Haarige Spiele für Außerirdische Das Staatsballett Berlin vergnügt sich in „Ekman / Eyal“ mit Gags und Techno-Sound

Zwei Top-Ballerinen so, wie sie sind: Polina Semionova (links) und Ksenia Ovsyanick (rechts) in „LIB“ von Alexander Ekman in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Was ist das? Es ist rätselhaft und dennoch modisch; es ist haarig und dennoch gut rasiert; es bewegt sich zu Musik und hat doch mit herkömmlichem Bühnentanz nicht viel zu tun. Die Rede ist vom neuen Werk des schwedischen Witzchoreografen Alexander Ekman, der 2010 mit „Cacti“ einen zurecht bejubelten Welthit schuf und jetzt mit dem Staatsballett Berlin (SBB) ein eher haariges Thema aufarbeitet: eben Haare. „LIB“ bzw. „Lib“ nennt er sein Werk, als Abkürzung von „Liberation“ (Befreiung), auch wenn „Hair“ (Haar) passender gewesen wäre. Denn fellartige Perückenkostüme spielen zu nostalgischer Bar- und Popmusik die Hauptrollen. Fred Feuerstein lebt, so die Botschaft! Hochkarätig, mit Top-Ballerinen wie Polina Semionova besetzt, bringt das Werk zum Lächeln und Lachen, was in der oft bierernsten Welt der Avantgarde ein fetter Pluspunkt ist. So hell die Bühne der Staatsoper Unter den Linden dafür ausgeleuchtet ist, so düster bleibt sie jedoch im zweiten Teil des „Ekman / Eyal“ genannten Abends: Sharon Eyal sorgt nämlich pflichtgemäß für keine Überraschung; sie wird international für stets denselben Stil und dasselbe Ambiente gebucht und hat – mal wieder – einen Cluster aus schwarz, aber spärlich  gekleideten Tänzern in nebelverhangener Düsternis platziert. „Strong“ heißt ihr somit uraufgeführtes Techno-Ballett, und die Botschaft, dass die Protagonisten sich „strong“, also stark und überlegen fühlen, kommt auch rüber. Aber ist das nicht gefährlich nah an Arno Breker? Ähnlich wie in den jüngeren Werken von Martin Schläpfer– der demnächst als Ballettdirektor vom Ballett am Rhein an die Wiener Staatsoper geht, skandalöserweise – ist das Weltbild von Sharon Eyal offenbar so schlicht, dass Geilheit, Stärke und Anpassung die höchsten Tugenden darin sind, während für Zartheit, Zärtlichkeit und intime soziale Interaktion kein Platz ist. Für Humor übrigens auch nicht. Aber was ist nun wirklich dekadent?

Völlig abgedreht und dennoch sinnvoll ist zunächst das urwitzige, kongeniale Vorspiel, das sich Alexander Ekman für seine Kreation „Lib“ einfallen ließ.

Mit einem gefühlt zwei Meter hohen Perückenturm auf dem Kopf, der auch das Gesicht verdeckt, stolziert ein Protagonist im Anzug (Johnny McMillan) während des Einlasses an der Rampe und auf der Bühne herum, präsentiert sich auch mal ganz frontal dem Publikum. Sehr zeitgemäß: Es dürfen Handyfotos gemacht und es darf herzlich geschmunzelt werden.

Als der Mann einfach umkippt, befürchtet man schon – wegen der vielen hell-schwarzen Haare – einen Hitzeschlag. Aber er rappelt sich wieder auf und nimmt prompt auf dem bereit stehenden Stuhl Platz. Dort sitzt er dann und schaut – ohne zu schauen – mit seinem Fellgesicht auf die übrige Bühne, in deren Hintergrund eine Videoprojektion ein bewegtes Bild abgibt, im Rechteck-Format und auf Augenhöhe, wie in einer Galerie oder einem Museum. Das Sujet des Bildes: Haare, was sonst.

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Diese kleine Performance ist so suffisant, so bärbeißig und so köstlich affig, dass sie den Kunstbetrieb in bester feinsinnig-satirischer Tradition persifliert. Vor allem trifft diese Vorspiel-Szene den Betrieb der zeitgenössischen Bildenden Kunst, in der es nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um Assoziationen und vor allem um das Geld der Spekulanten, die mit dieser Kunst handeln, geht.

