Sie ist süß und schön, kann lustig und sogar grotesk sein, ohne auch nur einen Hauch ihrer fast überirdischen Anmut und Aura einzubüßen – und das, obwohl ihre eigentliche Stärke die dramatische Tragik, die ganz große ballettöse Oper, ist: Marianela Nunez,1982 in Buenos Aires geboren, ist die herausragende britische Primaballerina, ein ballettöses Rundumwunder, und sie tanzt derzeit auf der Höhe ihres Könnens. Auf den entsprechend virtuosen, aber auch traurig-tiefsinnigen „Schwanensee“ mit ihr in der Aufsehen erregenden Neuinszenierung von Liam Scarlett, für den 1. April 2020 im internationalen Kino-Programm vom Royal Opera House eingeplant, darf man sich jetzt schon freuen. Gestern jedoch triumphierte „Nela“ in über 30Staaten dieser Welt in den Kinos live mit dem Royal Ballet als putzmuntere Swanilda in „Coppélia“, nach der eingängig walzerseligen Musik von Léo Delibes. Diese Inszenierung von Ninette de Valois zeigte indes – trotz der tänzerischen Perfektion in der Darbietung – auch die künstlerischen Schwächen der Gründerin der renommierten Truppe: Ninette de Valois war zwar eine hervorragende Managerin und Organisatorin, und sie hatte ein Auge für Talente. Sie war sozusagen eine tolle Impresaria. Wahrscheinlich war sie sogar ein freundlicher und umgänglicher Mensch.Aber eine schöpferische, eine kreative Künstlerin war sie nicht, und an die choreografische und inszenatorische Qualität der Arbeiten von Frederick Ashton oder Kenneth MacMillan oder auch von Liam Scarlett, um mal beim Royal Ballet zu bleiben, reicht das Aufführungskonzept von de Valois auch 65 Jahre nach der Premiere nicht heran. Vielleicht hätte man da eine Neuinszenierung wagen sollen – Ideen ergeben sich ja schon aus den historischen Vorlagen zur Genüge. Dennoch begeisterten die vielfältigen traditionellen Passagen in „Coppélia“, und wer bereit war, über das eine oder andere muffige Detail hinwegzusehen, fand sich in einer beglückten Stimmung wieder, mit oder ohne Sekt zum Anstoßen auf dem Kinositz.
Die Vorgeschichte des Balletts ist nicht ohne Schärfe.
1870 wurde die Geschichte von Swanilda, die ihren Verlobten Franz aus den Fängen einer mechanischen Puppe zurückzuerobern weiß, in Paris uraufgeführt.
Der Plot ist übrigens von einem Stück Weltliteratur inspiriert, das ganz anders endet als das Ballett; die Erzählung „Der Sandmann“ des genialen Bamberger Romantikers E.T.A. Hoffmann von 1816 zählt zur literarischen Spätromantik, während Delibes‘ Ballett bereits der Klassik zuzurechnen ist. Und während „Der Sandmann“ die Abgründe der Seele auslotet, spielt „Coppélia“ auf den Klaviaturen der Operette.
Hoffmann selbst hätte sich sicherlich ein anderes Libretto und auch andere Musik gewünscht. Er war ja, wiewohl im Hauptberuf Schriftsteller, auch als Komponist und Dirigent tätig, allerdings nicht in Sachen „Coppélia“, aber er kannte sich eben selbst auch gut aus.
Pikanterweise war die Partie des Franz bei der Uraufführung eine Hosenrolle und wurde also von einer Dame getanzt. Spuren dessen finden sich immer dann in den Aufführungen, wenn Franz zwar viel Pantomime und kleine Sprünge, aber eher weniger Hebungen zu leisten hat.
Die Paartänze von Swanilda und Franz sollten bei doppelter Damenbesetzung hingegen besonders zierlich und liebevoll ausfallen.
Dieser augenzwinkernde Charme verlor sich bereits in der noch heute wegweisenden russischen Überarbeitung der Originalchoreografie von Arthur Saint-Léon, die Marius Petipa – wer sonst – als Meister der Klassik 1884 verantwortete und die von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti vollendet wurde.
Darauf zurückgreifend stellte Ninette de Valois 1954 ihre Version her.
