Tod zweier Titanen Nach Patrick Dupond starb jetzt – an Covid-19 – Ismael Ivo. Die beiden ungleichen Stars hinterlassen eine trauernde Weltgemeinschaft des Tanzes

Er tanzt jetzt bei den Sternen: Ismael Ivo, Ausnahmestar des modernen Tanzes, hier auf der Homepage des von ihm mitbegründeten Wiener Festivals ImPulsTanz auf www.impulstanz.com  – Foto: Kiiping M. Zeller / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Gevatter Tod ist erbarmunglos. Das erste Quartal 2021 ist noch nicht vorbei, aber bereits zwei exponierte Vertreter der Tanzkunst wurden vor der Zeit abberufen. Und beide waren Titanen, obwohl sie es nicht nur leicht hatten. Zunächst der französische Starballerino und Tanzpädagoge Patrick Dupond, der am 5. März 21 im Alter von nur 61 Jahren zu den Sternen ging, wie man in Frankreich sagt. Er verstarb krankheitsbedingt, nach einer rasanten, aber nicht unproblematischen Karriere, die er neben seiner persönlichen Ausstrahlung vor allem der Pariser Opéra verdankte. Diese stürzte ihn allerdings auch in tiefstes Leid, als sie ihn feuerte, weil er sich der Jury des Filmfestivals von Cannes als Mitglied verpflichtet hatte, ohne seinen Arbeitgeber zu fragen. Der Kampf um Anerkennung, um Liebe bestimmte sein Leben. Er hinterließ übrigens keine Kinder, wie auch der zweite jüngst verstorbene Weltkünstler des Tanzes nicht. Mit dem modernen Tänzer und Tanzinitiator Ismael Ivo, der am 8. April 21 im Alter von 66 Jahren von uns ging, hatte Dupond zwar nicht die Wirkungsstätten gemeinsam, aber die beiden verband etwas anderes: Beide hatten sich früh auf relativ unkonventionelle Art hochgearbeitet, jeder auf seine Weise.

Der gebürtige Pariser Dupond schaffte es, mit außergewöhnlicher Technik und vielfachen Pirouetten den Stil der Pariser Opéra zu revolutionieren – eine Seltenheit. Sein persönliches Flair kam dazu und machte das Ballett nachgerade populär. Ismael Ivo kam hingegen aus der unteren Mittelschicht von Sao Paulo, wo seine alleinerziehende Mutter als Hausangestellte und Reinigungskraft arbeitete – aber er schaffte es zum modernen, weltweit begehrten  Startänzer, zum angesehenen Lehrer und aktiven Festivalbegründer. Ivo studierte zunächst in seiner Heimatstadt Fächer wie Soziologie und Philosophie, um sich dann mittels Stipendia zum modernen  Tänzer auszubilden, so am Dance Center Ruth Rachou. Von Brasilien aus zog er in die USA und Europa, um seine Auffassung von Tanz exemplarisch zu demonstrieren.

Ich erinnere mich an Ismael Ivo live in Berlin: in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre gab er eine nächtliche Performance im Literaturhaus in der Fasanenstraße, nahe dem damals noch glamourösen Ku’damm.

Es war keine normale Abendvorstellung im großen Saal bei voller Bestuhlung, auch eine Bühne gab es nicht. Sondern der expressive Ivo hatte sich ein Kabinett mit Holzvertäfelung und Gründerzeitflair ausgesucht, um es zu seinem Tanzraum, seiner Tanzhöhle, seiner Tanzaspis zu machen. Es war ein Insider-Tipp: Das Publikum stand an der weit geöffneten Flügeltür und schaute stehend hinein, zu später Stunde – die meisten kamen von einem anderen Kulturevent oder vom Abendessen.

Die Atmosphäre war surreal und sehr konzentriert. Still und doch spektakulär war das Ereignis, das mehr auf die Notwendigkeit des Tanzes hinwies als auf ein konkretes Thema. Der schöne schwarze Körper glänzte im hellen Licht inmitten dieser rotschwarzbraun polierten Villenenklave. Ismael Ivo hatte Lust am exzessiven Zeigen seiner Kunst, mit Leidenschaft stellt er sie zur Schau, wohl wissend, dass er damit schon aufgrund seiner Hautfarbe in Europa eine Ausnahmeerscheinung war.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

Der unvergessliche Patrick Dupond 1979 mit Beatrice Cordua während der „Nijinsky-Gala V“ bei Ballettdirektor John Neumeier in Hamburg: als Titelheld von „Daphnis und Chloé“. Foto: Thomas Kaiser / Faksimile: Gisela Sonnenburg / aus: „Zehn Jahre John Neumeier und das Hamburger Ballett 1973 – 1983“, erschienen bei Christians

Auch Patrick Dupond war eine Ausnahmeerscheinung. Er tanzte allerdings schon zu Beginn seines Werdegangs weniger im intimen Rahmen als vielmehr auf der großen Bühne, im Opernhaus, vor mehr als 2000 Zuschauern in der Opéra Garnier in Paris. Mit nur 16 Jahren übernahm das Pariser Opernballett den Jungspund aus der Ballettschule in die Compagnie. Seine Ausbildung verdankt er auch Max Bozzoni, einem ehemaligen Tänzer des Pariser Opernballetts, der ihn privat unterrichtete und bis zu seinem Tod 2003 eine Art Vaterersatz für ihn war.