Ekman kratzt – ob willentlich oder aus unbewusster künstlerischer Treffsicherheit heraus – ordentlich am Image jener Combo von Millionären, die, zumeist aus dem Westen kommend, in Berlin heimlich das Sagen haben. Eines ihrer Lieblingsspielzeuge ist nämlich die Spekulation mit Kunst, vor allem mit zeitgenössischer, die in einigen Jahren entweder ein  Vielfaches ihres heutigen Kaufpreises oder fast gar nichts mehr wert sein wird.

Insofern ist das hier endlich mal wieder staatskritische Staatskultur!

Dass sie ausgerechnet von einem Schweden kommt, den mit Deutschland nur seine Einstudierungen und Uraufführungen verbinden, ist vielleicht nicht mal zufällig. Er hat zumindest nicht das Problem, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Zu zahm sind viele andere Künstler der jüngeren Generationen.

Da ist Alexander Ekman anders. Frisch, frech und fröhlich inszeniert er frei von der Leber weg – und tritt eben auch mal heftig zu, ohne allerdings degoutant oder obszön zu werden.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera mit Kolleginnen und haarigem Mann: Witz ohne Worte beim Staatsballett Berlin in „LIB“ von Alexander Ekman, zu sehen in „Ekman / Eyal“. Foto: Jubal Battisti

Viele im Zuschauerraum werden die Analogie zum Kunstmarkt, die er mit seinen Arbeiten zieht, leider gar nicht erkennen. Und zwar deshalb nicht, weil sie den Kunstmarkt, der das heimliche eigentliche Sujet im Lebenswerk von Ekman ist, nicht genügend kennen.

Im Vorspiel zu „Lib“ werden indes deutlich Zeichen gesetzt.

Man kann das Bild an der Wand auf der Bühne nicht übersehen, und auch das Spiel des Protagonisten mit dem in den Zuschauerraum strömenden Publikum ist keine Kritik am Zirkus oder an der Revue, auch keine Referenz an sie, sondern hat eindeutig mit dem Museumsbetrieb zu tun, der heutzutage auch von Performances und von zu Kunst erklärten Symposien („diskursives Format“, früher: „Rahmenprogramm“) lebt.

Lib“ oder „LIB“: Ob die drei Buchstaben aus dem Titel auch für „Love is beautiful“ – „Liebe ist schön“ – stehen, kann man überlegen, ist aber nicht zwangsläufig so zu interpretieren.

Die Abkürzung von „Liberation“ hingegen ergibt sich ohne Möglichkeit des Ausweichens aus folgendem Statement des Choreografen zu seiner Arbeit:

„Befreie dich vom System, den sozialen Normen oder den Gewohnheiten deines Lebens, begreife, dass du nicht hineinpassen musst.“ Das kann ernst oder ironisch, provozierend oder sarkastisch gemeint sein. Und es ist alles eine Frage der Grenzziehung.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Tanz sollte der deutschen Rechtschreibung nicht widersprechen müssen: Szene aus „LIB“ von Alexander Ekman in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Kleine Anmerkung: Im Programmheft ist „dich“, „dein“ und „du“ groß geschrieben, was eine falsche Rechtschreibung ist.

Denn „Du“, „Dir“ und „Dein“ dürfen im Deutschen nur dann groß geschrieben werden, wenn sie als direkte Anrede in einem Anschreiben (dazu zählen auch E-Mails und SMS) verwendet werden.

Hier geht es aber nicht um einen offenen Brief an den Zuschauer, sondern um einen Aufruf an alle, die diesen Satz lesen.

Den Choreografen trifft nun keine Schuld daran, dass das Staatsballett seinem Bildungsauftrag in dieser Hinsicht nicht gerecht wird (die armen Schulkinder, die das verwirrt!) – er hat sein Statement auf Englisch getätigt und war angewiesen auf die Kompetenz der Mitarbeiter der Stiftung Oper in Berlin.

Es ist nur insofern doppelt schade, dass hier geschludert wurde, weil das Programmheft im zweiten Teil auch das Programmheft für „Sunny“ von Emanuel Gat ist, also die nächste Uraufführung mit dem Staatsballett Berlin. Für Schulkinder und Lehrer ist es besonders schade, wenn von staatlicher Seite so dicke Rechtschreibklopse präsentiert werden. Da hat man in der nächsten Klausur vielleicht gleich wieder einen Fehler mehr.