Theatral geprägt war sie von ihrer Jugend, als sie bildhübsch war und deshalb bei den Ballets Russes von Serge Diaghilev tanzte. Da ging es um rasche Publikumserfolge, nicht um langes Nachdenken – all die bleibenden hochkarätigen Inszenierungen aus Diaghilevs Ära stehen einer Vielzahl heute fast vergessener, rasch hingeschluderter Programme entgegen.
Eine Choreografin im eigentlichen, nämlich schöpferischen Sinn war de Valois sowieso nie – sie konnte aber später in England aufgrund ihrer Herkunft aus dem niederen englischen Adel problemlos Geld auftreiben, um gleich mehrere Ballettschulen zu gründen und auch die Company im Royal Opera House auf neue Füße zu stellen.
Die Ernennung ihrer Truppe als „Royal Ballet“ – was erst 1956 stattfand – adelte wiederum ihr Lebenswerk, wobei ihr Chefchoreograf schon seit1934 zu Recht Frederick Ashton war.
Hätte dieser eine „Coppélia“ choreografiert, man könnte sich vor Lachen und vor Seligkeit vermutlich kaum noch halten.
So aber blieb es beim Schmunzeln und Lächeln.
Das Bühnenbild von Osbert Lancaster– den Entwürfen der Premiere entsprechend – machte es den Tänzerinnen und Tänzern dabei nicht eben einfach.
Die Kulissen, die traditionell links das Haus mit Treppe von Swanilda und rechts das Erkerhaus von Coppélius vorschreiben, sind in Lancasters Design übergroß und mit weiteren Hausfassaden so spitzwinkling und raumfüllend arrangiert, dass die Bühne faktisch zugestellt und die Tanzfläche dadurch stark verkleinert ist.
Lancaster wollte dadurch wohl zeigen, dass das galizische Dorf, in dem „Coppélia“ spielt, eng und klein ist. Aber da es in der Choreografie keinerlei Hinweis auf eine solche Enge gibt, wirkt so ein Bühnenbild eher unpassend.
Eine enge – vielleicht auch engherzige – Dorfgemeinschaft würde eng gedrängt tanzen und die Freiheit einer konventionellen Mazurka gar nicht erst auszuschöpfen versuchen.
So musste das Corps gegen eine unpassende räumliche Enge ankämpfen, ohne dadurch an Aussagekraft zu gewinnen.
Und farblich ist Lancasters Entwurf für die Kulissen sogar fast öde.
Der Himmel im Hintergrund ist hier trotz des knalligen, sonnigen Lichts von John B. Read nicht himmelblau, sondern von gebrochenem Blau, und die weißen Schönwetterwölkchen darauf wirken noch eher ermutigend als das vermeintliche Azur selbst. Ein ziemlicher Griff neben die Tasse.
Vermutlich soll das Bühnenbild bedeuten, dass dieses Dorf hier das Ende der Welt ist. Aber dann hätte man das doch komödiantisch übertreiben können – und so oder so tiefer in die Farbtöpfe greifen müssen.
Sicher müssen nicht alle alten Zöpfe ab, aber es müssen auch nicht alle dranbleiben.
Sehnsüchtig denkt man derweil an das ebenfalls dörflich-komödiantische „La Fille mal gardée“ von Frederick Ashton, der dafür viel weniger historisches Grundmaterial zur Verfügung hatte, sich aber mit Stil und Empathie 1959/60 vollauf in die Brisanz der Geschichte einfühlte und ein superstarkes, heiteres und dennoch dramatisches Ballett erschuf.
Allerdings hat Ashton wohl auch aus den Fehlern von de Valois gelernt. Weil man das auch heute noch kann, ist ihre Inszenierung tatsächlich auch sehr streng genommen keineswegs uninteressant.
Die Leckerbissen – die Soli und Pas de deux – entstammen überwiegend der traditionellen russischen Version. Ninette de Valois, die im übrigen amtlich weder Ninette noch de Valois hieß, sondern sich einen kompletten Künstlernamen gönnte, hatte immerhin Respekt vor Marius Petipa und seinen Mannen.
Schließlich muss man aber auch für Enrico Cecchetti konstatieren: Er war ein genialer Ballettmeister, der einen ganz bestimmten Stil, der auf Kompaktheit und Intensität abzielte, ausprägte, und viele Trainingsleiter schwören noch heute auf seine Rezepte. Aber seinen Einfluss auf die Choreografie sieht man hier nicht mehr.
