Charmant macht er Giselle den Hof, wirft ihr lauthals quietschende Kusshände zu, umwirbt sie mit Blicken, Händen, auch mit einem gemeinsamen Rhythmus.

Doch sein Rivale, der von Giselle abgewiesene Wildhüter Hilarion, ist auf der Hut.

Mikhail Kaniskin tanzt mit exzellenter Unnachgiebigkeit und hellwacher Bestimmtheit diesen Verlierer in Sachen Liebe, der zu Unrecht so oft trottelig oder dümmlich dargestellt wird. Hilarion ist nämlich das Gegenteil: Er beobachtet und bemerkt, dass mit Albrecht etwas nicht stimmt. Und er ist es, der Albrecht dann auch enttarnt.

Zunächst aber wird die Weinernte mit Tänzen und spielerischen Aktionen gefeiert.

Ulian Topor und – eines der Debüts am Freitag – Yuria Isaka zelebrieren mit Drive den Bauern-Pas-de-deux, der in dieser Version von neckischen Corps-Szenen in seiner Grand-Pas-de-deux-Struktur etwas aufgebrochen wird.

Giselle, als hübscheste im ganzen Dorf, wird zur Weinkönigin gekürt.

Die gute Laune sprüht hier nur so Funken!

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Ein stark auratischer Hilarion: Mikhail Kaniskin beim Schlussapplaus nach „Giselle“ von Patrice Bart mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Die adlige Gesellschaft, die von der Jagd im Dorf zu rasten gedenkt, stellt einen weiteren Teil dieser Gesellschaft hier vor. Der Prinz von Kurland – durch die hohe Gestalt von Rishat Yulbarisov als Gast bei seiner ehemaligen Truppe, dem SBB, verkörpert – ist nämlich der avisierte künftige Schwiegervater von Albrecht, und seine Tochter Bathilde (mit großer Freundlichkeit von Julia Golitsina dargestellt) ist auch dabei. Ihr Verlobungsring funkelt prächtig!

Giselle ist ganz angetan von der Pracht der kostbaren Gewänder, und über ihre Bewunderung entwickelt sich zwischen ihr und Bathilde ein Band des gegenseitigen Interesses.

Doch als sich herausstellt, dass Albrecht mit Bathilde verlobt ist, wird der Anflug einer Menage à trois rasch gesprengt.

Giselle kann es kaum fassen, dass sie betrogen wurde. Sie, deren Herz von vornherein schwach war und sie beim Tanzen mitunter aussetzen ließ, wird nun im Schnelldurchgang wahnsinnig und tödlich erregt. Sie stirbt an gebrochenem Herzen, im Sprung, in Albrechts Armen – er bereut zu spät.

Oh, und wie raffiniert ist dieser Tod eines Mädchens in Szene gesetzt!

Das Standbild, als sich der Vorhang nach dem Schließen noch einmal öffnet, brennt sich ins Gedächtnis ein: Giselle liegt leblos bei ihrer um sie trauernden Mutter, die Dorfgesellschaft ist im Entsetzen erstarrt.

Der Liebestod einer jungen Frau erschüttert eine Gemeinschaft.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Applaus und teilweise stehende Ovationen auch vorm Vorhang: Iana Salenko und Daniil Simkin nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Spätestens hier bemerkt man, dass es in „Giselle“ nicht nur um persönliches Leid, sondern auch um Gesellschaftskritik geht. Denn Albrecht hat sein doppeltes Spiel nicht nur gespielt, um sich ganz frech neben seiner Verlobten eine Geliebte zu halten. Er umging damit auch einen Graben, der ihn und Giselle sonst immer getrennt hätte: Standesschranken wirken so stark wie Stacheldraht, und nicht selten sind sie noch unüberwindbarer.

Menschen, die in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten heranwachsen, haben demnach kaum eine Chance, in Liebe zueinander zu finden. Aber genau das kritisiert das Libretto von „Giselle“, und mehr noch als der erste Akt tut es der zweite.

Hier nämlich spielt eine große Rolle, dass die von der patriarchalen Unterdrückung betroffenen Personen in erster Linie junge Frauen sind.