Patricks Talent war unübersehbar, ebenso wie das von Ismael.

Während Dupond sich im Rampenlicht des Balletts mit auch stark erotischer Ausstrahlung emportanzte und dabei mitunter wie ein Patrick Swayze der Klassik wirkte, entwickelte sich Ivo mit eigenwilligen und neu entwickelten, aber immer hochästhetischen Tanzformen. Noch in vorgerücktem Alter stand er auch nackt auf der Bühne – ohne Ansehensverlust.

Beide arbeiteten im Laufe ihres Lebens mit den Choreografen John Neumeier und Alvin Ailey zusammen – beim Alvin Ailey American Ballet Theatre in New York City war Ismael Ivo sogar für eine kurze Zeit in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts im festen Engagement.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

Noch einmal wirft der unsterbliche Ismael Ivo lange Blicke von der Homepage impulstanz.com bis ins weltweite Publikum (Foto: Regina Brocke / Faksimile: Gisela Sonnenburg).

Aber er liebte die Freiheit und konnte sich seinen Pfad als Tanzschaffender selbstbestimmt suchen. Der Tanztheater-Choreograf Johan Kresnik entdeckte ihn für sein Stück über den skandalträchtigen britischen Maler „Francis Bacon“, und auch Ivos Landsmännin Marcia Haydée, die einstige Stuttgarter Starballerina und Muse von John Cranko, sowie der jüdischstämmige Sprechtheaterregisseur George Tabori brachten mit Ismael Ivo vielbeachtete Projekte hervor. Crossover allerorten!

Während Patrick Dupond die Klassik und die Moderne auf klassischem Grund mit Leben erfüllte, erweckte Ismael Ivo mit seiner Moderne eine neue Tanzrichtung.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

Der Startänzer Patrick Dupond mit der Pianistin Élizabeth Cooper sowie hündischem Anhang in leichtmütiger Stimmung in Paris. Foto: Privat / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Terpsichore, die Göttin des Tanzes, war beiden und ihren Projekten hold, insofern, als beide mehr als nur Beachtung für ihre speziellen Talente fanden.

Dupond half dabei das Wettbewerbsprinzip im Nachwuchsballett, er gewann als Teenager  den damals wichtigsten Jugendwettbewerb des Balletts im bulgarischen Varna. Von da an tanzte er sich kontinuierlich empor, wurde zum Premier Danseur und 1980 (mit nur 21 Jahren) zum Étoile an der Pariser Oper ernannt. Internationale Gastauftritte machten ihn berühmt – und in allen Partien, die er tanzte, entzückte sein ganz persönliches Flair.

Als Siegfried, als Albrecht und in vielen neuen Kreationen – so auch als kapriziöse „Salomé“ en travestie in der Choreografie von Maurice Béjart – reüssierte er, begeisterte mit seiner jungenhaft-burschikosen, dennoch auch erotisch-femininen Aura.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

John Neumeier kreierte mit „Vaslaw“ ein Stück über Vaslaw Nijinsky – und Patrick Dupond tanzte die Uraufführung mit Egon Madsen (links) und Lucia Montagnon auf der „Nijinsky-Gala V“ 1979 in Hamburg. Ein Ereignis! Foto: Marcel Fugère/Faksimile: Gisela Sonnenburg, aus: „Zehn Jahre John Neumeier und das Hamburger Ballett 1973 – 1983“, erschienen bei Christians

Bisexualität prägte wohl auch Patricks privates Wesen, wobei er zunächst homosexuell, später heterosexuell lebte. Dass er sich gen Ende seines Lebens negativ über seine frühere  schwule Lebensweise geäußert hat, verweist auf seine in sich zerrissene Charakterstruktur. So hatte er  Drogenprobleme, weshalb man ihn in seiner fünfjährigen Zeit als Pariser Ballettdirektor vielleicht auch ganz gern wieder loswerden wollte. Ab 1995 war er laut wikipedia nur noch Étoile und Ballettmeister in Paris, und man kündigte ihm 1997 mit dem Anlass, dass er für die Mitgliedschaft in der Jury beim Filmfestival in Cannes keine Erlaubnis gehabt eingeholt hatte.