Und so hat man mit der britischen „Coppélia“ ein naiv-attraktives Handlungsballett, in dem jede Note der Partitur sozusagen Eins zu Eins choreografisch umgesetzt ist. Ninette de Valois war gerade darauf besonders stolz.
So kann man Kinderballette illustrieren – für erwachsene Zuschauer aber darf es etwas hintergründiger und vielschichtiger ausfallen, auch und gerade, wenn es sich um eine getanzte Operette handelt.
Das ist dann der Unterschied zwischen tänzerischer Komposition und bloß dekorativem Arrangement. Die Spannung zwischen Tanz und Musik sollte nie aufgegeben werden – etwas, das Ninette de Valois offenbar nicht wusste.
Diese Vorgehensweise als besonders „musikalisch“ zu loben, wie es Royal-Ballet-Director Kevin O’Hare macht, zeugt von einiger Hilflosigkeit. Denn das einzige Argument, das O‘Hare für die von ihm entschiedene Wiederaufnahme dieser verstaubten Inszenierung zu nennen hat, ist, dass sie „zum Erbe des Royal Ballet“ gehöre. Leider aber nicht zu dessen besonders gutem Teil.
Wenn man bedenkt, was Pierre Lacotte 1973 an der Pariser Opéra und jetzt kürzlich wieder mit dem Wiener Staatsballett aus „Coppélia“ gemacht hat – nämlich ein historisch-nostalgisch durch und durch liebreizendes, an Details und Raffinement reiches romantisches Lustspiel – dann ist die Fassung von Valois dagegen doch etwas stumpfsinnig.
Die Geschichte ist ohnehin schnell erzählt: Swanilda muss um die Zuneigung ihres Verlobten Franz bangen, denn er fühlt sich von der im Erker des Erfinders Dr. Coppélius sitzenden, menschengroßen Puppe Coppélia sehr angezogen. Franz hält sie natürlich für ein Mädchen.
Während Swanildas Bemühungen, mit ihrer Rivalin zu kommunizieren, erfolglos bleiben, erntet Franz immerhin ein ruckhaftes Verbeugen und Winken der Puppe.
Leider ist er Feuer und Flamme für das fremdartige Wunderwesen…
Die Handlung erweist dann, wer das eigentliche Wunderwesen ist: die ganz normale junge Frau, die allerdings schwer gewitzt ist: Swanilda.
Marianela Nunez füllt die schauspielerisch wie technisch hoch anspruchsvolle Partie mit so viel Leben und Fröhlichkeit, mit so viel schelmischem Charme und draufgängerischer Energie, dass man sich an ihr kaum sattsehen kann.
Sie ist die Anmut in Person – und erweist sich in „Coppélia“ auch noch als außerordentlich komisches Talent, bis hin zum Volkstümlich-Spaßhaften.
Ihre munteren Soli sind voller Esprit, in den Pas de deux scheint sie unter den Händen ihres Partners zu fliegen.
Es gibt derzeit aber auch wohl kaum eine Ballerina in der Welt, die so viele so verschiedene Rollenansprüche so umwerfend lebendig erfüllen kann.
Und: Marianela hat dank Kevin O’Hare – den man dafür nun loben muss – die Möglichkeit, all das zu zeigen!
Da ist Vadim Muntagirov als einer der weltbesten Primoballerinos aber auch eine exquisite Wahl für sie als Partner. Das Profil von Franz füllt er spielerisch und bravourös aus: Er flirtet und spielt, er ist windig und wechselhaft in seiner Liebe, er ist verliebt in die Liebe, in das Begehren, in das flirrende zwischenmenschliche Amüsement. Da ist nicht nur eine Blume interessant für ihn.
Ja, Swanilda muss um ihn kämpfen! Das hier ist nichts für verwöhnte Prinzessinnen.
Ach, und La Nunez legt los, bei jeder Gelegenheit, Funken sprühend und sich selbst scheinbar vergessend, wiewohl die Füße schön gestreckt sind und sich der ganze Körper unaufhörlich in harmonischen Linien wiegt.
Diese Delikatheit, immerhin, hat sie in die Version von Ninette de Valois retten können.
Die Kostüme, in denen all das stattfindet, kommen wie das Bühnenbild von Osbert Lancaster. Sie sind zwar nicht schön im herkömmlichen Sinn – dazu wirken die farblichen Kombinationen zu gewollt kontrastreich – aber sie erzählen von der folkloristischen Nähe Galiziens zu Ungarn.
