Kunst im Spielfeld von Tanz und Natur Referenz an Kinsun Chan: Mit „Vice Versa“ gibt es beim Semperoper Ballett in Dresden einen tollen philosophischen Ballettabend

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Mit Schwung in die Zukunft: Nastazia Philippou und das Semperoper Ballett in „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui, im ersten Teil des Abends „Vice Versa“. Wow! Foto: Admill Kuyler

Wind und Technik, Mensch und Büro, Mondnächte und Gewitter, Adam und Eva: Der gestern premierte neue Dresdner Ballettabend „Vice Versa“ kommt mit einer atemberaubenden, dennoch puristischen Ästhetik sowie mit im Tanz eher selten so stark platzierten Themen einher. Er lehrt uns etwas, auch bezüglich der eigenen Werturteile: Es kann mal richtig erfrischend sein, sich getäuscht zu haben. Denn wer vom neuen Dresdner Ballettdirektor Kinsun Chan befürchtete, dieser werde sich mit der stattlichen Compagnie dort verheben – ich gestehe, ich gehörte dazu – darf sich jetzt freuen: Da hat man sich geirrt. Seine erste Spielzeit im Elbflorenz meisterte der junge schweizerisch-kanadische Choreograf und Programmmacher Chan mit Bravour, Charme und Souveränität. Und außer seiner eigenen kleinen Revue à la grotesque namens „Wonderful World“ zog Kinsun Chan wahre Brummer der Ballettwelt an Land – und er sorgte auch dafür, dass sie tänzerisch und bühnentechnisch beim Semperoper Ballett famos umgesetzt werden.

Nach „Nijinsky“ von John Neumeier, dirigiert von Simon Hewett, ehemals  Erster Ballettdirigent in Hamburg, kam jetzt ein weiterer Knüller ins Dresdner Repertoire: Mit dem zweiteiligen Abend „Vice Versa“ wird ihm eine ganz andere, sehr moderne, auch tiefsinnige Note verliehen.

Es handelt sich, wenn man so will, um Tanz für den Kopf: Die Stücke „Noetic“ und „November“ verbinden Naturerfahrungen des Menschen mit höherer Philosophie.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Jubel des Publikums beim Schlussapplaus der Dresdner Premiere von „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui in „Vice Versa“. Foto vom 28.06.25: Gisela Sonnenburg

Starchoreograph Sidi Larbi Cherkaoui, der marokkanisch geprägte Belgier und derzeitige Ballettdirektor in Genf, schuf mit „Noetic“ schon 2014 ein Werk, das zwischen bildender Kunst und Ballett pendelt. Um es gleich zu sagen: Es ist ein Meisterwerk.

Einerseits gibt es satten Tanz zu sehen, nicht selten im gediegen-ästhetischen Stil von David Dawson oder auch als Anklang an die besten Momente bei Sasha Waltz. Geschmeidig finden sich Soli, Kleingruppen- und Paartänze zu einem Kanon des Miteinanders.

Andererseits sind Bühnenrequisiten hier wichtig – dazu später mehr.

Zu Beginn ist es eine reine Männerwelt, in die Cherkaoui uns entführt. Die Herren tragen ein schickes Büro-Outfit: die Weste passend zur Hose, das Hemd oben mit Krawatte verschlossen. In Soli zeigen sie ihre Qual mit der Arbeitswelt und dem Rest ihres unterdrückten Daseins. Aber als Kollegenteam blühen sie auf, helfen einander zu Turmaufbauten, stützen einander in Balance-Posen.

Das Semperoper Ballett tanzt all das mit Hingabe und schelmischem Witz, mit genau richtiger Mischung aus absoluter technischer Grandezza und ausdrucksstarkem Willen, in den neoklassischen Passagen wie auch in den zeitgenössischen Zappelbewegungen, die hier niemals steif wirken.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Das Leben ist kein Laufsteg, aber manchmal ist es so ähnlich: Das Semperoper Ballett in „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui im Abend „Vice Versa“. Foto: Admill Kuyler

Die Damen in modischen schwarzen Latex-Glockenröcken sind zudem  schlichtweg bezaubernd. Feminine und strenge Bewegungen wechseln einander ab, aber nie wirken die Mädchen hier kalt und arrogant oder zu naiv, um wahr zu sein.

