Melancholie der Moderne Mythenpflege mit Traurigkeit: Das Nederlands Dans Theater gastiert im Haus der Berliner Festspiele

Drei Langweiler und eine Novität beim NDT.

Ist wirklich nur der Mond schuld? Beziehungshorror in „Shoot the Moon“ beim Nederlands Dans Theater, zu Gast bei den Berliner Festspielen. Foto: Rahi Rezvani

Vier Stücke sind es insgesamt, mit denen sich das aktuelle Nederlands Dans Theater (NDT) bei einem Gastspiel in Berlin vorstellt. Die Truppe aus Den Haag galt in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als das Nonplusultra der ballettösen Erneuerung; unter der Leitung des Choreografen Jiří Kylián fand sie seit den 70er Jahren langsam, aber sicher zu einer Blüte, die sie in den letzten Jahren eher vermissen ließ. Abstrakter moderner Tanz ohne Spitzenschuh-Ästhetik, mit sportlichen, aber dennoch seelenvoll-eleganten Elementen – dieser Stil prägte das NDT und seine meist jungen Choreografen in Kyliáns Ära. 1999 gab Kylián die Führung der Truppe ab, blieb ihr aber bis 2009 als Hauschoreograf verbunden. Seither lebt das NDT vom Ruhm vergangener Tage – und dümpelt, wenn auch auf technisch hohem Niveau, ohne wirkliche Innovation vor sich hin. In Holland hat ihm das Het Nationale Ballet in Amsterdam – eine eher konventionelle Balletttruppe mit eigener Schule – längst den Rang abgelaufen; nur auf Tourneen, von PR-Gläubigen und im Lexikon-Journalismus wird der Mythos vom NDT nach wie vor mit viel Applaus gepflegt. Jetzt zeigt sich die Truppe seit langem mal wieder ausgiebig in Berlin.

„Shoot the Moon“, erschieß den Mond, heißt das erste Stück, das drei Paare in drei Wohnungen mit reichlich Tapeterie als Inspiration vorzeigt. Ist wirklich nur der Mond dran schuld? Die missglückenden Liebesgeschichten hier sind das Thema des Choreografenduos Sol Léon und Paul Lightfoot. Lightfoot ist übrigens derzeit der künstlerische Leiter vom NDT. Aber die Liebe bietet zur Musik von Philip Glass in seinen Arbeiten keine wirklich begeisternde Utopie, vielmehr ist alles auf eine Art Zustandsbeschreibung reduziert. Geradezu zwanghaft müssen sich Menschen hier paaren – der Begriff der Freiheitssehnsucht wabert unausgesprochen, aber als Störfaktor fühlbar, zwischen ihnen. Der Melancholie der Moderne wird dabei ausgiebig gefrönt, jedoch ohne ihr auf den Grund zu gehen. Ganz neu ist dieses Stückchen Nicht-mehr-Liebe auch nicht: Es stammt von 2005/06. Immerhin hat es damals in den Niederlanden einen lokalen Tanzpreis bekommen – was auch immer all diese Preise, die nicht wirklich bedeutend sind, bewirken sollen.

Drei Langweiler und eine Novität beim NDT.

Effekte mit Nebel und Bühnenschnee: „Stop-Motion“ von Sol Léon und Paul Lightfoot spielt mit Möglichkeiten vor allem technischer Art. Foto: Rahi Rezvani

Einen stärker experimentellen Charakter hat eine andere, von 2012 stammende Arbeit desselben Choreografenteams: „Stop-Motion“, was schwer zu übersetzen ist. Der Titel bezeichnet eine Filmtechnik, die beim Daumenkino, beim Trickfilm und bei Spezialeffekten verwandt wird: Bild für Bild wird einzeln aufgenommen und dann aneinander gereiht. Voilà! Zur modern-schwelgerischen Musik von Max Richter gibt es heroische Posen mit sieben TänzerInnen zu besichtigen. Da wird mitunter so gottergeben synchron getanzt, als lebten Menschen gerne wie die Klone in Rudeln, während in den Paartänzen und in den Soli das schöne Leiden an der schnöden bösen Welt nahezu ritualhaft zelebriert wird: Nähe und Intimität als Rettungsanker im entfremdenden Alltag. Nebelschwaden und wallende Tücher, dazu ein Untergrund wie aus Pulverschnee verweisen auf einen existenzialistischen Begriff von Romantik. Dass es dazu Videos in Zeitlupe gibt, versteht sich fast von selbst – schließlich geht es um die melancholische Sehnsucht, die Zeit festhalten und den eigenen Zustand für immer bewahren zu wollen. Den Vorwurf der Effekthascherei muss sich diese Arbeit allerdings machen lassen.