Dass er mal der Nachfolger von Rudolf Nurejew an der Spitze der Pariser werden würde, war ihm sicher nicht in die Wiege gelegt. Und auch Nurejew selbst war kein großer Förderer von ihm: Er reduzierte die Auftritte von Dupond in einer fast kränkenden Weise, auch wenn es Fotos gibt, auf denen die beiden Stars lachend Freundschaft demonstrierten. Sie hatten eine ambivalente Beziehung: mit Respekt voreinander, aber auch von Konkurrenzdenken geprägt.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

Die Welt trauert um Patrick Dupond – auch mit Bildern, wie der Recherche mit Google zu entnehmen ist. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Im Jahr 2000 erlitt Dupond einen schweren Autounfall, erholte sich allerdings, und er unterrichtete seit 2004 regulär in der Ballettschule seiner privaten Partnerin Leila Da Rocha. Auch in Bordeaux waren die beiden als Team tätig, suchten Ballett und orientalischen Tanz zu verbandeln. Schließlich landete der charismatische Star wieder als Jury-Mitglied in der breiteren Öffentlichkeit: in der Fernseh-Show „Danse avec les stars“.

Ob es ein Krebsleiden war, das ihn dahinraffte, oder eine andere zehrende Krankheit, ist nicht bekannt. Aber kurz vor seinem 62. Geburtstag – er wurde am 14. März 1959 in Paris geboren – verstarb er, für seinen engsten Kreis nicht ganz unerwartet.

Ismael Ivo kämpfte einen anderen, dennoch auch ähnlichen letzten Kampf. Wochenlang hatte er bereits wegen seiner Erkrankung an Covid-19 im Krankenhaus in Sao Paulo gelegen. In seine von Corona stark betroffene Heimat war er nach seiner international absolvierten Karriere schon 2017 zurückgekehrt, er wirkte hier bis 2020 als Co-Intendant vom Theatro Muncipal und koordinierte von dort aus seine vielfältigen weltweiten Tätigkeiten.

Patrick Dupond und Ismael Ivo, zwei Stars des Tanzes starben schon 2021

Die Welt trauert um Ismael Ivo – auch bei der Google-Bildersuche. Faksimile: Gisela Sonnenburg

So für das jährliche Festival ImPulsTanz in Wien, das er bereits – zunächst unter dem Titel „Internationale Tanzwochen Wien“ – 1984 zusammen mit Karl Regensburger gegründet hatte. Bis 2019 war er hier als Dozent tätig. Auch für die moderne Tänzerausbildung insgesamt gründete Ismael Ivo Programme, unterrichtete auch selbst gern – wie einst Gret Palucca – Laien und Profis gemeinsam. 2013 war er sogar als Gastdozent am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien tätig.

„Es war uns eine Ehre, Ismael an unserer Seite zu wissen – welch ein wunderbarer und großzügiger Mensch!“ – Das ruft ihm ergriffen sein Weggefährte Karl Regensburger nach.

Er ist als Intendant des Festivals weiterhin tätig. Für dieses Jahr ist der Wiener ImPulsTanz mit Workshops, Symposien und Aufführungen vom 15. Juli bis zum 15. August 2021 geplant – man muss hoffen, dass die Pandemie die Vorarbeiten möglichst nicht zunichte macht.

Ismael Ivo verstarb an Covid-19

1984 tanzte Ismael Ivo den hoch ästhetischen „Phoenix“ in der Berliner Schaubühne. Er kreierte das Solo für sich selbst, eine Art männliche Isadora Duncan der 80er-Jahre. Kult! Das Foto stammt von Dietmar Friton (mit freundlicher Genehmigung), der zeitweise mit Ivo privat ein Paar war. 

Von zwei Schlaganfällen im letzten Jahr schaffte es Ismael Ivo sich zu erholen, aber gegen die Infektion mit diesem tückischen Virus, das unser aller Leben derzeit zumindest indirekt bestimmt, konnte er nicht mehr gewinnen. Ob er jetzt im Tanzhimmel auf Patrick Dupond trifft?

In meinem Herzen tanzen beide weiter: Ismael Ivo mit seinen tiefen Blicken und seinem starken Muskeltonus – er wusste genau um den Zauber einer eleganten Beinstreckung. Und Patrick Dupond mit seinem kecken Lächeln und seinem unvergänglichen Bubencharme, der ihn im Innersten immer ein Kind bleiben ließ.
Gisela Sonnenburg

Gefällt Ihnen dieser Artikel? Im obigen Beitrag stecken rund 12 Stunden Arbeit ohne Einnahmen. Wenn Sie das auch ungerecht finden, spenden Sie bitte hier und jetzt: 

ballett journal