So wünscht man sich Nachwuchschoreografen: gebildet und kreativ, wortgewandt und vor allem glaubwürdig. Wer dachte, der einstige Top-Tänzer Marijn Rademaker kann das nicht, wird sich jetzt belehren lassen müssen. Denn tatsächlich überzeugen die Probenausschnitte, Moderationen und Gespräche, die im Verein mit Dokumentationen und Statements in der „Matinee zur ‚Verklärten Nacht‘“ beim Ballett Dortmund online zu sehen sind. Und wie: Charme und Gewitztheit feiern hier in dieser tristen Zeit ihre Auferstehung! Ganz souverän erklärt Rademaker – immer noch einer der schönsten Männer alive – sein Stück und seine Herangehensweise. Geleitet wird er dabei von Christian Baier, dem Chefdramaturgen vom Ballett Dortmund. Und Xin Peng Wang, Dortmunds Ballettdirektor, spricht selbst die Einleitung und den Willkommensgruß. Was will man online mehr? Eine knappe Stunde kann man sich nun noch auf www.theaterdo.de bis morgen um Mitternacht Appetit machen: auf die Premiere des Tanzfilms „Verklärte Nacht“, den Rademaker mit dem Ballett Dortmund hat entstehen lassen.
Alisa Uzunova, die die im Mittelpunkt stehende weibliche Partie tanzt, sagt da in einem Statement sogar Außerordentliches: Der Kreationsprozess sei für sie „wie eine Therapie“ gewesen, anstrengend emotional, aber auch eben „sehr heilsam“. Sie und ihr agil-eleganter Tanzpartner Lucio Kalbusch zeigen im Stück eine komplizierte, aber auch belastbare Beziehung.
Marijn Rademaker folgt dabei dem Gedicht von Richard Dehmel namens „Verklärte Nacht“, welches den damals noch jungen Komponisten Arnold Schönberg 1899 anregte, sein Sextett zu erschaffen. Erst später instrumentierte Schönberg das Stück auch für ein Kammerorchester.
Generalmusikdirektor Gabriel Feltz macht’s möglich und erfüllt Choreografenträume:
Rademaker entschied, dass er beide Versionen zur Grundlage für seine Choreografie haben wollte: das Sextett für den ersten Teil, in dem es knallhart und fast intim um die Gefühle der handelnden Personen geht, das Orchester für den zweiten Teil, in dem die ganze Sache aus etwas Distanz betrachtet erscheint.
Es geht darin um eine Frau, die schwanger ist, aber nicht von dem Mann, mit dem sie einen nächtlichen Spaziergang unternimmt und den sie liebt. Sie gesteht ihm in dieser Nacht ihren Zustand und dessen Grund – und der von ihre Geliebte muss sich entscheiden, ob er zu ihr und dem Kind hält oder sich entsetzt von ihr abwendet.
Tatsächlich handelt es sich um ein Plädoyer für eine moderne, verantwortungsvolle Liebe. Und so nimmt der junge Mann es auf sich, Frau und Kind trotz allem so zu akzeptieren, wie es ist. Wunderschön. Und für ein Werk, das gerade noch im vorletzten Jahrhundert entstand, absolut fortschrittlich. Man könnte mutmaßen, Dehmel und Schönberg und jetzt auch Marijn Rademaker plädieren für neue Beziehungsstrukturen, für ein Aufbrechen der alten Konventionen und dennoch vor allem auch für die Liebe, die reife Liebe, die wahre Liebe, jene Liebe, die sich nicht in hitzigen sexuellen Ekstasen erschöpft, sondern die tatkräftig Verantwortung zeigt.
Da vergisst man rasch, dass die Sache nicht ganz neu ist. Denn schon Antony Tudor hat in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts beim American Ballet Theater eine „Vertanzung“ von Dehmel und Schönberg geleistet. Auch Jiri Kylián hat sich – wenn auch in abstrahierender Weise – mit dem Werk verbandelt, in einer Uraufführung bei John Neumeier in Hamburg.
Neumeier wird auch zitiert, wenn es um Marijn Rademakers Tänzerpersönlichkeit geht, ebenso wie Hans van Manen, der den Landsmann natürlich sehr gut kennt, und wie Ernst Meisner, der bei Het Nationale Ballet für Marijn schon kreierte.
Überhaupt ist schwer zu sagen, was an dieser knappen Stunde Film-Matinee mehr berückt: Die Probenausschnitte, in denen Aliza mit delikat-modernen Bewegungen die Schwangere im Dilemma tanzt, die dann im Pas de deux mit Lucio Kalbusch liebevolle Verkeilung findet, oder der Doku-Clip, der Highlights aus Marijns Tänzerleben zu einem optischen Rauscherlebnis zusammenmontiert.
In jedem Fall wird man sehr, sehr, sehr neugierig – und wird die Online-Premiere nicht verpassen wollen: am kommenden Samstag, 17. April 21, ab 19.30 Uhr (der Tanzfilm „Verklärte Nacht“ wird dann bis Sonntag, 18. April 21, Mitternacht online stehen).
Bis spätestens dann, Dortmund!
Gisela Sonnenburg
P.S. Die Regie von Mathieu Gremillet, dem Ex-Ehemann der niederländischen Ballerina Igone de Jongh, hat dann – gemeinsam mit einer außerordentlich schlechten Kameraführung, irrwitzigen Kostümen und einem nicht vorhandenen Lichtdesign – alles kaputt gemacht. Ein Tanzfilm, lieber Herr Gremillet, muss den Tanz, also die Choreografie präsentieren. Bei Ihnen sind Füße, Beine, Hände, Arme und manchmal auch Köpfe aber meistens gnadenlos aus dem Bild geschnitten. Man kann dadurch nicht sehen, wie sich die einzelnen Bewegungen entwickeln, doch genau das ist beim Tanz wichtig. Sie schaffen mit Ihrer Art, die Kamera einfach irgendwie draufhalten zu lassen, dass der geprobte Tanz aussieht wie motivationslose Zappelei. Zudem haben Sie offenbar keine Ahnung, was ein koordinierter Perspektivwechsel ist. Was Sie hingegen gut können, ist dekorativen Nonsense produzieren. Gehen Sie damit in die Werbung und verkaufen Sie Margarine oder sonstwas. Für Kunst – und gerade für Tanz – braucht man schon etwas mehr Talent.
Wer ebenfalls Tanzfilme machen möchte, sollte sich erstmal ein paar Aufnahmen von Andreas Morell oder Myriam Hoyer ansehen. Das sind die Maßstäbe, so geht das – und so, wie es hier in Dortmund sogar in Verbindung mit der Akademie für Theater und Digitalität vorgeführt wurde, geht es ganz sicher nicht. Buh!
Ein zweites Buh gilt den grottendummen Kostümen von Thomas Lempertz. Er ist der private Partner von Weltstar Friedemann Vogel aus Stuttgart und bekommt darum überall eine Chance. In Stuttgart versucht er sich gerade als bildender Künstler – ohne großen Erfolg. Als Kostümdesigner hier im Ballett hat er schlanken Tänzerin einen optisch dick und plump wirkenden Hintern verpasst und zudem das ganze Geschehen durch die olivbraun-grauen Farbe der Kostüme in ein modernes Survival-Camp verlegt. Das passt nicht so ganz zum Inhalt des Stücks…
Also: Alle an dieser Online-Premiere verantwortlich Beteiligten bis auf den Choreografen und die Tänzer*in gehen bitte sofort nach Hause und schämen sich! Schämen, schämen, schämen! – Gisela Sonnenburg