Der grandiose Erneuerer John Neumeier als Neuerfinder des abendfüllenden Handlungsballetts: vom „Nussknacker“ bis zum „Weihnachtsoratorium I–VI“

Ein Übervater des Balletts

John Neumeier, hier mit seinem Ensemble auf der Bühne, kann als Übervater des aktuellen Balletts gelten. Foto: Holger Badekow

Das Ballettland Deutschland ist besser als sein Ruf. Auch wenn in manchen Bundesländern die Theater (inklusive Ballettensembles) gerade lebensbedrohlich runtergespart werden: Bei den großen deutschen Compagnien, den „top six“, und auch bei anderen laufen die weltweit wichtigsten Stücke – und die bedeutendsten Choreografen arbeiten hier. Die hiesigen Uraufführungen sind bedeutsam; Tänzerinnen und Tänzer haben oft Weltklasseniveau und können sich international mit allen messen. Vom allseits bekannten, beliebten Kassenschlager „Der Nussknacker“ bis zum eher kryptisch-besonderen „Weihnachtsoratorium“.

Daran ist John Neumeier nicht ganz unschuldig. Der Deutschamerikaner, der seit 1973 mit seinem Hamburg Ballett ein Beispiel davon gibt, wie seriös und dennoch erheiternd die Ballettkunst sein kann, ist auch in ballettpolitischer Hinsicht ein Tycoon – nicht nur als Choreograf. Man spricht – in Anlehnung an John Crankos „Stuttgarter Ballettwunder“ in den 60ern – vom „Hamburger Ballettwunder“, das John Neumeier zu verdanken ist. Und das ist eigentlich untertrieben. „Deutsches Ballettwunder“ wäre richtiger. Denn nicht nur, was das allgemeine öffentliche Interesse, sondern auch, was die internationalen Fachmeinungen angeht, gelang und gelingt Neumeier eine sensationelle Bündelung aller Kräfte zu Gunsten seiner Kunst.

Ein Zeichen dessen: Im September 1996 wurde er, wie Reid Anderson zur selben Zeit, Ballettintendant statt nur Ballettdirektor. So etwas gab es zuvor in Deutschland nicht. Denn das heißt, dass der Ballettchef keinem Opernintendanten mehr unterstellt ist, sondern seinen Vertrag direkt mit dem Land macht, statt mit der Oper. Natürlich ist das ein großer Zugewinn des Balletts an Eigenständigkeit und auch politischer Potenz. Neumeier mischt aber ohnehin in jeder relevanten Diskussion über Ballett mit, ob es um die so genannte Transition geht (die Zeit, wenn Tänzer alters- oder gesundheitsbedingt den Beruf wechseln müssen) oder um das Bild des Profi-Tanzes in Hollywood. So sprach er sich öffentlich deutlich gegen die Sensationsmache des Kinofilms „Black Swan“ aus – und löste damit eine Debatte aus.

Auch bei Finanzierungsmöglichkeiten für Ballett hat John Neumeier Grenzen verschoben: ob pauschale Subvention oder projektbezogene Förderung, bei Neumeiers Projekten – dem Hamburg Ballett, der Ballettschule des Hamburg Balletts John Neumeier und beim Bundesjugendballetts – gehen Gelder vom Staat, vom Land und von privat oftmals zusammen. Für seine Stiftung kassiert der Ballettdoyen sogar ohne öffentliche Kontrolle, denn die Stiftung John Neumeier ist nicht gemeinnützig. Dafür ist Neumeier (absolut ungewöhnlich für einen Choreografen) auch einer der drei Geschäftsführer der Hamburgischen Staatsoper. Der Künstler als Manager und Arbeitgeber – ganz entgegen den Klischees vom versponnenen Egomanen.

