Körperfetischismus, leicht gemacht Arthaus Musik hat mit der „Jiří Kylián Edition“ eine richtige Werkausgabe vorgelegt

Widmung an die Oma

Kylián widmete sein Ballett „Sinfonietta“, mit dem er durch ein Festival in den USA über Nacht berühmt wurde, seiner Großmutter. Sie hatte ihn mit aufgezogen. Foto: Jiri Kylián – The Edition

Am Anfang stand für Jiří Kylián die Akrobatik. Als kleiner Junge wollte er unbedingt zum Zirkus, träumte vom „Salto mortale“, betrieb viel Sport, Artistik und Gymnastik. Aber die Tanzgöttin Terpsichore hatte wohl schon früh ein Auge auf ihn geworfen: Die Sportlehrer wollten ihn bald nicht mehr, dafür nahm man ihn am Prager Konservatorium in die Ballettausbildung auf. Der Junge kam aus relativ ungewöhnlichen Verhältnissen: Die Mutter war einst eine Art tschechische Shirley Temple gewesen, ein Kinderfilmstar, und der Vater arbeitete als Bänker. Zu fünft – inklusive der Großmutter – bewohnte die Familie lediglich zwei Zimmer. Es war in der Nachkriegsgesellschaft allerdings keine Seltenheit, sich dicht auf die Pelle zu rücken.

Das Filmportrait des Choreografen Jiří Kylián, von Don Kent und Christian Dumais-Lvowski ursprünglich für arte erstellt und ein Highlight der von Arthaus Musik vorgelegten Kylián-Werk-Edition, beginnt mit einer Erklärung des Künstlers. Wieso er überhaupt seine Biografie erzählen will? Mit zunehmendem Alter sei dieser Wunsch entstanden, sich anzuvertrauen und die Stationen seines Lebens Revue passieren zu lassen. Zur Not, so Kylián lakonisch, könne man die Ergebnisse ja immer noch wegwerfen.

Das ist nun in der Tat nicht nötig. Er hatte Glück mit seinen Filmautoren, auch wenn diese nur indirekt eine eigene Sicht auf Kylián und sein Schaffen werfen. Aufführungs- und Probenszenen von „Bella Figura“ durchziehen den Film, zeigen anhand dessen ohne Kommentar zugleich die Stärken und Schwächen dieses durchaus bedeutenden Tanzschöpfers. Einerseits erhebend schön und oft originell, bilden die einzelnen Szenen von „Bella Figura“ andererseits kein kohärentes Ganzes. Ein Inhalt, der die mit verschiedenen Formen von Beziehungen oder gar die vorgestellten verspielten Körperkulte darin verbinden würde, fehlt. Mal sind es Requisiten wie barock-berockte Stehkorsette für die Damen oder Bühnen-Degen für die Herren, mal sind es körperliche Embleme und kleine Gesten, die der Sache Witz, Trauer und Ästhetik verleihen. Aber nie bildet sich ein roter Faden, etwas, das sich entwickeln würde oder das schlicht eine eindeutige Botschaft senden könnte.

Kyliáns "Sinfonietta"

Kyliáns Ballett „Sinfonietta“ beginnt mit einem Herrentanz, der Leichtigkeit, Aufbruchstimmung und Melancholie zugleich vermittelt. Foto: Jiri Kylián – The Edition

Dennoch prägte der 1947 geborene Kylián bereits weitere Generationen von jüngeren Choreografen, nennenswert sind da zum Beispiel Nacho Duato und Jiří Bubeníček. Kyliáns Stilistik ist ohnehin zu prägnant, um einfach übersehen zu werden. Seine Karriere verlief indes zwar reibungslos, aber nicht ganz klassisch. So begann er als Teenager stark an sich zu zweifeln: „Als ich bemerkte, dass ich nicht so gut wie Nurejew sein würde, wollte ich mit Ballett aufhören.“ Zum Glück überredete man ihn zum Weitermachen.

Mit einem Stipendium des British Council kam er nach London, um an der Royal Ballet School seine Ausbildung zu vollenden. Das „Swingin’ London“ der Sixties regte ihn an, gab ihm Impulse. Anders als andere Ballettmenschen sog er sein gesellschaftliches Umfeld geradezu gierig auf. Als dann auch noch der Prager Frühling Versprechen auf eine erneuerte Gesellschaft in seiner Heimat machte, war Jiří Kylián nicht mehr zu halten. Er reiste heim. Aber er konnte das neue Glück nur eine Woche in Prag genießen, dann kamen russische Panzer. Kylián wollte weg.