Kleiner Tipp: Seit der letzten Rechtschreibreform ist das Kleinschreiben von „du“, „dir“ und „dein“ auch in Briefen und direkten Anschreiben erlaubt, man ist also auf der sicheren Seite, wenn man das große D in diesen Fällen einfach vergisst.

Aber apropos Programmheft: Das ist dieses Mal auch sonst etwas daneben gegangen.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Ksenia Ovsyanick in Orange oder auch in Orang-Utah… in „LIB“ in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Ein darin abgedruckter altertümlicher Text von Utz Jeggle – einem geistig wenig regen und 2009 verstorbenen, höchst dubiosen „deutschen Volkskundler“ – enthält Sätze, die ein Profi niemals so hätte stehen lassen dürfen.

Etwa dieser im Kontext eindeutig auf Frauen zielende Satz: „So kann man mit weichen, aber auch mit rauem Haar einen reichen Mann finden“. Erstens muss es dem Dativ gemäß „mit weichem“ heißen, nicht „mit weichen“, zweitens empört der Inhalt. Denn Jeggle meint es ernst mit dem Haar als Waffe der Frauen und bezieht sich auf einen Heiratsmarkt, der Frauen zu Versorgungsobjekten degradiert. Man kann es als Frauendiskriminierung erachten, wenn solche Quellentexte unkommentiert in einem staatlich geförderten Programmheft stehen.

Auch Jeggles simple Behauptung „Die meisten (Haare) sind oben auf dem Kopf“ ist so nicht richtig; bei den meisten Menschen überwiegt zwar das Haupthaar, aber Menschen mit Glatze zum Beispiel können anderswo deutlich mehr Behaarung aufweisen. Es hätte also heißen müssen: „Bei den meisten Menschen befinden sich die meisten Haare auf dem Kopf.“

Man muss differenzieren können, wenn man ein Programmheft zusammenstellt: zwischen Texten mit eigenständiger hoher Qualität, deren Denkfehler genügend Konsistenz haben, um Kritik zu evozieren und diskutiert zu werden – wie etwa von Sigmund Freud, um beim Zeitraum kurz nach 1900 zu bleiben – und Texten von inhaltlich und formal sehr niedriger Güte. Letztere muss man kommentieren oder essayistisch vorstellen. Einfach nur die Dummheiten von gestern zu wiederholen, ist ein Niveau, das nicht zum Bildungsauftrag gehört. Auch dann nicht, wenn man das für lustig hält.

Und es gibt wirklich Menschen, die hier dramaturgisch hilfreich sein könnten. Das SBB darf sich gern an mich wenden, wenn es da Beratungsbedarf hat!

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Und so sah es auf der Probe aus: Ksenia Ovsyanick in „LIB“ von Alexander Ekman, zu sehen in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Zurück zum Stück „Lib“ oder „LIB“. Während der entzückenden satirischen Performance des Haarungetüms im Anzug wird lässige Barmusik eingespielt.

Bei ihr bleibt es, als die erste Ballerina in hautfarbenem Trikot und mit Spitzenschuhen herein kommt. Es ist Ksenia Ovsyanick, die mit ironisch-kecker Haltung die spärlichen Schritte und Übungen, die sie hier zu tanzen hat, interpretiert.

Es ist ein stilisiertes Stretching, das sie vollzieht: Sie beginnt auf dem Platz zu trippeln, weitet dabei die Armrunden, geht zu Boden, unternimmt dort tänzerische Dehnungsübungen.

Dann steht sie wieder, testet weiter die Gelenkigkeit ihres schönen Körpers aus. Das Ganze pendelt zwischen Nutzübung (Aufwärmen des Körpers, Eintanzen) und ironisch-ästhetischer Stilisierung dessen.

Besonders lustig: Ksenia rührt mit dem Zeigefinger in der Luft, ganz so, als wolle sie wie bei einem Kuchenteig die Konsistenz ertasten.