DER MEISTER TUT WAS FÜR SEIN GELD

Und der Meister und seine Untergebenen tun was für ihr Geld: Keine andere Compagnie in Deutschland hat so viele Auftritte und Gastspiele, keine andere hat Jahr für Jahr so viele verschiedene Abendprogramme auf dem Spielplan. Meist sind es insgesamt mehr als ein Dutzend. Und das bei nur knapp 60 Tänzern! Das Geheimnis liegt in der Relation: Mit mehr Tänzern bräuchte das Hamburg Ballett mehr Ballettmeister, mehr Probenräume – und mehr Zeit, um seinen stets straff gefüllten Aufgabenplan zu erfüllen. Kleiner ist feiner und vor allem dichter, kompakter. Die Wege sind nicht so lang, von Probe zu Probe. Es wird zwar von so gut wie allen häufig bis an die Leistungsgrenzen gegangen beim Hamburg Ballett, aber sein Chef beherzigt auch seine Devise: „Man hat eine Verantwortung seiner Compagnie gegenüber.“ Das beinhaltet eine für Ballettverhältnisse geradezu soziale gelegentliche Nachsicht. Wegen langwieriger Erkrankung ist etwa noch keinem Solisten gekündigt worden.

Fazit: Das Hamburg Ballett ist die absolute Power-Compagnie Deutschlands. Die Synergieeffekte, die von ihr ausgehen, wirken seit Jahren und Jahrzehnten im In- und Ausland: der angefeuerte Wettbewerb, die engmaschigen Kontakte zum Publikum und zu Förderern, die verstärkten Möglichkeiten von Förderungen sowie die gestiegene und immer noch steigende Akzeptanz von Ballett in Deutschland. Sie alle sind zweifelsohne Neumeier’sche Verdienste: Er vollendete mit Konsequenz das Wollen seines „Ziehvaters“ John Crankos, was die Etablierung von Ballett in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angeht.

Leicht ist es dennoch nicht immer, gegen die hier zu Lande existierenden Vorurteile gegen Ballett anzugehen. Das Motto, man müsse alle Tänzer vergasen, weil sie alle ja schwul seien, schwebt noch immer in vielen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Köpfen herum, auch ohne, dass irgendein Hitler es wörtlich annonciert hätte. Es ist indes kein Zufall, dass etwa Gret Palucca für die Nazis tanzte: Ausdruckstanz, womöglich gymnastikähnlichen, erlaubte die selbsternannte „Herrenrasse“, die indes ausgesprochen ballettfeindlich war. Und spätestens wenn der eigene Sohn zum Ballett möchte statt nur zum Fußball, steht der Hitler in den Elternköpfen auf und brüllt sein „nein“. Daran hat auch die DDR mit ihrer ballettfreundlichen Haltung langfristig nicht genügend ändern können: Mit Mauerfall schwand – wenn auch langsam – auch die hohe Akzeptanz von Ballett in Ostdeutschland.

Alexandr Trusch, hier mit Alina Cojocaru, tanzt den Günther in John Neumeiers "Der Nussknacker" - mit Eleganz, bubenhafter Frische und männlicher Schönheit. Foto: Holger Badekow

Alexandr Trusch, hier mit Alina Cojocaru, tanzt den Günther in John Neumeiers „Der Nussknacker“ – mit bubenhafter Frische und männlicher Schönheit. Foto: Holger Badekow

John Neumeier vermag es indes, sogar die Massen zu begeistern. Er muss irgendein Rezept haben, das man nicht erkennen kann. Wenn Neumeier – etwa in einer seiner Ballett-Werkstätten – über Ballett spricht, so ist es, als rede er über das Leben an sich. Über das Leben, wie es dich und mich und jeden betreffen kann. Dennoch oder gerade deshalb teilt er Bildung mit, Tanzgeschichtliches ebenso wie Politsoziales. Aber eben auch Persönliches. Er ist mit Abstand der populärste Ballettboss unserer Zeit. Nur der auch von ihm vereherte, 1993 verstorbene Rudolf Nurejew – einerseits ein großartiger Künstler, andererseits durch seinen Seitenwechsel im Kalten Krieg eine begehrte Trophäe des Westens – erzielte zu Lebzeiten dank der Massenmedien einen noch höheren Bekanntheitsgrad.

Zahllose Preise, Auszeichnungen und Ehrungen künden von Neumeiers Ruhm. Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Künstler oder Wissenschaftler, dem derart viel internationales Lametta angeheftet wurde wie John Neumeier. Es sind mindestens 200 verschiedene (die Zahl ist mit Anhaltspunkten geschätzt). Nun sollte man niemals eine kreative Persönlichkeit nach ihrer gesellschaftlichen Anerkennung bewerten oder gar glauben, Menschen ohne Orden seien weniger wert. Allzu oft dienern sich ja doch die Falschen oder die nur Mittelmäßigen hoch. Aber im Fall Neumeier kann man sagen, dass die zugesprochenen Anerkennungen nicht nur mit seinem Machtstreben, sondern auch mit seinem Können Hand in Hand gehen.