Drei Langweiler und eine Novität beim NDT.

„Thin Skin“ von Marco Goecke zeigt das Unglück der Dünnhäutigen – unterdrückte, aber scheinbar tätwierte Menschen pflegen ihren Narzismus. So zu sehen beim NDT im Berliner Festspielhaus. Foto: Rahi Rezvani

Das dritte Stück der Gastspielabende alterniert. Zunächst gibt es „Thin Skin“, dünne Haut, von Marco Goecke. Darin absolvieren Scheintätowierte (die entspechend bemusterte Leibchen tragen) zu fetzig-trauriger Musik von Patti Smith und Keith Jarrett die Goecke-üblichen, sattsam bekannten Bewegungen des Jammers. Man könnte wohl sowieso alle Ballette von Goecke unter dem leicht ironisch gemeinten Oberbegriff „Die Unterdrückten“ zu einem schier endlos erscheinenden Zyklus zusammen fassen. Darin ist dieses hier ein typisches Element in der Endlosschleife. Immerhin – wer noch kein Stück dieses 1972 geborenen, zeitgenössischen Künstlers sah, für den dürfte es sich lohnen, sich mal eines anzuschauen. Man sollte ihn dabei nur nicht überschätzen.

Als Hauschoreograf in Den Haag wie auch beim Stuttgarter Ballett füllt Goecke seit einigen Jahren die Lücken, die der Mangel an wirklich fähigen arrivierten Jungchoreografen in Europa, zumal in Deutschland, aufklaffen lässt. Mit den hochkarätigen Arbeiten etwa von Christopher Wheeldon (1973 geboren) oder Wayne McGregor (1970 geboren) kommt Goeckes Einheitstristesse jedoch ganz sicher nicht mit, um mal bei seiner Generation zu bleiben. Wheeldon und McGregor arbeiten viel in London, beim Royal Ballet, aber Wheeldon wird demnächst auch beim Staatsballett Wien mit einem atemlos-faszinierenden Stück („Fool’s Paradise“) zu erleben sein.

Das Gastspiel des NDT in Berlin trieft jedenfalls nur so vor sorgsam gebügelter Traurigkeit. Da schert auch das vierte Stück, das nur an zwei Abenden zu sehen ist, nicht aus, es fährt aber auch tänzerische Originalität statt nur szenische Effekte auf: Es ist das gruppendynamische „Solo Echo“, das Echo eines Solos, das die mit dem Geburtsjahr 1970 ebenfalls zur Garde der Fastnoch-Jungen gehörende Kanadierin Crystal Pite 2012 mit viel Tiefsinn kreierte. Zwei Sonaten für Cello und Klavier von dem balletterprobten Johannes Brahms bebilderte sie mit einer Lebensreise auf den Pfaden der, nun ja, Melancholie.

Drei Langweiler und eine Novität beim NDT.

Gruppe und Individuum: „Solo Echo“ von Crystal Pite zeigt zwischenmenschliche Vielfalt. Zu sehen beim NDT im Berliner Festspielhaus. Foto / Screenshot des NDT-Werbetrailers: Gisela Sonnenburg

Pite ist vom Tanz-Guru William Forsythe geprägt, für den sie auch einige Jahre getanzt hat. In dunklen Kostümen, die an modern-legere Bürokleidung erinnern, lässt sie ihre Tänzer sich vor einem Flitterregen gegenseitig halten, anfassen und frei lassen. Der Rückhalt, aber auch die Probleme, die eine Mauer aus Menschen bedeuten kann, sind hier diffzil tänzerisch umgesetzt. Für meinen Geschmack ist dieser elegisch-noble, aber keineswegs oberflächliche Stil von Crystal Pite die richtige Richtung fürs NDT beziehungsweise für jedes Tanzensemble, das sich ausdrücklich der Moderne verschrieben hat.
Gisela Sonnenburg

Das Nederlands Dans Theater in Berlin: am 28. und 29.10. mit der ersten Tripple Bill sowie am 30. und 31.10. mit der zweiten (mit „Solo Echo“ statt „Thin Skin“) im Haus der Berliner Festspiele

Ein meisterliches Stück von Jiří Kylián („Petite Mort“) kann man übrigens im neuen Abend vom Staatsballett Berlin mit dem Titel „Duato / Kylián / Naharin“ in der Deutschen Oper Berlin sehen: am 22. (Premiere), 23., 27. und 29.10.2015

www.berlinerfestspiele.de

www.staatsballett-berlin.de

 

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