Lauter Bräute, die vor der Hochzeit verstorben sind, geistern hier in so bildschöner wie gruseliger Manier durch den Wald! Sie wollen sich am männlichen Geschlecht rächen und locken mit ihren grazilen Brautfiguren und Blumen im Haar junge Herren bei Nacht an, um sie dann zu umzingeln und in den Tod zu tanzen.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Hier ein Ausschnitt aus einem berühmten historischen Bild: Vaslav Nijinski und Tamara Karsavina in „Giselle“ bei den Ballets Russes. Welche Passion in den Augen und den Posen! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Was für eine Idee! Die Wilis, so werden die weißen Frauen genannt, sind von Heinrich Heine inspiriert worden, und Théophile Gautier, der französische Feuilletonist und Schriftsteller, schilderte in einem offenen Brief an Heine im Juli 1841, wie sich aus den geisterhaften Vamps, die Heine in seinen „Elementargeistern“, aber auch in anderen Schriften nennt und beschreibt, die Geschichte von „Giselle“ entwickelt hat.

Dankenswerterweise ist er im Programmheft des SBB nachzulesen.

Es ist hingegen nicht überliefert, ob Henri Heiné, wie sich Heine im Pariser Exil nannte, das Ballett jemals sehen konnte, denn sein schlechter körperlicher Zustand zwang ihn überwiegend in seine von ihm satirisch so genannte „Matratzengruft“, also ins heimische Bett. Wo er aber immerhin dichten konnte – und wo weitere anrührende Werke entstanden.

Die gesellschaftszersetzende Kraft der Liebe, die sie mitunter entfalten kann, spielt auch darin nicht selten eine Rolle.

Und das Staatsballett Berlin dreht auf!

Exzellente Corps-Arbeit: Die Damen vom Staatsballett Berlin im weißen Akt von „Giselle“ – ein Genuss! Foto: Yan Revazov

Endlich zeigt das Corps de ballet mal wieder, wozu es in der Lage ist!

Die Damen trippeln anmutig über die blaulichterne Bühne, parallel und synchron heben sie ihre Beine unter den langen weißen Tüllröcken in Arabeskenposen – und bewegen sich so zart und präzise wie es eigentlich nur echte Geister können. Verdienter Szenenapplaus!

Man erlebt diesen Rausch, den ein ballet blanc typischerweise auslösen soll – und man darf ihn genießen, ohne Nebenwirkungen befürchten zu müssen.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Luciana Voltolini tanzt superbe die Partie von Moyna – zusammen mit Iana Balova als Zulmé ergibt sie  ein absolut sehenswertes Frauenduo in „Giselle“ von Patrice Bart beim Staatsballett Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Luciana Voltolini als Moyna und Iana Balova als Zulmé – sie sind Novizinnen bei den Wilis – tanzen zudem superbe Soli und Duette. Beide sind ganz wunderbare Solistinnen von ganz eigener Ausdruckskraft, und gäbe es beim SBB nicht schon eine Riege veritabler Stardamen, so wären hier die Principals zu sehen.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Iana Balova (Zulmé) mit Wili-Kolleginnen vom Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus nach „Giselle“. Foto: Gisela Sonnenburg

Da geht einem das Herz auf, wenn einem soviel weibliche Anmut und keusche Sinnlichkeit, vereint mit konziser klassischer Tanzkunst,  begegnet!

Unendlich viel Flair verströmt aber auch Elisa Carrillo Cabrera als Myrtha, die Königin der Wilis.

Mit Grazie bis zum Anschlag des überhaupt nur Denkbaren, dennoch mit der Kühle und Transparenz, die diese Partie benötigt, streckt sie die Gliedmaße in die Luft. Sie dirigiert so gewissermaßen die Energieströme, lenkt die Wilis und die geistigen Kräfte auf der Bühne hin und her. Mit Blumenzweigen und mit Glitzerzepter – oder auch nur durch Ports de bras und sanfte Kopfneigungen.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera (ganz rechts) und ihr schöner Fuß mit den Wilis vom Staatsballett Berlin und Mikhail Kaniskin als Hilarion beim Schlussapplaus nach „Giselle“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihre Füße bilden zudem Kunstwerke für sich: hoch elegant und von unnachahmlicher Kraft. Auf ihnen trippelt diese Myrtha alias Elisa Carrillo Cabrera durch die Sphäre, als gebe es kein Gestern und keine Zukunft, nur Gegenwart. Immer wieder nur die Gegenwart des Moments!