Eine Ehrenprofessur und die Ehrenbürgerschaft Hamburgs sind da nur einzelne Puzzlesteinchen im Gesamtbild der Ehrerbietungen, die von typischen Tanzpreisen wie dem „Prix Nijinsky“ über die Ritterschaft der französischen „Ehrenlegion“ bis zum dänischen „Ritterkreuz des Dannebrog-Ordens in Gold“ reichen. Dennoch mutet all das wie Makulatur und fast hilflose Danksagungen an, besieht man sich mal genauer die Reichweite der Neumeier’schen Wirkungskraft. Sie gelangt nämlich bis in Details der wichtigen Trends und bis in die kleinen Fasern von Fördermodellen für Ballett hinein – und außerdem bis ins Innerste der Zuschauerherzen.

Das rührt nicht von ungefähr. „Meine intensivste Form zu leben, ist meine Arbeit“, bekannte John Neumeier im Interview mit mir. Aber hört sein Arbeiten jemals auf? Im Schlaf vielleicht? Sein Lebenspartner, der ebenfalls prominente Herzchirurg Hermann Reichenspurner, meint, Neumeier lebe wie ein „living artist“, wie ein Performer seiner selbst, dessen Villa in Winterhude nicht nur eine stattliche Sammlung von Zeugnissen der Balletthistorie enthält, sondern auch, museumsreif, einen puristischen, der Kunst verpflichteten Lebensstil illustriert. Hauspuschen aus Plüsch passen hier wahrscheinlich gar nicht. Ob Neumeier daheim Pantoffeln trägt? Vermutlich eher Freizeitslipper, die seinen Arbeitsschuhen – Tanzschuhen – zum Verwechseln ähnlich sehen.

BESONDERES KÜNSTLERISCHES VERDIENST

Eines seiner besonderen künstlerischen Verdienste ist die Erneuerung des traditionellen Balletts, insbesondere die Neuerfindung des abendfüllenden Handlungsballetts. Mit „Romeo und Julia“ schuf er im Februar 1971, damals als soeben angetretener Ballettdirektor in Frankfurt / Main, eine insgesamt zwar noch stark dem tradierten Libretto folgende Version zur Musik von Sergej Prokoviev. Aber bestimmte Änderungen und Einlagen – wie eine Schauspieltruppe im ersten Bild und ein Solo Julias im dritten Teil – kennzeichnen bereits die Neumeier’sche Art, dramaturgische Handlungen zu forcieren. Fortan avancierte er zum grandiosen Neuerfinder des Handlungsballetts.

Mit dem „Nussknacker“ veränderte er im Oktober 1971 – wohl ohne es damals zu wissen – die gesamte Rezeption des traditionellen Balletts. Es gab damals schon viele verschiedene Versionen des 1892 uraufgeführten Werks. Aber fast alle klebten am Thema „Weihnachten“ und am simplen Kampf des Guten gegen das Böse, in der kindlichen Fantasie verkörpert durch den Nussknacker und den Mäusekönig. Die Grundlage des Librettos, eine Erzählung des Romantikers E.T.A. Hoffmann, legt dieses ja auch nahe.

Hier macht Neumeiers Version radikale Einschnitte in die Tradition. Keine Mäuse, keine Zinnsoldaten. Kein Weihnachtsbaum, keine Augenklappe beim Onkel Drosselmeier. Kein Schlittschuh- und kein Schneeflockenballett. Vieles entfällt, das doch so typisch für den „Nussknacker“ scheint. Von John Cranko und aus dessen Version übernahm Neumeier die zeitlich-örtliche Verlegung des Geschehens: vom Weihnachtszimmer zum Kindergeburtstag. Zwar gibt es nach wie vor eine kindliche Heldin, ihren uniformierten Schwarm und auch einen gewissen Drosselmeier. Aber die Beziehungen zwischen den handelnden Personen sind geändert, ebenso wie die Vorzeichen, unter denen sie stattfinden. Und der Nussknacker ist nur eine Holzfigur, die niemals zu einer lebenden Person aus Fleisch und Blut wird.

