Rette den Bruder! Erstmals beim Semperoper Ballett in Dresden: „Iphigenie auf Tauris“ als Tanzoper von Pina Bausch, lehrreich und erlernbar

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Orest (Francesco Pio Ricci) und Pylades (Julian Amir Lacey) tanzen das prägnante Freundespaar in „Iphigenie auf Tauris“ in der Inszenierung und Choreografie von Pina Bausch beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Nicht alles, was die Tanztheater-Pionierin Pina Bausch kreierte, wird bleiben. Wirklich nicht. Aber ihre Tanzoper „Iphigenie auf Tauris“, mit der sie bewusst die Grenzen zwischen modernem Ballett und klassischer Oper aufhob und dadurch ein Gesamtkunstwerk schuf, ist zweifelsohne ein Meilenstein in der Theatergeschichte. Dem Semperoper Ballett unter Aaron S. Watkin kommt nun das Verdienst zu, die Inszenierung und Choreografie von 1974 im mehr als nur passenden Rahmen der barocken Semperoper in Dresden neu zu beleben. Zarter, weiß gekleideter Frauentanz trifft darin auf erotisch-energetische, scheinnackte  Männlichkeit. Mit feinsinnigen Gesten und vorzüglichen Opernstimmen –  auch vom Sächsischen Staatsopernchor – sowie dank der über jede Kritik erhabenen, zu Beginn ganz zarten, am Ende mächtigen Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Jonathan Darlington gelingt der Abend: Er verbreitet eine sanftmütige, tödlicher Tragik durch schicksalhaftes Glück ausweichende Stimmung. Komponist Christoph Willibald Gluck (1714 – 1787) und Pina Bausch (1940 – 2009) selbst wären wohl beide angenehm überrascht, so reibungslos passt ihr Kunstwerk in den Dresdner Kulturtempel. Rund zwanzig Experten waren indes mit der Einstudierung beschäftigt – und das ist ein nicht unerheblicher Aufwand, auch wenn er sich haushoch lohnt.

Beim ersten Ton öffnet sich der Vorhang: Iphigenie (Sangeun Lee) liegt auf dem Boden, mit dem frontal aufliegenden Kopf zum Publikum gedreht, und sie rudert zaghaft, ganz verhalten mit den Armen. Diese Frau ist ein Leib gewordener Hilfeschrei.

Sie ist ja nicht aus Berufung in ihr Amt als Priesterin der Jagdgöttin Diana gekommen, sondern weil die Lebensumstände ihr keine andere Möglichkeit ließen. Diana rettete Iphigenie vor dem Tod; der eigene Vater wollte sie für die Jagdgöttin töten.

Während die Griechen sie verbrannt glauben, lebt Iphigenie dank Diana fern der Heimat, auf der Insel Tauris. Als Dank an die Göttin versieht die Gerettete deren Opferdienste.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Sangeun Lee hadert als „Iphigenie auf Tauris“ mit ihrem Schicksal – so zu sehen beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Ian Whalen

Doch nach fünfzehn Jahren Leben bei den Taurern hat Iphigenie Alpträume. Als Griechin ist ihr die Sitte der Taurer, jeden Fremden, der auf ihre Insel kommt, zu töten, noch immer fremd. Zumal ausgerechnet sie, die Priesterin, die Tötungen als Opferzeremonien vornehmen muss.

Die Situation dieser Frau ist alles andere als gewöhnlich. Schon zur Zeit der Erstfassung des Stoffs in dramatische Verse – durch Euripides um 413 v. u. Z.– war sie eine absolute Ausnahme: Eine Frau ist hier nicht nur befugt, das Leben anderer zu beenden, sondern sie muss dieses sogar tun, und zwar außerhalb der Kriegsführung.

Sangeun Lee, groß und überschlank, setzt darauf, dass ihr biegsamer, gerade gewachsener Körper ohne viel Mimik oder dramatische Draufgabe ausdrucksstark ist. Wie ein schmaler Baum im Wind bewegt sie sich, anmutig und organisch. Allerdings wiederholen sich ihre sparsamen  Stilmittel redundant, immer wieder entstehen dieselben Linien, ohne dass sie mit Emotionen aufgefüllt werden.