Aber auch in ihrem Lager wird im Stück mit der Welt, so, wie sie ist, gehadert. Mal barfuß, mal in High Heels, entwickeln die Tänzerinnen aus dem Grundgefühl des fröhlichen Zwiespalts heraus ihre Soli und Trio-Gruppen, die zart und rebellisch zugleich wirken.

Das Besondere aber ist hier das Spiel mit langen metallischen Latten, die an elastische Fußleisten erinnern. Der britische Bildhauer Antony Gormley schuf sie, und Cherkaoui lässt seine 19 Tänzerinnen und Tänzer damit zuerst die Bühnenwelt vermessen, dann hohe Bögen sowie große Kreise und schließlich einen Globus, aus dem ein übergroßes Atom erwächst, formen.

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Ein Tänzer stellt sich hinein und schwört mit zwei Fingern – ja, was? Es woh nichts geringeres als dies: dass er die Welt zu retten vermag. Um nichts anderes scheint es hier zu gehen, auch wenn sich das erst gen Ende, sozusagen im Rückblick auf das Stück ergibt.

Langsam steigert sich darin die Not und die Notwendigkeit zu handeln. Dieser dramaturgische Aufbau ist Sidi Larbi Cherkaoui fantastisch gelungen. Scheinbare Einzelszenen summieren sich zum Abbild einer Welt, die der unsrigen zum Verwechseln ähnelt: Immanent ist darin der Moment der Utopie, der unsterbliche Hoffnungsschimmer im Hinblick auf eine Zukunft, die derzeit dennoch unerreichbar ist.

Diese Transzendenz entsteigt dem Tanz ohne Widerwehr.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Eine Pose mit Pfiff, die beim Premierenabend auch heftigen Szenenapplaus erntete: Das Ensemble vom Semperoper Ballett in „Noetic“ im Abend „Vice Versa“. Foto: Admill Kuyler

Hoffnung stiftet dazu auch die Musik von Szymon Brzóska. Samtweich aufspielende Violinen und ein markantes Schlagzeug, dazu das asiatische Saiteninstrument Kokyo und viel Eleganz von der Querflöte, gekrönt von der Sopranistin Miriam Andersén, die auf der Bühne steht und mit lateinischen Gesängen Teil des Spiels ist, bilden einen akustischen Genuss für sich.

Schließlich dürfen die Tänzer, wie einst bei Pina Bausch, viel und deutlich sprechen: auf deutsch und englisch. Die Texte sind sanfte Provokationen, denn widersinnig und absurd täuschen sie Pseudowissenschaft an. Der Mensch muss sich hier fragen und befragen lassen, was er will und wozu er überhaupt noch in der Lage ist.

Da geht es mal um den Realitätsgehalt von Zahlen, dann wieder um die Magie, die von ihnen ausgeht. Zeichen als Symbole haben eine Verbindung zur Mathematik: Das Pentagramm, der fünfzackige Stern, und das Hexagon, spielen in der Mystik seit jeher große Rollen.

„Wenn man den Zahlen folgt, erhält man Verdoppelung.“ Und: „Unsere Zellen verdoppeln sich, um uns zu erschaffen“ – mehr Verdrehung von logisch möglichen Fakten als in den im Stück vorgetragenen Sätzen ist schwer vorstellbar.

Doch mitunter klingen die wirren Phrasen, die von den Tänzern wie Glaubensweisheiten verkündet werden, auch wie technische Anweisungen. Ist das Leben nicht so heutzutage? Tu dies, mach das, dann ergibt sich das und das. Doch was, wenn das nicht stimmt?

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Die Tänzerinnen und Tänzer vom Semperoper Ballett applaudieren dem kreativen Stab mit Sidi Larbi Cherkaoui (dritter von links vorn in Blau). Foto: Gisela Sonnenburg

Die Posen, zu denen sich die Tanzenden in diesem Sinne finden, reißen das Premierenpublikum immer wieder zu starkem Szenenapplaus hin. Diffizil und auf den Punkt gebracht, vermitteln die Körper jenen Zweifel als Basis jeglicher Gedanken, von dem aus sich etwas Sinnvolles aufbauen lässt.

Am Ende geht es um die „Energie, die uns am Leben hält“ – und es schwingt mit, dass sie begrenzt sein könnte.