Nussknacker-Show

Das Figural ist en detail durchdacht: Jede Person auf der Bühne ist eine Rolle. Foto: Holger Badekow

So ganz freiwillig war die Verbindung von Neumeier zum Nussknacker allerdings nicht. Die Entstehungsgeschichte von seinem „Nussknacker“ ist geprägt von einer theatralen Überfluss- und zugleich Mangelsituation. Neumeier bekam nämlich überraschend die Möglichkeit einer zeitnahen zusätzlichen Ballettpremiere. So etwas ist sehr selten im Betriebssystem Opernhaus. Die Sache hatte denn auch zwei Haken: Es sollten keine hohen Kosten für eine neue Ausstattung entstehen, und auch das Orchester durfte nur wenige Probenkosten verursachen. Dass die Wahl auf den „Nussknacker“ fiel, lag nur daran, dass hier erstens eine Ausstattung von einer früheren Version vorhanden war – und außerdem das Orchester die Musik von Peter I. Tschaikowski drauf hatte und quasi blind spielen konnte. An sich, so der Starchoreograf später, habe er den „Nussknacker“ mit seinen verquasten Fantasien von nächtlichen Spielzeugkämpfen gehasst.

Bei einer Besichtigung der Ausstattungskulissen musste Neumeier erkennen, dass sie ganz und gar nicht seinen Ansprüchen entgegen kamen. Ein Stück Pappmaché nach dem anderen wurde verworfen. Bis die Bühne fast leer war. Neumeier kam eine Idee. Hatte Juri Grigorowitsch seinen „Nussknacker“ am Bolschoi mit dem Ballett „Die Puppenfee“ gekreuzt und die Handlung des zweiten Akts ins Traumreich der Puppen verlegt, wollte Neumeier jetzt den zweiten Akt im Theater, auf der Bühne an sich, ansiedeln!

Ob das wohl gehen könnte? Er muss, mit zarten 32 Jahren damals, selbst Respekt vor der eigenen Courage gehabt haben. Handelt es sich beim „Nussknacker“ doch um das absolute Lieblingskind gleich mehrerer fürs Ballett wichtiger Gruppen: die Abonnenten, die Sonst-nie-ins-Ballett-Geher und auch die meisten Ballettomanen hängen am „Nussknacker“, oft noch entschiedener als am „Schwanensee“ oder an „Giselle“.

Und gerade das Weihnachtsflair, aber auch das „Land der Süßigkeiten“ als zweiter Akt – sind sie nicht typisch für dieses Stück mit seinen zackig-eingängigen Ohrwurmmelodien? Doch das Paradoxon fand statt: Publikum und Presse liebten auf Anhieb die Neumeier’sche „Nussknacker“-Interpretation, befanden und befinden sie für mitreißend, psychologisch einleuchtend und mindestens ebenbürtig im Vergleich zu anderen arrivierten Inszenierungen, etwa der durchaus vielschichtigen, dennoch viel traditionelleren von Rudolf Nurejev.

1974 erfuhr Neumeiers „Nussknacker“ eine Überarbeitung: Er wurde in Hamburg aufgeführt, im Bühnenbild und mit den Kostümen von Jürgen Rose. Die Bildwelten, die jetzt entstanden, sind von naiver, dennoch berauschender Schönheit. Im ersten Akt dominiert die Niedlichkeit der Heldin, die im Kinderkleid der Belle Époque mit blauer Schleife und dunklen Stiefelchen ausschaut wie ein Püppchen von Käthe Kruse. Im zweiten Akt wird zwischen dunkelroten Prachtvorhängen und unter schweren Kandelabern eine erlesen farbenfrohe Exotik platziert. Das Theaterland als Wunderland!

Marie im "Nussknacker"

Marie (hier: Hélène Bouchet) träumt und träumt und träumt – und lernt, zu ihren Träumen zu stehen. Foto: Holger Badekow

Es wird Zeit, den Neumeier-Nussknacker genauer vorzustellen. Fangen wir mit der Heldin an: Sie heißt hier nicht Klara, wie in den meisten Fassungen, sondern Marie. Das ist einem Rilke-Gedicht entlehnt, welches die Träume eines armen Mädchens beschreibt, das sich zur Königin und femme fatale hochträumt, tanzenderweise: „Die Leute schlichen so ängstlich hin, / wie hart an die Häuser gepflanzt, – / denn das darf doch nur eine Königin, / dass sie tanzt in den Gassen: tanzt!“ Rainer Maria Rilke hat hier, in „Sie muss immer sinnen: Ich bin… ich bin…“ den Nerv weiblicher Teenager getroffen.