Das ungarische Temperament ist in den Gruppentänzen hier allerdings stark domestiziert, und dass die Corps-Damen zudem exzessiv junge gewählt sind, macht es nicht besser.
Verwunderlich ist es aber schon, dass das Corps offenbar nicht weiß, dass ein Balancé nicht bei den Füßen endet. Ein Balancé, also ein weicher walzernder Wiegenschritt zur Seite, der auch gedreht ausgeführt werden kann, muss den ganzen Körper erfassen, und insbesondere das Brustbein muss sozusagen mitschwingen, der Oberkörper sich also in Brusthöhe leicht mitwiegen.
Der Hamburger Ballerino Alexandr Trusch vollzieht dieses als „Spectre de la Rose“ in John Neumeiers „Nijinsky“ (auch als DVD erschienen) hinreißend und absolut vorbildhaft!
Das Royal Ballet Corps jedoch bleibt im Oberkörper stocksteif, was nun auch gar nicht der britischen Stilart entspricht – vielmehr hätte man erwarten können, dass hier zuviel mitgewogen und mitgezogen wird, der berühmt-berüchtigten Süßlichkeit des englischen Ballettstils wegen. Der hätte nun eine Hochburg in all den Balancés finden können, aber da wurde wohl aus guter Meinung heraus schlicht zuviel gegengesteuert.
Vielleicht liegt es da an dem Ballettmeisterteam, vielleicht aber auch an der Jugend der tanzenden Damen, dass hier so manche Raffinesse verloren geht.
Kevin O’Hare wäre auf jeden Fall gut beraten, auch im Corps ältere, erfahrenere Tänzerinnen auf die Bühne zu bringen – und nicht nur die Küken hinzustellen.
Für die schon seit 2002 als Principal hochkarätig besetzte Marianela Nunez jedenfalls war es ebenfalls unvorteilhaft, dass die restliche weibliche Dorfgesellschaft gut zwanzig Jahre jünger als sie wirkte.
Auch an so etwas sollte bei Besetzungen gedacht werden.
Sehr charmant und durchweg gut besetzt war hingegen die Moderation des Abends für die Kino-Besucher: mit der sehr aufmunternden, intelligent wirkenden Anita Rani (als gelernte Journalistin) und der immer aufregenden Darcey Bussell als ehemaliger Ballerina.
Darcey verkauft zwar als repräsentative Autorität das dubiose pseudopädagogische System der Royal Academy of Dance, das mit dem Royal Ballet nichts zu tun hat. Aber dafür sieht sie mit 50 Jahren so aus wie andere mit 30(moderne Methoden machen’s halt nicht nur im Schlechten, sondern auch im Guten möglich).
Noch etwas gefiel bei der Kino–Übertragung: Die Ouvertüre mit Kamerafahrten in den Orchestergraben, sie gab Einsichten, die man als Opernhaus-Besucher sonst nur höchst selten haben kann.
Der Dirigent des Abends war im übrigen Barry Wordsworth, der die Partitur möglichst „werktreu“ spielen ließ, also ohne eigene Zugabe interpretatorischer Reize. Man mag das langweilig finden, in London aber gehört das beim Ballett zum guten Ton.
So lagen die Highlights fraglos bei den Tänzern, allen voran bei der entzückenden Marianela Nunez und dem energetischen Vadim Muntagirov.
Beiden gelangen sowohl die tänzerischen als auch die pantomimischen Passagen mit sichtbarer Freude – und in so perfektem Ausmaß, dass das allein schon den Besuch der Veranstaltung lohnte.
Vadim Muntagirov besuchte in seiner Kindheit übrigens die Ballettschule im russischen Perm, die als eine der härtesten weltweit gilt.
Mit einem Stipendium, das er beim Prix de Lausanne gewann, kam er zur professionellen und hoch renommierten Schule des Royal Ballet in London. Von dort aus machte er eine Bilderbuchkarriere.
Heute kann man Muntagirov als so etwas wie das Chamäleon unter den internationalen Startänzern bezeichnen. Mit breitem Stoffstirnband am Haaransatz und höchst eleganten Sprung-Manövern erinnerte er bei den Proben an den Stuttgarter Weltstar Friedemann Vogel, während er mich bei den Drehungen und Pantomimen in „Coppélia“ an die Berliner Koryphäe der klassischen Virtuosität, Dinu Tamazlacaru, erinnerte.