Es ist schon ein gewisser Luxus, die bravouröse Mexikanerin, eine Primaballerina und ein internationaler Star, in dieser Rolle zu sehen, zumal in Ergänzung zur wundersam schwebenden Iana Salenko als „Giselle“.

Salenkos Unterarme müssen von Elfen höchstpersönlich in der Kunst des Tanzens unterrichtet worden sein; ihre geschmeidigen Beine fliegen mit ihr zudem über die Bühne, als sei die ganze zierliche Person aus Luft und Zuckerwatte gewebt.

Herzensgüte strahlt sie hier aus, vereint mit der Bereitschaft, aus Liebe alles zu tun…

Und dann die jungen Herren!

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Mikhail Kaniskin (links), das Staatsballett Berlin und Iana Salenko mit Daniil Simkin (rechts) nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Mikhail Kaniskin als Hilarion traut sich todesmutig in den Wald, wo Giselle unter einem Kreuz begraben liegt. Es ist nicht geklärt, ob man sie als Selbstmörderin eingestuft hat oder ob sie unehelich schwanger war – Fakt ist, dass ihr der Friedhof für die ewige Ruhe verweigert wurde und wir ihr Grab deutlich in des Waldes Wildnis vorfinden.

Hilarion müsste von Giselles Mutter wissen, wie gefährlich es ist, sich in das Einzugsgebiet der Wilis zu wagen. Sie hatte auch ihre Tochter gewarnt…

Aber die Liebe – auch die unerfüllte – steht den Ängsten siegreich gegenüber.

Für Hilarion eine tödliche Verwegenheit, denn niemand hilft ihm, als ihn die Wilis entdecken und ihn zu Tode hetzen.

Mit großer auratischer Kraft tanzt Kaniskin diesen armen Wildhüter, der für die Liebe stirbt und eigentlich ein Held darin ist. Bis zur absoluten Erschöpfung muss er springen und laufen… und die Wilis geben ihm den Rest.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Mikhail Kaniskin (Hilarion) und die Wilis vom Staatsballett Berlin, ganz rechts Königin Myrtha alias Kaniskins Gattin, die Primaballerina und Prix-de-Benois-Preisträgerin Elisa Carrillo Cabrera. Schlussapplaus-Foto aus der Deutschen Oper Berlin: Gisela Sonnenburg

Wird Albrecht dasselbe Schicksal ereilen?

Wehmütig begibt er sich zu Giselles Grab…

Daniil Simkin ist ganz der reuige, dennoch stetig liebeshungrige Mann, als der Albrecht in die Ballettgeschichte eingegangen ist.

Zerknirscht will er um Giselle trauern…

… und sie erscheint ihm!

Das ist das Glück desjenigen, der liebt und wiedergeliebt wird:

Giselle erklärt sich bereit, ihm zu verzeihen und, mehr noch, ihm gegen die Macht der Wilis zu helfen.

Wie liebevoll sind ihre Pas de deux! Was für ein Paar: Der reuige Sünder und die sensible Untote!

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Iana Salenko und Daniil Simkin beim Schlussapplaus nach „Giselle“ am 4.10.2019. Wowowowow! Foto: Gisela Sonnenburg

Die Hebungen und Posen in diesem zweiten Akt sind legendär, und es gibt viele Paare der Ballettgeschichte, die sich damit in die Herzen der Zuschauer und auch ins Gedächtnis der Nachwelt eingeschrieben haben.

Darunter auch Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru, die in der Tat gerade als Giselle und Albrecht einander mustergültig ergänzen. Man hofft, sie im kommenden Jahr – ab Mai 2020 – in Berlin wieder gemeinsam besetzt zu sehen.

Aktuell reüssiert Daniil Simkin an der Seite von La Salenko – und macht seine Sache sehr gut.