Man muss bedenken, dass auch in unserer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft Frauen immer noch und praktisch seit ihrer Geburt mit ziemlich idiotischen Frauenbildklischees bombardiert werden. Die möglichst rasche Verheiratung steht an oberster Stelle dieser diktierten „Träume“, und die von der patriarchalen Gesellschaft erwünschte Ent-Emanzipierung gipfelt nicht selten in der verfrühten Familiengründung. Marie, die bei Rilke und Neumeier träumende Kindfrau, lehnt sich dagegen auf, indem sie vom Tanzen träumt, nicht vom Heiraten und Kinderkriegen. Es mag überraschen, dass diese beiden Welten (Tanz und Familie) sich hier dichotomisch gegenüber stehen, aber der eigene Wille, der sich bei den beiden Marien formuliert – im Ballett ebenso wie im Gedicht – ist durchaus untypisch für das öffentlich allgemein verbreitete Bild eines weiblichen Teens. Es sind starke Mädchen, die Marien!

Marie also träumt vom Tanzen, vom Theater, und sie hat eine ältere Schwester namens Louise, die tatsächlich Ballerina ist. Die Handlung ist 1893 angesiedelt, als der „Nussknacker“ im Hoftheater aufgeführt wird. Maries zwölfter Geburtstag wird gefeiert. Sie ist diesem unbequemen Alter, in dem Mädchen langsam, aber sicher erwachsen werden. Alles in diesem Alter hat besondere Bedeutung: Sie erhält als Geburtstagsgeschenk vom Ballettmeister Drosselmeier ein Paar Spitzenschuhe. Sie verliebt sich zum ersten Mal: in Günther, einen Freund ihres Bruders. Er schenkt ihr einen Nussknacker. Die Verwandtschaft macht Witze. Der Rest ist Tanz und Traum. Marie probiert die Spitzenschuhe, und im Traum entführt Drosselmeier sie ins Theater. Acht Ballerinen in schönen weiten Glockenröcken üben an einer Barre (Ballettstange) – und sehen als Schattensilhouette aus wie ein Wunschbild von Ballett. Louise kommt herein, legt mit einer eleganten Geste ihre Stola ab und übt mit Drosselmeier verschiedene Posen an der Barre. Marie sieht zu.

Blick ins Buch

Ein Blick in das soeben erschienene Buch über den Bühnenausstatter „Jürgen Rose“ von Sibylle Zehle beweist: Die „Nussknacker“-Ballerinen sind traumhaft schön. Foto: aus dem hier im Ballett-Journal unter „Bücher“ auch besprochenen Buch / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die Traumwelt steigert sich: Marie erlebt verschiedene Tanzdarbietungen auf der Bühne, die so ähnlich traditionell in den „Nussknacker“ gehören. Manchmal tanzt Drosselmeier mit, manchmal ihr Schwarm Günther. Er tanzt dann mit Louise den Grand Pas de deux, der sich in fast allen Nussknacker-Versionen findet. Und auch ein Finale gibt es. Aber dann wacht Marie zuhause auf – immerhin jetzt wissend, was ihr wirklich gefällt.

Herausragend sind verschiedene Pas de deux: Marie tanzt auf ihrer Feier mit Günther, ein lustiges Tänzchen ist das, weil sie noch nicht gut im Tanzen ist. Mutige Besetzungen beweisen hier Mut zur Hässlichkeit und lassen sich bei einer Hebung wie ein nasser Sack in Schnürstiefelchen hoch über Günthers Kopf runterhängen – ein Tüpfelchen auf dem „i“ der Komik hier.

Später, im Probenraum im Theater, tanzen Louise und Drosselmeier sowie Marie mit Günther. Für Marie ein Erweckungserlebnis: Sie trägt ihre neuen Spitzenschuhe, genießt erstmals das Gefühl zu fliegen und von einem Mann auf Händen getragen zu werden. Wenn sie dann während einer halbhohen Hebung mit dem rechten Bein Développés und Enveloppés vollführt und Günther sie so über die Bühne manövriert, hat sie wohl schon das Gefühl, eine reife Frau zu sein – für die Minuten des Pas de deux darf sie sich so fühlen.