Ende August 1968 verließ Kylián Prag, nahm den Zug nach Westen. Er hatte sich bei John Cranko in Stuttgart beworben – und war als Tänzer angenommen worden. Bald war er Solist – und erhielt von der Noverre-Gesellschaft Gelegenheit, Choreografien zu zeigen. „Paradox“ hieß seine erste Arbeit, ein Pas de deux, der für Aufsehen sorgte. Wie drei andere weltwichtige Choreografen des 20. Jahrhunderts – nämlich John Neumeier, Uwe Scholz und William Forsythe – begann Kylián somit seinen Werdegang in Stuttgart unter John Cranko. Dabei bewies er bereits, dass er Tänzer besonders gut versteht, mit ihnen mitfühlt, sie sogar bemitleidet, weil er weiß, wie zerbrechlich und instabil das tänzerische Fluidum sein kann. Der Lohn: Tänzer lieben es, mit ihm zu arbeiten.

Den manchmal überbordenden Körperfetischismus, der sich im Ballett und auch im modernen Tanz vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte, kann man bei Kylián mal eben leichthin akzeptieren. Schönheitszwang, leicht gemacht! Die Körpersprache ist diesem Choreografen wichtiger als die formale Optik. Da gibt es kein Diktat zur Einheitsästhetik, keine operierten Nasen en masse bei den Tänzerinnen und Tänzern – und auch keine so genannten Gardemaße, die aus Individuen scheinbar Tanzmäuse machen. Gruppentanz statt Solobrillanz, ein Stück Natur am Körper statt komplett durchgestylte Figuren: Diese Ideale transportieren bereits seine frühen Choreografien.

1973 beauftragte ihn das Nederlands Dans Theater (NDT) mit einer Arbeit („Viewers“). Seine spätere Lebensgefährtin Sabine Kupferberg war damals dort bereits arrivierte Tänzerin und wollte ihn – aus Verliebtheit – sogar schon vorher zum NDT holen, als Tänzer. Schließlich sei er ein begabter Choreograf, argumentierte sie: „Er passt zu uns!“ Kennen gelernt hatten sich die zwei in Stuttgart, bei einem Gastspiel des NDT. 1975 wurde er dann tatsächlich dort, in Den Haag, Co-Direktor – und führte das moderne Ensemble in den folgenden Jahren mit seinem Stil und seinen Werken langsam, aber sicher zum Weltruhm.

Booklets bei Kylián

Die Edition umfasst neben DVDs auch Booklets – durchaus lesenswert! Foto: Gisela Sonnenburg

Die vorliegende Sammelbox „The Jiří Kylián Edition“ zeigt einen guten Querschnitt durch sein Lebenswerk, versammelt die berühmten Werke und manche weniger bekannte – die ganz großartigen wie die „Psalmensinfonie“ und die eher missratenen wie „L’enfant et les Sortilèges“. Man muss es vielleicht mal deutlich sagen: In allen seinen Schaffensphasen kreierte Kylián, bildlich gesagt, neben edlen Pralinensorten auch kitschige Törtchen. Sein tänzerischer Humor wirkt vor allem dann, wenn das Bühnenbild protzig ist, viel zu plakativ.

Aber die positiven Eindrücke überwiegen: Vor allem die „Black & White Ballets“ wie „Falling Angels“, „No more Play“ und „Petite Mort“ becircen die Sinne, machen einen Alltag und die Sorgen vergessen. Auch das Solo seiner Lebensgefährtin Sabine Kupferberg „Silent Cries“, das sie hinter einer mit Kreide bemalten Glaswand zur Musik von „L’après-midi d’un faune“ tanzt, verströmt eine intensive, aufgeladene Atmosphäre.

Und ganz am Ende, nachdem man wochenlang immer mal wieder mehrere Stunden Kylián-Ballette genosen hat, kann man sich das zweite Filmportrait der Sammlung ansehen: „Jiří Kylián – The Choreographer“ von Hans Hulscher entstand schon 1991 und ist als unfreiwillig komisches Nostalgie-Stück zu begreifen. Marcia Haydée, die Kupferberg und Kylián selbst kommen hier zu Wort: auf dem Plüschsofa unter einer Zimmerpflanze. Sehr menschlich.
Gisela Sonnenburg

„Jiří Kylián – The Edition“, zehn DVDs, Arthaus Musik, 2014, Cat. No. NTSC 107545

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