Man lernt nie aus über die Liebe und ihre Grausamkeiten. „Anna Karenina“, dieser Mammutroman von Leo Tolstoi, diente schon etlichen Choreografen als Ballettvorlage, um Frauen in der Liebesfalle zu zeigen, und die Version von Christian Spuck ist eine der höchst erfolgreichen. Mit neuen Rollenbesetzungen brilliert das Stück in München beim Bayerischen Staatsballett – und zeigt, wie sehr die Typologie eine Konfliktstruktur verändern kann. Allen voran betrifft das die Hauptperson: Kristina Lind in der Titelrolle wirkt weich und verletzlich, dennoch elegant und beherrscht. Diese Anna erblüht nicht nur, als sie sich dem Ehebruch hingibt, sondern es ist zugleich, als weiche ihre Schutzschale auf. Eine sehr interessante Interpretation mit zahlreichen Effekten!
Mit ihrem Kind bleibt diese Anna Karenina aber bis zum Ende innig, und einfühlsam und zärtlich ist sie auch im Umgang mit ihrer geplagten Schwägerin Dolly, deren Gatte – also Annas Mann – ein Spezialist in Untreue ist. Der ewige Schürzenjäger sorgt für viel Kummer im Frauenherz!
Jeanette Kakareka zeigt als Dolly, wie eine ebenfalls eher softe als kämpferische Persönlichkeit in der Beziehung mit einem so unverbindlichen, rücksichtslosen Mann leidet.
Verzweifelt ist sie in den Streitigkeiten mit ihm, nicht angriffslustig, wie diese Partie in der Gestaltung von Elvina Ibraimova angelegt wird (ebenfalls vom Bayerischen Staatsballett).
Alexey Dobikov als Dollys Ehemann Stiwa gibt sich passenderweise egoman, arrogant und ignorant; das Leid seiner Frau ist ihm, wenn nicht ganz egal, so doch fast noch eine Genugtuung. Als sie sich vor ihm, dem Scheusal mit dem ungebremsten Trieb, verkriecht, lässt er sie in der Ecke wimmern wie ein verletztes Tier.
Er merkt fast zu spät, dass er zu weit ging…
Genau das Gegenteil, aber ebenso extrem und überzogen, ist das Verhalten von Annas Ehemann, dem machtgeilen Erfolgsmenschen Alexej Karenin.
Emilio Pavan tanzt den lieblosen, in Formalien erstarrten Gatten, er ist kalt und hart, und nur manchmal blitzt famoserweise ein wenig familiäres Gefühl auf.
In dieses Konzert aus den beiden feinfühligen Damen und den zwei jeder auf seine Art polternden Herrn stolpert mit dem quicken Jinhao Zhang als Graf Alexej Wronski ein ebenso vornehmer wie emotional bereichernder junger Mann.
Man kann die Karenina verstehen, dass sie sich von diesem stürmischen Adligen im Nu verführen lässt. Es ist eine Amour fou wie aus dem schwülstigen Poesiebilderbuch: Die vernachlässigte Ehefrau verfällt den Reizen des hingebungsvollen Liebhabers.
Dass auch dieser – wie alle Männer hier – eigentlich nur an sich und ans eigene Vergnügen denkt, macht die Sache weder besser noch schlechter. In den Momenten der bravourös absolvierten Paartänze der beiden funkelt hier das Liebesglück mit der ihm eigenen Kraft der Isolation: Niemand kommt an das im erotischen Zauber völlig befangene Pärchen heran.
Die Liebenden wirken wie aus der Welt Gefallene, deren Bindung ans irdische Dasein irgendwie nicht mehr so richtig hält.
Dabei wäre auch Wronski beinahe nicht mehr frei gewesen. Denn die noch ganz junge Kitty ist in ihn verliebt und will ihn heiraten, und dass er sie abweist, ist für das Mädel ein schwerer Schock.
Die in München eben erst engagierte Erste Solistin Maria Baranova erhält mit dieser Partie der Kitty die Gelegenheit, viele Facetten einer zunächst unglücklich begehrenden, später aber erfüllt liebenden Frau zu zeigen. Und sie macht ein fulminantes Debüt daraus!
Kitty ist es hingegen, die in diesem Karussell der Liebe noch das große Los ziehen wird.
Was sie aber nur langsam bemerkt. Denn zunächst erscheint ihr das Leben höchst unfair, als der schöne Wronski sie nicht haben will.
Doch da gibt es ja noch den redlichen Landadligen Kostja Lewin, von Dmitrii Vyskubenko leider etwas schlapp und blass dargestellt. Dabei verkörpert er hier den perfekten Partner einer liebesbedürftigen Frau, und dass er hartnäckig um seine große Liebe Kitty buhlt, kommt ihm zusätzlich zu Gute.
Und Baranova, die bereits bei John Neumeier in Hamburg tanzte, dann über Helsinki und Boston eine veritable Karriere hinlegte und jetzt wieder in Deutschland erfreut, ist wirklich keine naive Teenagerbraut.
Ziemlich erwachsen wirkt sie, fast selbstbestimmt ist ihre Kitty, und nicht etwa unreif, sondern sehr zielstrebig geht sie voran.
Sie kocht vor Wut, als Wronski ihr einen Korb gibt, aber ihr vornehmes Naturell – von Maria Baranova nahtlos eingebracht – lässt sie den Kopf hochhalten.