Neumeiers Drosselmeier-Ballett

Drosselmeier inszeniert die Bühne auf der Bühne – und sie ist voller Tanz! Foto: Holger Badekow

Ein weiterer Höhepunkt ist das Entrée von Marie zu Beginn des zweiten Akts: Sie kraxelt aus dem Orchestergraben auf die Bühne, wo der noch geschlossene Vorhang die Wunder der Theaterwelt verbirgt. Aber nicht mehr lange: Drosselmeier zeigt Marie die herrlichen Künstler, die tanzend und posierend das Dasein zelebrieren.

Die verschiedenen Einlagen, oft mit folkloristischem Charakter, bringen zum Schmunzeln, zum Staunen und Bewundern. Drosselmeier selbst darf mit einer Serie ungewöhnlicher Pirouetten brillieren und auch das China-Girl zu Herrenspagatsprüngen animieren. Weitere Divertissements bieten ein Highlight nach dem anderen (in denen Solisten und Ensemblemitglieder die Gelegenheit haben zu glänzen). Bis der Grand Pas de deux den Zauber des klassischen Tanzes à la Marius Petipa lupenrein kredenzt.

Louise und ihr Verlobter Günther tragen Kostüme in Creme und Bordeaux, sie wirken edel und festlich gekleidet. Das steife Tellertutu ist natürlich Pflicht für sie, es ist typisch für die Petipa-Ära! Sprünge und Drehungen, im Kreis und diagonal, sowie Hebungen und Referenzen bilden ein Feuerwerk der körperlichen Klassik.

Anna Laudere

Anna Laudere ist als Louise ein besonderes Highlight. Kühl und elegant, aber auch von melancholischer Erhabenheit. Foto: Holger Badekow

Und obwohl der „Nussknacker“ schon dank seiner mitreißenden, optimistischen Musik stets ein ganz bestimmtes Flair vermittelt, hat man speziell in John Neumeiers Version stets das Gefühl, der Urversion von Petipa ganz nahe zu sein. Obwohl oder gerade weil hier keine Rekonstruktion oder Historizität nachgeahmt wird, sondern alles frisch und erkennbar aus einer schöpferischen Hand entstanden ist.

Nun ist vom „Nussknacker“ im Gegensatz zu den Tschaikowski-Balletten „Schwanensee“ und „Dornröschen“ keine weitreichende Originalchoreo erhalten. Aber der Geist des Balletts spiegelt sich doch in der Partitur und im Libretto unmissverständlich wieder. Bei Neumeier geht es nicht nur ums Wachsen im Sinne von Erwachsenwerden, sondern auch ums Wachsen im Sinne von sich entscheiden lernen. Marie, die hier im Traum das Tanzen erlernt, ist, wenn sie aufwacht, um Einiges gereift – und ihre Liebe zum Theater und zum Ballett wird künftig Teil ihrer Persönlichkeit sein.

EINE CHANCE FÜR EIN JUNGES TALENT

Besonders spannend werden die beiden ersten Januar-Vorstellungen, wenn das Jungtalent Emilie Mazon die Marie tanzt. Erstmals ganz! Bei einer Ballett-Werkstatt in der vergangenen Spielzeit gab sie, die immer noch Ensembletänzerin ist, bereits eine Kostprobe dieser Partie – und schien damals noch zu jung. Mittlerweile hat sie viel gelernt, technisch wie darstellerisch, sowie auch reichlich Auftrittserfahrung gesammelt. Also nichts wie hin!

Im Gesamtbild des bisherigen Neumeier’schen Werks nimmt „Der Nussknacker“ eine besondere Position ein: Er ist, was die großen Eingriffe ins überlieferte Libretto angeht, das erste von geschätzten zwei Dutzend abendfüllenden Handlungsballetten, mit denen John Neumeier sich als wahrer Magier seiner Zunft erwies. „Nijinsky“ gehört dazu, aber auch „Illusionen – wie Schwanensee“ sowie eine mit der Gegenwart spielende Version von „Dornröschen“. Einige Leitmotive durchziehen dabei sein Werk, und wiederum einige davon finden sich bereits im „Nussknacker“. So das wichtige Moment des Traums. Der Kunstgriff, ein „Paralleluniversum“ zu zeigen, indem man es als Traum einer Person inszeniert, wird in vielen Balletten bis hin zu „Tatjana“, Neumeiers Uraufführung von 2014, ganz wichtig und Neumeier-typisch sein.