Hoch getaktete, vornehm angeschlagene Cabrioles, mitreißende Vielfach-Pirouetten und vorzügliche Grand jetés in aller Variationsvielfalt weisen den versierten Startänzer aus. Auch sein Partnern hat ein delikates Timing, und die pantomimischen Parts hat Patrice Bart auch ihm einleuchtend nahe gebracht.

Nur, wenn Simkin als Albrecht erschöpft aus den Pirouette heraus zu Boden sinken muss, sollte er das mit weniger Schmiss ausführen – es ist ja kein Platsch, den die Choreografie hier vorsieht, sondern ein elegantes, schwereloses Hingegossensein.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Noch ein Blick auf die Bühne beim Schlussapplaus nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Raffiniertheit der Choreografie trägt im übrigen für Kenner unübersehbar an vielen Stellen die Züge der Handschrift von Marius Petipa, der die Pariser Urchoreografie in Sankt Petersburg überformte und ihr 1887 ihr jetziges Gesicht verlieh. Die Grundlagen dazu stammen von der Uraufführung von 1841, die von Jean Coralli und Jules Perrot mit ziemlich heißer Nadel gestrickt wurden. 1910 brachten die Ballets Russes– mit Tamara Karsavina und Vaslav Nijinski in den Hauptrollen – „Giselle“ aus Russland wieder zurück nach Frankreich, wo es bis dahin kaum noch bekannt war. Doch im 20. Jahrhundert entwickelte sich ein regelrechter internationaler „Giselle“-Boom, mit Inszenierungen bei nahezu allen renommierten Compagnien.

Patrice Bart nun hat den stark russisch gewordenen Impetus von „Giselle“ wieder mit verstärkt französischen Akzenten gestärkt.

So dürfen die Bauerntänze im ersten Akt mitunter Anklänge an den Cancanhaben, und die weich fließenden, vielfältigen Armarbeiten der Tänzerinnen vor allem auch im zweiten Akt sprechen Bände über die französische Auffassung von weiblicher Schönheit.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Die Damen om Staatsballett Berlin als Wilis beim Schlussapplaus nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin – ein Oh-und-Ah-Erlebnis für jeden Ballettfan! Foto: Gisela Sonnenburg

Die lyrische Macht der Musik, sich von feinsinnigen Melodien und beschwingten Walzermetren nährend, unterstützt diese eloquente Vornehmheit der Körper, wie Bart sie in Szene setzte.

Und so nimmt das Unvermeidliche seinen Lauf: Albrecht wird dank der tapferen Giselle gerettet, sie übernimmt ein Pensum seines Tanz-Solls, sodass er überlebt.

Als die Glocke zum Morgen schlägt, ist die Geisternacht überwunden.

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Giselle und Albrecht müssen voneinander Abschied nehmen… nie wieder werden sie miteinander tanzen… nie wieder einander umarmen… nie wieder sich küssen.

Herzzerreißend und doch von großer moralischer Schönheit ist dieses Ende!

Mit Iana Salenko findet die Berliner „Giselle“ ihre nicht nur, aber auch erotisch stimmungsvolle Ausprägung, die der Existenz von wahrhaftiger Liebe unbedingt Recht gibt.

Welche Femme fatale verbirgt sich hinter den weißen Unschuldsschleiern!

Wieviel Seele bis in die Fingerspitzen! Aber auch wieviel Anziehungskraft in den Hüften!

Nur ein Mädchen, das die Sinnlichkeit nicht verleugnet, kann diese Kraft entfalten!

Die Stars und das Damen-Corps vom Staatsballett Berlin nach „Giselle“ beim begeisterten Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Daniil Simkin als Albrecht ist glaubhaft davon verzaubert, und als sie direkt vor ihm im Boden verschwindet, aufrecht stehend mit vor der Brust gekreuzten Armen, schon ganz eine Wili, da bleibt ihm nur noch die Erinnerung.

Mit den weißen Lilien im Arm, mit denen er zu ihrem Grabstein kam, kommt er ein letztes Mal auf uns zu, versonnen und dankbar, rührend und gerührt.

Und die Blumen, die zu Boden fallen, erzählen von all den Tränen der Frauen um jene hochgestellten Männer, die für eine Überwindung der Standesschranken nicht stark genug sind.
Gisela Sonnenburg

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