Als sie bei Kostja Lewin um Verzeihung bittet (schließlich hat sie ihn zuvor rüde als missliebigen Verehrer behandelt), gibt er zögerlich nach – und ab diesem Zeitpunkt wachsen Freundschaft und Liebe gemeinsam in den beiden Menschen heran.
Auf ihrer Hochzeit sind sie dann die besten Turteltauben, die man sich nur denken kann, und von allen Frauen, die Tolstoi und Spuck hier vorstellen, ist Kitty die Einzige, die beinahe beneidenswert ist.
Das Zweckbündnis, das sie eingeht, wird zu einer großartigen Liebesgeschichte; Gemeinsamkeiten und Harmonie vereinen die Partner.
Dennoch bleibt es beim Beinahe in Sachen Glück, denn prägend ist auch hier die indiskutable Abhängigkeit der Frauen von den Männern.
Das Patriarchat formt und deformiert die einzelnen Mitglieder seiner Gesellschaft.
Das gilt für die Männer ebenso wie für die Frauen.
Großkotzig und selbstsüchtig zeigen sich die Herren der Schöpfung; vulgär in ihrer Devotheit und unaufrichtig in ihrer Heuchelei ist die Damenwelt. Und dabei sind die Frauen hier oft genug die Leidtragenden…
Und doch gibt es da eine Ausnahme: Betsy, famos getanzt und gespielt von Prisca Zeisel, glänzt als vergnügungssüchtige und durchaus dominante Dame von Welt, die sich stets mehrere Verehrer hält, auch, um diese zu demütigen.
Die feine Gesellschaft hier ist kalt und oberflächlich, und Betsy führt diesen Reigen aus Mitläufern und Schickeria an.
Somit sind es fünf Frauen, die hier in plastisch choreografierten Szenen und unterstützt von den repräsentativen, dennoch schnörkellosen Kostümen von Emma Ryott ihr jeweiliges Lebensmodell vorführen.
Doch nur eine von ihnen erreicht das, was man Zufriedenheit und dauerhaften Glückszustand nennen könnte… wobei der Preis dafür vorab zu zahlen war: mit der Akzeptanz einer schmerzhaften Liebeszurückweisung.
Schmerzhaft wird auch das seelische Leben von Anna Karenina, und Kristina Lind lässt eindrücklich spüren, wie wenig eine Beziehung, die auf Sex pur aufgebaut ist, befriedigt.
Als Anna vom Land, wo sie mit Wronski lebt, zurück in die Stadt kommt, um ihren Sohn zu besuchen, muss sie erkennen, dass sie zu einer Ausgestoßenen wurde, die moralisch und menschlich völlig entrechtet ist.
Sie nimmt Morphium, entwickelt Wahnvorstellungen, läuft in die tödliche Falle von Eifersuchtsattacken, als ihr Geliebter Wronski mit einer schönen Prinzessin flirtet.
Natürlich ist das ein Klischeebild, wie es sich Männer nur allzu gern von Frauen ausmalen, die ihnen in irgendeiner Hinsicht – und sei es in sexueller – überlegen sind.
Tolstoi hat hier seinem Affen Zucker gegeben und der kleingeistigen Moral, der er zunächst auf Hunderten von Buchseiten scheinbar energisch entgegen tritt, letztlich doch noch einen Zuspruch erteilt.
Eine Frau, die sich für ein sexuelles Abenteuer scheiden lässt, muss wahnsinnig sein – so die platte Formel des Adels wie des Bürgertums, um Frauen weiterhin patriarchal unterdrücken zu können.
Frau wünscht sich darum nichts sehnlicher als ein neues Ende für Anna Karenina – traurig ist die ganze Geschichte ja ohnehin schon zur Genüge, auch ohne den Selbstmord der Titelfigur.
Christian Spuck lässt sie ein letztes großes Solo tanzen, und Kristina Lind wirkt zunächst zauberhaft zerbrechlich darin, dann mitleiderregend elendig…
Dann siegt der Zug, der auf einen Vorhang projiziert wird und vor den sich die Verzweifelte wirft. Und obwohl die Musik einfach weiterspielt, ist Anna Karenina somit unter dem Druck der Verhältnisse längst zusammengebrochen.
Großer Applaus im vollen Haus vom Nationaltheater in München besiegelt die Vorzüge dieser Neubesetzung, in der gerade die ersten Damen vom Bayerischen Staatsballett unvergessliche Auftritte haben.
Dem Bühnenpaar Lind– Zhang kam dabei zu Gute, dass es bereits die Partien von Kitty und Kostja Lewin zusammen getanzt hat und sich in der Formensprache von Spucks Ballett somit bereits früher gegenseitig unterstützt hat.
Auch die Sängerin Alyona Abramowa, deren gänsehauttreibender Sopran hier häufig erklingt und die, auf der Bühne wandelnd, indirekt ins Geschehen eingreifen darf, erhält zurecht viel Zuspruch.
Selbiges gilt für Adrian Oetiker, den Pianisten.
Und Robertas Servenikas dirigiert das Bayerische Staatsorchester mit den nicht eben unkomplizierten Klängen von Sergej Rachmaninow und Witold Lutoslawski stark motiviert – es ist ein Abend mit Weihen: zu Ehren der liebenden Frauen und ihrer Leidensgeschichten.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Wieder in dieser Besetzung am Samstag, 12. Oktober 2019