Dazu trommelt das Schlagzeug, von Shogo Yoshii ebenso versiert bedient wie das Kokyu und eine exotische Flöte, als befände man sich in einer schamanischen Beschwörung. Und das Orchester antwortet mit wackelsicheren Harmonien. Der Gesang schließlich verleiht dem Bühnengeschehen die Aura einer Zeremonie, die Sopranistin Andersén wirkt, an der Rampe stehend, wie eine moderne Hohepriesterin.

Doch die körperlich-konkreten Statiken sind real und korrekt. Keine Bewegung läuft hier aus dem Ruder, wirkt zerzaust oder dümmlich. Das hier ist keine urtümliche Ritualanmaßung. Auch die aufbegehrenden Soli verströmen einen Stil, sind nie unsicher oder zufällig. Expressiv kommt manche Körperlichkeit einher; aber auch den Kontrast, die Stille und das Insichgekehrte lernt man hier kennen.

Der Titel „Noetic“, die philosophische Strömung der Neotik zitierend, wird solchermaßen eingelöst: Es geht um eine Verbindung von Intuition und Verstand.

Der große Jubel für alle Beteiligten ist absolut verdient.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Der vielseitige Musiker Shogo Yoshii hier mit der Kokyu in der Semperoper. Foto: Admill Kuyler

Dazu passt dann als zweiter Teil die Uraufführung des Abends: „November“ des Geschwisterpaares Imre und Marne van Opstal. Das Werk ist sichtlich abgestimmt auf Cherkaouis Stück, und das ist gut so.

Der Hauptdarsteller ist hier unsichtbar: Es ist der Wind, der unablässig den monströs großen, silberblauen Vorhang (der von Boris Acket entworfen ist) im Hintergrund der Bühne bewegt.

Eine Mondnacht mit Gewitter erstreckt sich solchermaßen über eine Horde Menschheit, es mögen ein Tag und eine Nacht sein oder mehrere solcher Sentenzen: 32 Tänzerinnen und Tänzer recken und strecken, heben und drehen sich, und manchmal wirken sie wie in einer Neufassung von „Le sacre du printemps“.

Zwei Gruppen sind es zumeist, die tänzerisch gegeneinander antreten. Tanzt die Truppe links vom Vorhang, stehen die Tänzer rechts auf der Bühne in einer frozen position. Und vice versa – der übergreifende Begriff, der dem ganzen Abend den Titel verlieht, lässt sich hier besonders gut anwenden.

Am Ende aber geht es in „November“ nicht nur um den Wind und die ihm stets unterliegende Menschheit, sondern schlicht um Adam und Eva, die sich hier überraschenderweise in aller Ruhe trennen.

Ist das die Zukunft oder war das der Anfang vom Ende? Ist die Trennung von Liebenden, denen der Partner nicht mehr genügt, ein Urtrauma in der Welt? Das Ganze ist eher metaphorisch zu betrachten, und es erinnert an das „Symposium“ von Plato. Die Zusammengehörigkeit der Energien, die die Menschen krass trennen, wird sich rächen…

Insofern ist die herbstliche Jahreszeit des „November“ auch so etwas für das berühmte Fünf vor Zwölf auf der Lebensuhr.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Der große Vorhang von Boris Acket ist immer in Bewegung: „November“ von Imre und Marne van Opstal beim Semperoper Ballett, im Abend „Vice Versa“. Foto: Admill Kuyler

Die Musik von Arvo Pärt stimmt ebenfalls lunarisch, mit köstlichen Passagen der Bläser, vor allem beim Horn.

Dirigentin Charlotte Politi führt die Sächsische Staatskapelle Dresden sicher durch den Abend, durch beide auch musikalisch anspruchsvolle Stücke, was eine Leistung ist: mit grandios anschwellenden Spannungen in den Melodiebögen.

Man muss Kinsun Chan und Dresden gratulieren: Dieser Abend ist ein Highlight, rundum, und er füllt mit seinem Brückenschlag zwischen bildender Kunst und Tanz nachgerade eine Lücke im Kosmos unserer Kultur.

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Großer Applaus auch für das Team vom „November“ von Imre und Marne van Opstal beim Semperoper Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht verpassen!
Gisela Sonnenburg

"Vice Versa" - ein zeitgenössischer Triumph beim Semperoper Ballett

Ein wunderbares Ensemble aus Tänzerinnen und Tänzern: Das Semperoper Ballett nach „November“ im Abend „Vice Versa“ beim Premierenjubel. Foto: Gisela Sonnenburg

www.semperoper.de

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