Die Primaballerina Courtney Richardson, die für diese Partie auch im Gespräch war, hätte hier vermutlich deutlich mehr Farbe ins Spiel eingebracht. Und auch, wenn Dresden mittlerweile auch ein  auffallend fülliges Mädchen im Corps de ballet hat: Ein wandelndes Manifest gegen Magersucht ist die Erste Solistin Sangeun Lee nicht gerade. In den ersten Akten ist ihre Iphigenie seltsam blass.

Da hat der Sopran von Gabriela Scherer schon viel mehr Kraft: Aus dem Off und später auch aus einer Loge – und von dort aus mit einer ganz hervorragenden Akustik – bietet sie diese Partie mit der richtigen Dosierung aus erhabenem Feingefühl und weiblicher Entschiedenheit dar.

Nun handelt es sich bei Iphigenie ja nicht um eine Amazone, sondern um eine ganz normale, der griechischen Zivilisation entstammende Frau. Sie ist geprägt von den griechischen Werten, die ein willkürliches Töten auf Befehl, nur weil jemand ein Fremder ist, an sich nicht gutheißen.

Die Rache der Götter ist von daher zu befürchten, wie auch Thoas, der Herrscher auf Tauris ist, ahnt. Er ist hier der Patriarchenfaktor, dessen Angst und Zorn bereits für sich wie Menetekel sind.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Thoas – getanzt von Casey Ouzounis – wurde als Theaterfigur ebenso stilprägend wie die Titelfigur und die beiden Freunde in „Iphigenie auf Tauris“ in der Choreografie von Pina Bausch, zu sehen in der Semperoper in Dresden. Foto: Ian Whalen

Mehr noch: Im aufgeblasen wirkenden schwarzen Mantel gleicht Thoas bei Bausch einer wandelnden Festung. Casey Ouzounis spielt und tanzt diesen seltsamen, trotz seiner Macht passiv wirkenden König mit gleichbleibender Stärke.

Und auch bei seinem ersten Auftritt bemerkt man, wie stark stilbildend dieses Frühwerk von PinaBausch geriet. Während sie selbst von ihrem Förderer Kurt Joos geprägt wurde, hat sie mit ihren Bildern zahllose weitere Künstler inspiriert.

Von Robert Wilson bis Mats Ek, von Sasha Waltz bis Mauro Bigonzetti reichen die Prägungen durch Bauschs Fantasie.

Gerade aus der heutigen Sicht ergeben sich zahlreiche Momente, die von anderen Choreografen in anderen Stücken und auch von anderen Regisseuren aufgegriffen wurden.

Das gilt im übrigen auch für das Bühnenbild und die Kostüme (beides wurde hier von Pina Bausch in Zusammenarbeit mit Jürgen Dreier geschaffen).

Ein Beispiel: Die steifen, schwarzen, überdimensionierten Mäntel der Macht, wie Thoas einen trägt, möglichst bodenlang und mit Stehkragen versehen – sie machten später in Inszenierungen wie dem „Ring“ von Harry Kupfer weitere Karriere. Und im Sprechtheater wurden sie, zumeist in fexibler, wehender Variante, in Latex oder Leder nachgerade eine feste Größe.

Ein anderes Kleidungsstück wurde ein Bausch-Markenzeichen: die Unterrock-ähnlichen Fähnchen der Damen, unbedingt von Spaghetti-Trägern gehalten. In späteren Stücken der Rheinländerin mauserten sie sich zu veritablen Abendkleidern; hier, in Bauschs zweiter Arbeit für ihre eigene Company in Wuppertal – und zugleich in ihrem ersten abendfüllenden Stück – sind es noch überwiegend midi-lange Hängerchen. Nur Iphigenie, die Priesterin, darf ein bodenlanges Seidenstück am Körper tragen: erst ein weißes, später, im vierten Akt, ein anthrazitgraues.