Solchermaßen mit dem Flair ewiger Jugend sowie mit expressiver Darstellung gewappnet, tanzte Vadim einen Franz, der ganz Flittchen, ganz verführbarer heißblütiger Trottel ist. Und dabei ist er auch noch so attraktiv, dass Swanildas Herz beinahe bricht.
Aber nur beinahe! Denn dieses Mädchen ist eine Kämpferin, und als sie sich als ihre Konkurrentin Coppélia verkleidet – denn rasch hat sie durchschaut, dass diese Puppe nicht lebt – gewinnt sie die nächste Runde. Und die übernächste auch!
Da hätte man sich einen dämonisch schillernden Dr. Coppélius von Rang dazu gewünscht, was die Inszenierung von Ninette de Valois aber grundweg verhindert. Für sie ist der durchgeknallte Wissenschaftler eben nur das: ein peinlicher alter Fanatiker, der allen Ernstes glaubt, er könne durch den Diebstahl einer Seele seinem Puppenautomaten Leben einhauchen.
Dass heutzutage mit der künstlichen Intelligenz und mit der Idealisierung von Robotern ernsthafte Gefahren aus dieser Richtung drohen – verbunden mit unhaltbaren Heilsversprechungen an die Menschheit – hat de Valois offenbar nicht geahnt.
So blieb Gary Avis als auch noch offenkundig jüdischer Coppélius – der eine jüdische Kippa auf dem dem Kopf trägt – nichts anderes übrig, als den clownesk-verrückten Professor zu markieren. Dabei könnte die Partie hier doch so viel mehr hergeben.
Die Idee, den Menschen – und gerade das Sexualobjekt Frau – durch eine Maschine zu ersetzen, kam im übrigen schon immer aus der so genannten seriösen Wissenschaftlerecke.
Dass am Ende hier dennoch ein fröhliches Hochzeitsfest steht, versteht sich fast von selbst, wenn man der Musik von Beginn an zugehört hat. Mit Walzern satt und ohrwurmreifen Melodien fräst sie zielsicher auf die Versöhnung aller Gegensätze zu.
Dabei endet „Der Sandmann“, der einst die Idee zum Ballett „Coppélia“ abgab, mit abgrundtiefer, psychologisch durchwirkter Tragik… und mit Nuancen, die eher an die Wildheit von Richard Wagner denken lassen als an den freundlichen Léo Delibes. Die Lektüre sei darum wärmstens empfohlen, vielleicht zu einem warmen Tee oder Punsch und bei ein oder zwei Weihnachtskeksen (Schokoladenweihnachtsmänner sind als Ersatz herzlich willkommen).
Als nächstes Ballettwunder im Kino aus London erwartet uns dann „Der Nussknacker“ in der glamourösen, zeitlos gültigen Inszenierung von Peter Wright mit der hinreißenden Musik von Peter I. Tschaikowsky, mit der bildhübschen Lauren Cuthbertson als erhaben-niedliche Zuckerfee.
Wright, ein verdienterKünstler und begabter Choreograf, feierte im November 2019 seinen neunzigsten Geburtstag. Aber sein 1984 entstandener „Nussknacker“ wirkt noch immer erfrischend und beglückend, gehört er doch zu den insgesamt erfolgreichsten Produktionen des Royal Ballet.
Man kann sogar sagen, dass Wrights „Nussknacker“ eine getanzte Visitenkarte der Truppe ist. Darum gilt: Nicht verpassen!
Ja, und wie sollte es anders sein: Auch der „Nussknacker“ entstand, wie „Coppélia“, in Anlehnung an eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann („Nussknacker und Mäusekönig“), die 1816 in Berlin erstmals erschien.
Und auch der „Nussknacker“ wurde selbstredend in der russischen Originalchoreografie von Marius Petipa kreiert, dessen Assistent Lev Ivanov 1892 nach Petipas Anweisungen die Ausführung besorgte. Peter Wright hat das nie vergessen und die Ästhetik der Petipa-Combo genau verstanden – und in seiner Bearbeitung des Stücks fortgeführt.
Die deutsche Art, Weihnachten zu feiern, regte auf diese Weise international die Ballettkunst an, und wer den Weihnachtsbaum auf der Bühne des Royal Opera House noch nie gesehen hat, der sollte dafür nun unbedingt den Weg ins Kino finden!
Gisela Sonnenburg