Und wieder geht Einer zu früh Liam Scarlett, einer der erfolgreichsten britischen Choreografen, starb mit 35 Jahren. Das Bayerische Staatsballett zeigt heute abend online ein Stück von ihm

Liam Scarlett, hier 2018 beim Erklären seines Balletts „Firebird“, war ein leidenschaftlicher Choreograf. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg

Hat er die Ächtung nicht mehr ertragen? Liam Scarlett, 35, ist tot. Nach seinem kometenhaften Aufstieg zu einem der wichtigsten lebenden und einem der erfolgreichsten britischen Choreografen stürzte er 2019 über Nacktfotos von Londonder Tanzstudenten. Die soll er eingefordert haben, als Bedingung dafür, die teils Minderjährigen mit einer Rolle zu bedenken. Als die Sache aufflog, verlor Scarlett sein Ansehen und seine Aufträge, weltweit wurden Ballette von ihm abgesagt. Zuletzt geschah das einen Tag vor seinem Tod, und zwar durch das Royal Danish Ballet in Kopenhagen, das ursprünglich 2022 Scarletts Welterfolg „Frankenstein“ von 2014 hatte zeigen wollen. Vielleicht war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Acht Tage nach seinem letzten Geburtstag verstarb der junge Genius am 16. April 21, man munkelt von Suizid. Seine Familie, die in den schweren letzten Jahren zu ihm hielt, gab „mit großer Trauer“ den „tragischen, verfrühten“ Tod des „geliebten Liam“ bekannt, sie schweigt aber bislang zu den Todesursachen. Man darf ihrer mehrere vermuten: Klassischerweise ist der so genannte Freitod der traurige Endpunkt einer längeren destruktiven psychischen Entwicklung, einer Depression. An Scarletts Verhalten deutete schon Einiges in diese Richtung: Merkwürdig war die Passivität, mit der er seine moralische  Hinrichtung hinnahm.

Es war wohl ein Fehler, dass Liam Scarlett den öffentlichen Beschuldigungen – ob sie nun berechtigt waren oder nicht – nicht von Beginn an auch öffentlich vehement entgegentrat noch sie kommentierte. Er hätte in Interviews und Statements seine Sicht auf die Dinge verbreiten müssen, sich erklären sollen, gegebenenfalls öffentlich seine Lebensführung ändern sollen. Vielleicht hätte er bereuen müssen und sich einer Therapie unterziehen sollen. Aber er hätte handeln müssen.

Sich einfach abkanzeln und ad acta legen lassen, das ist nicht gut. Das tut nicht gut. Damit ließ Liam Scarlett es zu, dass der Makel triumphierte und die Bedeutung seiner Werke mehr und mehr ins Hintertreffen geriet.

Er gab uns keine Chance, ihn zu verstehen.

"Paradigma" ist ein gemischter moderner Ballettabend in München

Kopfüber, aber kontrolliert: Laurretta Summerscales mit Jinhao Zhang in „With a Chance of Rain“ in „Paradigma“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Die innere Isolation, in die er so hineinschlidderte, verschärfte seinen sozialen Abstieg. Ob er nun reich war oder nicht – die Ächtung, mit der die Welt (und gerade die für ihn so wichtige Ballettwelt) ihn strafte, entzog ihm den Boden, auf dem er gelebt hat.

Ausgerechnet Igor Zelenksy, Ballettdirektor vom Bayerischen Staatsballett, versuchte wohl noch, ihn aufzufangen. Er ließ 2020 mit „Paradigma“ für einen Abend proben, der auch ein Stück von Liam Scarlett enthielt: „With a Chance of Rain“. Und wie es das Schicksal so will: Laurretta Summerscales und Jinhao Zhang tanzen mit großem Einsatz und eleganten Linien just heute abend dieses Stück in der Online-Wiederholung von „Paradigma“.

Es ist wie ein heimliches Requiem auf den erst Gestrauchelten, dann in den Tod Versunkenen.

Liam Scarlett wurde am 8. April 1986 in Ipswich in England geboren und begann bereits mit vier Jahren mit dem Ballett. Mit acht Jahren nahm ihn die renommierte Royal Ballet School in London auf.

Eine große Karriere als Tänzer zu machen, ersparte sich Scarlett. Seine Berufung stand früh fest: die Choreografie, für die er begabt war wie kaum jemand sonst.

Schon mit knapp 22 Jahren schuf er ein Stück („Asphodel Meadows“) für die Bühne des Covent Garden, das zwei Jahre später, 2010, von Englands bester Truppe, dem Royal Ballet uraufgeführt wurde. Monica Mason, damals Direktorin vom Royal Ballet, erkannte das Talent und förderte Liam.

Er war der bisher jüngste Choreograf eines abendfüllenden Balletts aller Zeiten beim Royal Ballet – und er machte von London aus eine Weltkarriere.