Prompt probiert sie auch ein Lächeln auf den eigenen Knopfdruck hin, urkomisch ist das. Und es folgt: die übel gelaunte Grimasse im hübschen Ballerinengesicht.

Tatsächlich gibt es Tanzlehrer, die mimischen Ausdruck solchermaßen lehren: als technisches Spiel der Gesichtsmuskeln: „Esst was Süßes, esst was Saures in Gedanken!“

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Ballerina mit Haar – blond, und wie! Und auf eleganten Füßen, wie sie nur Tänzerinnen haben. So zu sehen in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Der Perückenturm-Mann hat sich das übrigens nicht angesehen. Er verließ ohne Aufhebens die Bühne, als die Tänzerin loslegte. Im Rückblick wissen wir: Er muss sich umziehen. Und Haar anlegen!

Nach wenigen Minuten kommt die zweite Ballerina – es ist Aurora Dickie, die für Yolanda Correa einsprang. Yolanda hat sich bei der Generalprobe an der Schulter verletzt, und wir wünschen ihr alles Gute für die Heilung! Please take the time you need – and all best wishes!

Es gehört zu den unwägbaren Risiken am Theater und vor allem im Ballett, dass Erkrankungen und Verletzungen eine Umbesetzung erfordern.

Aurora Dickie hat so Gelegenheit zu zeigen, wie sie Ekmans choreografische Arbeit interpretiert.

Sie ist der direkte Typ, nicht der maliziöse wie Ksenia Ovsyanick. In schönem Gegensatz belässt sie ihre ebenfalls nach Aufwärmübungen aussehenden Schritte beim Sportiv-Gymnastischen, formt sie möglichst simpel, stellt den Körper darum ohne unterschwellige Kommentierung aus – auch das ist hier möglich.

Zumal sie heftige Sprünge auf dem Platz abzuleisten hat, ganz so, als sollten die Sprunggelenke gezielt trainiert werden.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Zwei Diven und ein Zottelmann: Polina Semionova, Johnny McMillan (mittig) und Ksenia Ovsyanick. Beim Staatsballett Berlin in „Ekman / Eyal“ so zu sehen. Foto: Jubal Battisti

Die nächste Ballerina, die eintrudelt, ist Elisa Carrillo Cabrera.

Sie hat keineswegs vor, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Wenn sie die Arme über dem Dekolleté kreuzt, wenn sie trippelt, wenn sie die Unterschenkel in der Luft wie gegen starken Widerstand ausstreckt, dann ist sie stets eine Primadonna, die sich von dem kargen Arrangement auf der Bühne – es ist zwar hell, sonst aber nichts – unterfordert führt. Wo ist mein Kavalier, scheint dieser hoch trainierte Körper auszurufen, und wo ist mein Gefolge?

Doch statt Dienerinnen, Feen und Märchenprinz kommt Konkurrenz auf sie zu: noch eine megatolle Ballerina.

Es ist Polina Semionova, die allerdings in diesem spärlichen hautfarbenen Outfit nicht so gut aussieht, sondern mit ihren breiten Schultern, der starken Muskulatur, dem sehr flachen Po, den schmalen Hüften und den abgezehrten Oberschenkeln ziemlich maskulin aussieht, trotz ihres bildhübschen Busens. Man hätte ihr ein Kostüm, etwa ein Röckchen, gönnen sollen, das ihre Schwachstellen, die sie seit einigen Jahren hat, bedeckt oder zumindest davon ablenkt.

Als Persönlichkeit strahlt Polina dennoch mädchenhaft-weiblich.

Und wenn sie später mit Ksenia Ovsyanick einen vielschichtigen Pas de deux tanzt, so ist dieser zum Teil zwar die Bekundung von Verständnis und Freundschaft, zum anderen Teil aber auch unmissverständlich Ausdruck der Rivalität und Konkurrenz, wie sie leider unsere Wettbewerbsgesellschaft immer stärker prägen, anstelle von Solidarität und Gemeinsamkeit. „NO“ steht darum auch im Hintergrund dazu zu lesen.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Ein munterer Zeitgenosse: Johnny McMillan (tapfer, tapfer) in „LIB“ von Alexander Ekman in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Das ist die Art, wie Ekman seinen Job hervorragend macht und Gesellschaftskritik übt.