Der Konflikt der Iphigenie entfächert sich derweil nicht in Kostümen, sondern in elegisch-angespannten Soli wie auch in Tänzen mit ihrer Damenschaft. Elf Tänzerinnen sind das, die hier die weibliche Priesterschaft bilden und etwa mit Svetlana Gileva und Gina Scott hochkarätig besetzt sind.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Wie hingetupft: Posen und Gruppenfiguren in der weiblichen Priesterschaft um „Iphigenie auf Tauris“ von Pina Bausch in Dresden. Foto: Ian Whalen

Wie hingetupft ergeben sich da Posen und Gruppenfiguren; vor allem die Armarbeit ist bei allen tanzenden Damen bemerkenswert und weder klassiksteif noch zeitgenössisch-schlaff.

Fluffig und dennoch sauber ausgeführt wird der Bausch-Tanzstil hier präsentiert. Das ist genau richtig und wirkt dem Effekt des Musealen entgegen.

Dass man sich gelegentlich an Bauschs „Frühlingsopfer“ erinnert fühlt, welches ein Jahr später (1975) entstand, ist nur folgerichtig: inhaltlich wie formal knüpft die berühmteste Bausch-Kreation an diese Tanzoper an.

Hier wie dort tanzen die Frauen barfuß, hier wie dort geht es um amoralisches Handeln im Konflikt mit der Widerwehr durch soziales Empfinden.

Aber welche Moral zählt hier? Die christliche Verbrämung des Themas, die auch Johann Wolfgang von Goethe in seiner zeitgleich zur Gluck-Oper (uraufgeführt 1779 in Paris) entstandenen Erstfassung seines Dramas „Iphigenie auf Tauris“ vornahm, greift nur als instinktives Votum, nicht als rational fassliches.

Was unterm Strich zählt, ist die Menschlichkeit, die hier allerdings nur durch einen Glücksfall, durch eine zufällige oder schicksalhafte Verwandtschaft, zum Tragen kommt.

Denn während Iphigenie mit ihrem blutigen Amt noch hadert, werden bereits die beiden nächsten avisierten Opfer angeliefert. Mit einem von beiden ist sie eng verwandt.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Höchste Not und geteiltes Leid: Francesco Pio Ricci und Julian Amir Lacey als Orest und Pylades in „Iphigenie auf Tauris“ beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Die neuen Fremden sind Orest – klar und zugleich wie schwebend in allen Farben gesungen vom Bariton Sebastian Wartig – und sein Freund Pylades – vom Tenor Joseph Dennis stimmlich etwas zaghafter, aber durchaus auch überzeugend dargeboten.

Szenisch sehen wir zwei seltsam morbide inszenierte Tänzer, und es sind diese beiden, die dem ganzen Abend hier seine Wucht, seine Lebendigkeit, seinen Eros verleihen.

Dabei ist ihr erster Auftritt ein berührender Scheintod:

Wie betäubt liegen Francesco Pio Ricci (Orest) und Julian Amir Lacey (Pylades), einer Art Opferbeute gleich, nahezu nackt auf ihren Bahren, auf denen sie hereingetragen werden.

Aber dann…

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Im Laufe des zweieinviertelstündigen Abends entfalten diese beiden Tänzer immer wieder tänzerisch-akrobatisch soviel tiefe Verzweiflung, aber auch höchste Hoffnung, dass es nicht verwunderlich ist, dass gerade sie von anderen Künstlern (ob bewusst oder unbewusst) nachgeahmt oder zitiert wurden.

Mauro Bigonzettis „Caravaggio“ etwa ist nicht vorstellbar ohne diese beiden Kreaturen, ebenso wenig Sasha Waltz‘ „Körper“.

Pina Bausch war wohl die Erste, die die Faszination erkannt hat, die von jungen, scheinbar nackten Männern im hautfarbenen Slip ausgeht, vor allem, wenn man sie sich in Zeitlupe bewegen lässt – und deren schöne Nacktheit ist dann als Ausdruck von Schutzlosigkeit und Existenzialismus zu deuten.

Die beiden Männer hier fungieren wie die Verdoppelung eines einzelnen Schicksals – der als Opfer ausersehene Mensch erscheint als Mitleid erregendes Wesen ebenso wie als bewunderungswürdiger Held, der sich dem schlimmstmöglichen Szenario stellen muss.