Das amerikanische Miami City Ballet, das australische Queensland Ballet, das norwegische Norwegian National Ballet, das polnische Polish National Ballet und viele mehr (darunter das American Ballet Theatre in New York) wollten Liam Scarlett und bekamen Liam Scarlett.

Ob er eine dunkle – eine pädophile oder Macht für Sex missbrauchende – Seite an seinem Charakter hatte, wurde meines Erachtens nach nie wirklich geklärt. Dazu hätte er sich eben selbst auch äußern müssen, statt sich einfach nur zurückzuziehen.

Kevin O’Hare, der Chef vom Royal Ballet, der zunächst versuchte, den Skandal um die Nacktfotos intern zu klären, und der Liam Scarlett dann aufgrund des öffentlichen Drucks feuern musste, hat seine Sache nicht sehr gut gemacht. Er hätte Scarlett ermutigen müssen, selbst dazu Stellung zu beziehen, es hätte eine gemeinsame Pressekonferenz oder wenigstens gemeinsame Statements geben müssen.

Stattdessen versuchte O‘Hare in Altherrenmanier, möglichst viel von der Sache zu deckeln, also zu verschweigen. Damit wuchs der unausgesprochene Makel auf Liam Scarletts Weste.

Liam Scarlett auf der Probe zu seiner „Schwanensee“-Version mit dem Royal Ballet in London. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg

Etwa 35 Ballette sind von Liam Scarlett bekannt, seit 2005. Eine heißblütige „Carmen“ ist dabei, ein zartes Stück „Of Mozart“, ein klassisch-witziger „Sommernachtstraum“.

Sowie eine viel beachtete Rekonstruktion vom „Schwanensee“, in der Odette stirbt, Siegfried aber überlebt.

Und Scarlett hat mit „The Age of Anxiety“ nach dem dramatischen Gedicht von W. H. Auden ein ganz wichtiges Thema unserer Zeit aufgegriffen, nämlich die Einsamkeit in den Städten.

Sein choreografischer Stil ist stets markant geschliffen, einfallsreich, expressiv, akrobatisch versiert, aber immer klassisch fundiert.

Als ich zunächst Probenvideos von Liam Scarlett sah, freute ich mich über soviel Talent. Die fertigen Stücke allerdings – auch das darf man in einem trauernden Nachruf schreiben – fand ich oft kalt und manchmal sogar frauenfeindlich. Bei aller Brillanz und Virtuosität, die er den Tänzer*innen auf der Bühne verschaffte, fehlt der Funke, der überspringen und einen rühren kann. Das Handwerk ist da, auch das Konzept – aber nicht die Seele.

Wie Liam Scarlett aber über seine Arbeit sprach, war einmalig. Er konnte für seine Sache begeistern, sie glaubhaft vertreten, klarmachen, warum er gerade dieses oder jenes Thema tänzerisch bearbeitete.

So sprach er über den „Firebird“ („Der Feuervogel“), den er 2018 für das Queensland Ballet kreierte. Ein Trailer auf YouTube bezeugt die großen, subjektiv interpretierten Kenntnisse des jungen Mannes in Bezug auf die Ballettgeschichte und das inszenatorische Spiel mit ihr.

Aber auch Queensland ließ ihn wegen der Nacktfotos fallen und sagte eine Premiere mit Liam Scarlett ab, wie die meisten, die mit ihm zu tun hatten.

Liam Scarlett wurde zu früh abberufen – man muss sich fragen, was in seinem Fall wirklich schief lief. Videostill von YouTube / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Er hätte durchhalten müssen, sich anstrengen müssen, um nach einigen Jahren eine Chance auf ein Revival zu erhalten. Diese Kraft hatte er wohl nicht.

Die Weltgemeinschaft muss sich nun fragen, ob so eine stringente Art und Weise der kollektiven Ächtung beim geringsten Verdacht auf moralisches Versagen eines Menschen zu rechtfertigen ist.
Gisela Sonnenburg

www.staatsoper.tv : 18.04.21, 19.30 Uhr: „Paradigma“

Rezension: http://ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-paradigma-maliphant-eyal-scarlett-online/

Dieser Beitrag darf von Spenden unterstützt werden:

Auch Journalismus ist harte Arbeit. Unterstützen Sie bitte das Ballett-Journal! Spenden Sie! Oder inserieren Sie! Im Impressum finden Sie die Kontakt- und Mediadaten. Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett und bestimmten Werten wie das Ballett-Journal! Sagen Sie dazu nicht Nein. Honorieren Sie das! Und freuen Sie sich über mehr als 750 Beiträge, die Sie hier im Ballett-Journal finden. Sie entstanden ohne Festgehalt und ohne reguläre Förderung. Darum danken wir für eine Spende!

ballett journal