Er führt vier Topdamen vom Staatsballett Berlin vor – und lässt gerade nicht ein flirrend-utopisches Quartett voll Liebreiz und Zusammenhalt entstehen, wie es noch der romantische „Pas de Quatre“ von Jules Perrot(1845) tat.

Sondern die knallharte Realität schimmert durch die Fassade spitzenschuhseliger Ballettanmut.

Menschen sind Bestien – im Guten wie im Bösen, im leichtherzigen Sinn wie in letzter existenzialistischer Konsequenz.

Darum auch wählte Ekman das in gewisser Hinsicht animalische oder auch bestialische  Thema Haare, um sich hingebungsvoll über die Menschheit und ihren Zustand gerade heute zu äußern.

I can’t get no satisfaction“ – so röhrt es denn auch in einer Dancefloor-Version musikalisch, und die andauernde Geilheit wird hier nicht als echt cool dargestellt (wie später bei Sharon Eyal), sondern gebührend lächerlich gemacht.

In Fancy-Kostümen aus langhaarigen Fellteilen, zu tierähnlichen Neandertalerinnen mutiert, wirbeln die Ballerinen wie anachronistische Clowns später über die Bühne.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Sie sitzt gut auf dem einzigen Stuhl auf der Bühne: Polina Semionova in „LIB“ von Alexander Ekman in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Doch zunächst kosten sie noch ihre scheinbare Nacktheit als Zeichen der Zivilisation aus: Sie trippeln sich an, als bestünde ihr softes Schweben aus Morsezeichen. Sie bewegen stumm die Lippen, einander zugewandt, als würden sie kommunizieren – aber sie sprechen doch nicht.

Schein oder Sein? – Das ist in der Moderne immer die Frage.

Aber dann passiert etwas: Ein behaarter Mann, über und über in seidiges cremeweißes Kunstfell gepackt, rollt auf die Bühne.

Oh! Ein Mann, ein Tier! Wie schön!

Doch der Ballerino Johnny McMillan hat vielleicht Eiswürfel in seinem Suspi, damit er es aushält, denn er muss unsäglich in all der synthetischen Wolle schwitzen (und wäre es Echthaar, es wäre nicht besser, im Gegenteil). Tanzen ist ja ohnehin anstrengend und schweißtreibend, in der Glut der Scheinwerfer zusätzlich, und wenn dann das Kostüm faktisch tauglich wäre, um eine Polarexpedition durchzuhalten, nun ja, dann macht man sich schon ein bisschen Sorgen um das Wohl der Auftretenden.

Aber McMillan ist fit – er tanzt, hoppelt, zappelt, gibt sich den eingängigen Klängen hin – und zeigt körperlich höchstes Vergnügen, trotz all der Kledage.

John Lennon darf dazu säuselnd aus den Boxen kommen, „it’s gonna be alright“, genau, es wird schon alles so gehen.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Die schöne Yolanda Correa probte bis kurz vor der Premiere „LIB“ von Alexander Ekman, dann setzte das Berufsrisiko sie mit einer Verletzung außer Gefecht. Wir wünschen ihr alles Gute! Foto vom Staatsballett Berin: Jubal Battisti

Mit der Musikauswahl zielt Ekman hier übrigens ein wenig offensichtlich auf die nostalgischen Bedürfnisse der älteren Zuschauer. Oder wählt er das beste Evergreen-Zeitalter, um zu sagen: Das hier bleibt, das wird nie anders?

Mit einem kurzen Urschrei vertreibt der zottelige Fellmann die Girls, oha, statt sie zu umwerben, und seinen Kopfstand und sein anschließendes lustvolles Zappeln zur Musik verpassen sie erstmal.

An sich könnte das Stück hier zu Ende sein. Alles wäre gezeigt, alles wäre verstanden.

Aber es muss noch einen zweiten Teil des Stücks geben, die knapp 40 Minuten sollten wohl gefüllt werden.

Also hampeln die First-Class-Ballerinen in voller Fellmontur zurück auf die Bühne, wirken mal wie ein Orang-Utan-Weibchen, mal wie eine Gorilla-Braut.

Ja, aber es war doch eh schon klar, dass der Mensch hier zivilisatorisch zurückgeht, muss man das jetzt noch so auswalzen?