Orest und Pylades stützen einander wie eineiige Zwillinge, so nah sind sie sich – und doch irren sie in den Abgründen der Angst umher. Mal sind sie parallel solistisch aktiv, mal tanzen sie den Pas de deux, als sei der Paartanz genau für solche Männer erfunden worden.

Wenn sie etwa aus der anfänglichen Betäubung erwachen, sind sie allein miteinander, allein mit dem Gedanken an den drohenden Opfertod: Spiegelbildlich mit den Beinen ineinander verhakt liegen sie auf einem Tisch, dem späteren Opferaltar.

Langsam, aber zügig, stehen sie auf und begreifen, in welch unfasslicher Situation sie sind.

Dieses böse Erwachen ist der erste Schlüsselmoment in „Iphigenie“.

Denn im Grunde geht es hier nicht um individuelles Handeln, sondern – im Gegenteil – um das Überleben im schicksalhaft gelenkten Desaster.

Gluck hat ebenso wie Bausch dieses antike Gedankengut beibehalten und zum Kern des Kunstwerks erhoben.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Die riesenhafte Leiter ist ein Substitut der Kreuzigung: Orest (Francesco Pio Ricci) auf seinem Passionsweg zum Opferaltar in „Iphigenie auf Tauris“. Foto: Ian Whalen

Der zweite Schlüsselmoment erfolgt im dritten Akt: Hier lernen die Menschen, sich gegen das Schicksal aufzulehnen und es selbst aktiv mitzugestalten.

Denn Iphigenie hat Orest als ihrem Bruder ähnlich erkannt, und sie beschließt, sein Leben zu retten und ihn mit einer Nachricht zu ihrer Schwester Elektra zu schicken. Orest jedoch tauscht sein Schicksal mit dem von Pylades – er will den Freund gerettet sehen und hofft zudem, dieser möge Hilfe holen.

Erst kurz vor dem Schluss der Tanzoper, im vierten Akt, erreicht die Handlung ihren absoluten Höhepunkt: Orest, der sich mit einer riesenhaft hohen Leiter wie mit einem abgewandelten Kruzifix mit Leidensmiene langsam dem Opfertisch nähert, erkennt, als sich Iphigenie mit dem Opfermesser über ihn beugt, seine Schwester.

Sie hingegen zögert, ihn abzustechen, im richtigen Moment versagen ihr die Kräfte dazu.

Und auch sie erkennt den Bruder. Denn er erzählt von seiner Schwester Iphigenie, die er ebenfalls durch Opferung zu Tode gekommen glaubt.

Musikalisch ist es hier ein Himmelsschrein, der sich öffnet, tänzerisch-szenisch scheinen sich die Sekunden zu einer ewigen Utopie auszudehnen.

Es ist der Moment höchster Versöhnung durch Erkenntnis – der bittere Tropfen hingegen bleibt: Orest hat Glück gehabt, und wäre er nicht der Bruder der Priesterin, so wäre sein Leben dahin und für Iphigenie gäbe es keine Erlösung von ihrem grausigen Opferamt.

Bleibt der beleidigte Thoas, der seine Autorität untergraben sieht, zumal er von Pylades‘ Flucht hörte. Und diese prompt Iphigenie anlastet. Da stürmt Pylades aber auch schon herbei, als hätte er den Ruf des Schicksals rechtzeitig gehört.

"Iphigenie auf Tauris" von Gluck und Bausch

Paartanz des Glücks unter Geschwistern: „Iphigenie auf Tauris“ (Sangeun Lee) und Orest (Francesco Pio Ricci) beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Der Pas de deux von Iphigenie und Orest, mit dem sie ihre wundersame Verbundenheit neu besiegeln, ist indes ein majestätisches Kunstwerk für sich, voller Zärtlichkeit und Humanität, voller Partnerschaft und Zukunftsversprechen.

„Eine schöne Einfachheit“ strebte Komponist Gluck an, eine, die „nicht auf Kosten der Klarheit“ zu glänzen vermag. In diesem Sinne hat sein Werk mit Bausch und mit Dresden so sehr gewonnen!
Gisela Sonnenburg

www.semperoper.de

 

 

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