Man muss. Zu Rockpop vornehmlich aus den 80er– und 90er-Jahren werden mit wehenden Fellbüscheln ratzfatz schnelle Chainés gedreht, es wird in einer Reihe angetreten (was dank der Felle urkomisch aussieht), es wird als kleine Horde wird die Bühne gestürmt. Am Boden wird auf dem Hintern vorwärts geruckelt, als lerne man erst, sich zu bewegen – und wie muntere Urwaldtölpel von einem anderen Planeten genießen die Tänzerinnen es offenbar, sozusagen anonym (weil unter Fellmengen verborgen) zu winken und zu schäkern.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera in „LIB“ von Alexander Ekman in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Auch der Zottelmann darf mitmachen, überraschenderweise kämpfen die Weibchen nicht um ihn – vielleicht ist ihnen unter all dem Plastikhaar auch einfach viel zu heiß dazu.

Schließlich finden sie sich an der Rampe ein, nehmen die Kopfmasken ab und lächeln erschöpft und verschwitzt, aber sehr glücklich.

Der Applaus tost, es sind wohl viele der anderen Tänzer vom Staatsballett Berlin im Publikum, es gibt ja aktuell über 90 Kolleginnen und Kollegen, die im übrigen in diesem Dezember 2019 den Rekord von 22 Vorstellungen in vier verschiedenen Häusern in Berlin ableisten.

An manchen Abenden tritt das SBB ja sogar zwei Mal in Aktion. Was indes nur deshalb möglich ist, weil die Techno-Stücke, die auf dem Programm stehen, wie auch das neue Ekman-Stück, nur wenige Tänzerinnen und Tänzer beschäftigen.

An sich aber gehört es zum abendfüllenden Ballett, dass es personalintensiv ist und mehr als nur die Solisten auf die Bühne bringt.

Es gibt zwar Künstler wie Ralf Dörnen, Chefchoreograf vom BallettVorpommern, die mit weniger als 20 Tänzerinnen und Tänzern entschieden fantastische und zudem sehr kluge Abende auf die Bühne zaubern.

Aber generell beginnt ein echter Ballettevent – zumal ein klassisches oder modern-klassisches – erst ab einer Personalgröße von etwa 30 oder 40 als Minimum. „Schwanensee“ sollte allein schon einige Dutzend tanzende Schwäne auffahren, und auch Ballette wie „Giselle“ und „Dornröschen“ oder moderne Klassiker wie „Onegin“ von John Cranko und „Nijinsky“ von John Neumeier benötigen etwa 50 bis 70 fitte Tänzerinnen und Tänzer, und einige mehr, wenn man sie mit Sicherheit und ohne Sparzulagen in Bausch und Bogen zeigen will. (Sparzulage heißt hier Rückbau: natürlich kann man Choreografien theoretisch ändern und zurecht stutzen, die Frage ist nur, ob man das will.)

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Die Russen lachen indes über uns, wenn wir so bescheiden rechnen: Ihre großen Compagnien bestehen aus Hunderten von Tänzerinnen und Tänzern, das Bolschoi hat nahezu 300, und in Balletthauptstädten wie Moskau und Sankt Petersburg gibt es zudem jeweils ein gutes halbes Dutzend renommierter Compagnien, nicht nur die weltweit berühmten wie eben das Bolschoi, das Mikhailovsky und das Mariinsky.

Von solcher Akzeptanz des Balletts als Kunstform und Kennzeichen unserer Zivilisation sind wir in Deutschland allerdings meilenweit entfernt.

Selbst in den in vielerlei Hinsicht kulturlosen USA gibt es in Metropolen wie New York City oder auch Miami im Süden mehrere große Ballettcompagnien, allein Miami hat fünf.

Dennoch sind wir in Deutschland stolz auf unsere Dreispartentheater in den kleineren Städten, die immerhin jeweils ein bis zwei Dutzend Tänzer beschäftigen. Für einen veritablen „Schwanensee“ ist das allerdings krass zu wenig.

Die großen deutschen Truppen sind mit 50 bis knapp 100 Tänzerinnen und Tänzern immerhin gut aufgestellt, und in manchen Städten – wie beim Semperoper Ballett in Dresden– hat man sogar das Problem, zu wenig Auftrittsmöglichkeiten zu haben.

In dieser Hinsicht kann man sich in Berlin nicht beschweren. Drei Opernhäuser plus – etwa für die Uraufführung von „Sunny“ – ein Theater wie die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ergeben viel Raum für die ballettöse Kunst.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Erotik ist hier Nebensache, es geht um Geilheit und Stärke: in „Strong“ von Sharon Eyal in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Ob die international hoch gehandelte Choreografin Sharon Eyal diesen nun wirklich zu nutzen weiß, sei mal dahingestellt.

In meiner Kulturkonzeption, die sich nach Herz und Hirn, nach Menschlichkeit und Gedankenfreiheit, nach ganz realen Zielen und Werten richtet, nimmt Eyals Arbeit einen typischen Roll-back-Effekt ein, das heißt: Es ist symptomatisch, dass solche Kunst heutzutage erfolgreich ist, denn sie entspricht dem Rückgang an Zivilisation, den sich die rein auf geilen Profit ausgerichtete Weltwirtschaft leistet.

Es ist Kunst für die Rechenmaschine in uns.

Die industrielle Lobby hat kein Interesse an idealistischen Werten, es sei denn, diese lassen sich gewinnbringend vermarkten. Das bedienen Künstler wie Sharon Eyal, indem sie minimalistisch die Sexiness der Körper ausstellen und ansonsten wiederholend kommentieren, dass Menschen sich heutzutage wie Maschinen bewegen können.

Was in „Coppélia“ – die übrigens morgen, am Dienstag, in den entsprechenden Kinos mit der Weltballerina Marianela Nunez vom Royal Ballet aus London gezeigt wird – noch kritisiert wird, ist bei Sharon Eyal der Alltag, mit dem sie und ihre Fans sich abfinden.

Der Mensch sollte idealerweise ein Roboter sein.

Dann wird Gedrängel mit Nähe verwechselt, und die redundante Wiederholung einzelner Bewegungen wirkt spannend, denn sie ist technisch ja perfekt.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Mitläufertum in Sex-Dessous: zu sehen beim Staatsballett Berlin in „Strong“ von Sharon Eyal in „Ekman / Eyal“. Foto: Jubal Battisti

Mehr Kern und Inhalt ist in Eyals Werken nicht zu holen, und dass Tänzer und Tänzer, die als Choreografen arbeiten, sich von dieser Reduktion fasziniert fühlen, hat nichts mit Kunst zu tun, sondern mit ihrer Erfahrung des täglichen Trainings. Wiederholung ist darin notwendig, um etwas zu lernen. Das heißt aber nicht, dass Wiederholung an sich schon Kunst ist.

Das ist, als würde ein Komponist aus Tonleitern, die man zur Übung hoch- und runterspielt,  eine Sinfonie schmieden. Als Experiment würde man sich das mal gefallen lassen. Aber es als fertiges Kunstwerk zu inszenieren, würde man doch als etwas dreist empfinden.

Ähnlich verhält es sich mit „Strong“, der neuen Kreation der israelischen Choreografin fürs SBB.

Elf Tänzerinnen und sechs Tänzer werden darin auf die Bühne gebracht, in teils durchsichtigen schwarzen Kostümen, die an Sex-Dessous erinnern, ohne den Anspruch der erotischen Aktion einzulösen. Geilheit statt Eros, Narzissmus statt Liebe.

Diese sexualisierten, dennoch eiskalt in mimischer Regungslosigkeit verharrenden Protagonisten bilden zumeist ein Knäuel, aus dem sich Einzelne für Soli lösen.

Der Beginn ist das Beste: Das Gemurmel im Zuschauersaal geht in Gemurmel aus den Boxen über, wo es allerdings nur Männerstimmen sind – und diese werden nach einigen Minuten von synthetischen Klängen verfremdet. Später legt sich ein Hardcore-Techno-Rhythmus darüber, und wie bei Eyal üblich hämmert es derart in den Ohren, dass Menschen ohne Gehörschaden durch Clubbesuche ihre mitgebrachten Ohrstöpsel einschieben sollten.

Es gibt in Berlin nicht – wie in Stuttgart bei solchen Gelegenheiten – Ohrstöpsel im Foyer zu kaufen. Darum muss man vorher daran denken! Übrigens verursachen sie keine komplette Stille im Ohr, sondern dämpfen den Klang lediglich.

Ansonsten ist alles wie gehabt bei Sharon Eyal (die übrigens jetzt ein Jahr Pause machen will, was der Welt also einige Werke weniger dieser Machart beschert – es sei denn, sie hält ihre Ankündigung nicht).

Die Bühne ist sehr dunkel, in den spärlichen Lichtkegeln schimmert zudem Nebel auf.

Arme und Oberkörper biegen sich langsam vor und zurück, mal synchron, mal individualistisch.

Als Leitmotiv entwickelt sich dieses Mal eine Art Stampfen auf hoher halber Spitze – was recht anstrengend sein dürfte, als Effekt aber schnell verliert.

Einzelne Männer und Frauen dürfen das Bewusstsein vortanzen, einmalig zu sein. Solistisch biegen und verbiegen sie sich…

Dann werden sie wieder von der Gruppe aufgesogen.

Der Techno-Sound trägt die Spannung, optisch ist alles verhalten und zögerlich.

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Ja, das ist die Duckmäusergesellschaft von heute, das sind sie, die Menschen, die bei großen Firmen arbeiten und keine Ahnung haben, was ihre Arbeit eigentlich letztendlich ergibt, weil sie nur ein klitzekleines Rädchen in einem großen Ganzen sind, von dem ganz andere Menschen als sie selbst profitieren.

Aber muss es über eine halbe Stunde andauern, das vorzuführen?

Durch den Mangel an Widerspruch auf der Bühne gerät das Vorführen zur Affirmation.

Ganz so, als wolle die Choreografin dem Publikum sagen: Bitte, macht weiter so! Genießt die öde Sklaverei unter enormem Druck, die die heutige Arbeitswelt bereit hält.

Genießt die moderne Überbevölkerung, in der jede und jeder ersetzbar sein soll. Damit die Herrschenden ungestört immer noch mehr Profit machen können.

Es gibt heute so viel Reichtum wie noch nie.

Einer Handvoll Familien und Firmen gehört die Mehrheit der Welt, in Gütern und Geld gemessen. Zugleich steigt die Armut rasant, es steigen die Zahlen jener Menschen, die in Massen und in großer Armut leben.

Wo ist da noch das demokratische Ideal von Gerechtigkeit und Individualität zu finden?

Damit niemand auf solche Gedanken kommt, vor allem jene nicht, denen es noch ganz gut geht, steigen die Mieten und die Preise.

Strampelt gefälligst noch mehr! Und seid ja nicht barmherzig mit euren Mitkonkurrenten.

Das scheint hier die unausgesprochene Message, vielleicht ganz ohne willentliche Absicht der Choreografin. Aber so ist das eben in der Kunst: Das Werk spricht für sich. Auch das missratene.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Danielle Muir darf am Ende ihren Erfolg mit „Half Life“ von Sharon Eyal zitieren – und dann noch scheinbar telefonieren. Nach Hause? Zu rätseln in „Strong“ von Eyal in „Ekman / Eyal“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Am Ende darf Danielle Muir, die Hauptprotagonistin bei der Premiere von Sharon Eyals erster Berliner Arbeit „Half Life“, letztere zitieren, und somit den relativen Erfolg, den „Half Life“ hatte, beschwören: Sie macht diese Armbewegung, als sei sie eine Geherin bei den  olympischen Spielen, und dieses Armschwingen ist das Leitmotiv in „Half Life“.

Poesie auf Sparflamme ist es bestenfalls, was Eyal zu bieten hat. Manche Zuschauer werden davon fasziniert, vermutlich, weil sie ihr eigenes Hamsterrad in der choreografischen Sprache von Sharon Eyal wiedererkennen.

Leider lernen sie hier nur, es zähneknirschend und unter Berieselung wummernder Techno-Klänge auszuhalten. Nicht ohne Grund haben die Fans von Eyal – und auch die von Martin Schläpfer, by the way – oft auffallend harte Gesichtszüge.

Ballett geht allerdings anders: Ballett bewegt die Seele. Das schafft dieser Abend nicht, auch wenn sich der erste Teil wegen der ästhetischen Witzigkeit und satirischen Kritik als Event absolut lohnt.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

 

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