Auch die Veränderung des Personals hin zu einem mehr schillernden, zwar theaterwirksamen, aber auch psychologisch überzeugenden Figural, ist typisch für Neumeiers Umgang mit Libretti. So ist Drosselmeier hier kein irgendwie dubioser Onkel, sondern er hat ein präzises Charakterprofil: Er ist ein begabter Ballettmeister, der außerhalb seiner Arbeit etwas spinnert wirkt. Egozentrisch, seltsam, abwesend. Aber sowie es ums Tanzen geht, ist er wieder ganz bei sich – und ein bereichernder Mitmensch. Max Midinet tanzte ihn bei der Uraufführung und dann auch in Hamburg – zusammen mit Marianne Kruuse als Marie ein unvergessenes Gespann.

Ballerina Laudere

Der Ballettmeister und seine Ballerina: Drosselmeier und Louise in Neumeiers „Nussknacker“. Foto: Holger Badekow

Auch das Liebespaar Günther und Louise ist Neumeier komödiantisch gut gelungen. Beide sind bemühte Menschen, die sich in ihrer Familie und in ihrem Beruf engagieren. Anna Laudere mit ihrer kühlen Eleganz und melancholischen Erhabenheit ist bei den aktuellen Besetzungen ein besonders Highlight als Louise (was nicht heißt, dass die beiden anderen nicht gut wären).

Außerdem sind sämtliche anderen Figuren auf der Bühne – auch das ist Neumeier-typisch – bis ins Detail durchdacht und psychologisch plausibel. Statisterie im Sinne von „man weiß nicht, was sie auf der Bühne sollen“, gibt es nicht. Im „Nussknacker“ gibt es im ersten Akt Zwillinge, eine betrunkene Tante, eine kunstbeflissene Tante, Großeltern und andere Verwandte. Diese ganze Puppenstuben-Gesellschaft wirkt zugleich realistisch und trotzdem auch stilisiert – einer der typischen Effekte, die Neumeier-Ballette hervorrufen.

Im Zuge seiner „Nussknacker“-Arbeiten notierte Neumeier mit fast bedrückender Akribie: „Nur eines gelingt dem Zauber nicht: die Jugend zu erhalten, nicht die von Marie, nicht meine eigene und auch nicht die der Darsteller.“ Er hat sich viel mit Alter und Sterben, mit Leben und Tod beschäftigt. Auch schon als junger Mann. In einer der frühen Ballett-Werkstätten stellte er einmal fest: Religion würde entstehen, wenn Menschen sich mit dem Tod beschäftigen. Das Angesicht des Todes sei religionsstiftend. Neumeier selbst wurde im Laufe seines Lebens immer religiöser, er frönt einem pantheistisch und vor allem stark versöhnend ausgerichteten, nicht gerade klassischen Katholizismus. Entsprechend kreierte er seit 1981 (seit der Uraufführung seiner „Matthäus-Passion“) auch Ballette mit religiösen Themen, wobei er sich gegen die Bezeichnung „sakrales Ballett“ dezidiert zur Wehr setzt.

Anna Laudere als "Mutter"

Anna Laudere als „Mutter“ mit Partner im „Weihnachtsoratorium I-VI“: eine schwierige Frau, keine Klischee-Madonna. Foto: Holger Badekow

Durchdacht ist – wie im „Nussknacker“ – auch das Personal des Neumeier’schen „Weihnachtsoratoriums“. Dieses Werk entstand in zwei voneinander unabhängigen Phasen: Die erste Version, die die Kantaten I bis III umfasst, wurde im Dezember 2007 im Theater an der Wien (Wien) uraufgeführt. 2013 kamen dann die restlichen Stücke IV, V und VI dazu – das Ganze wurde überarbeitet und in Hamburg als Neuaufführung zur Weihnachtszeit 2013 premiert (Uraufführung).

Es ist kein Krippenspiel geworden. Und auch kein klassisches Handlungsballett über Jesus’ Geburt. Sondern es ist ein abstraktes Ballett mit Handlungsmomenten: Es geht um menschliche Bindungen und deren Entwicklung. Es ist eine Collage rund um Themen wie Nähe, Ankommen, Distanz, Geburt. Es ist aber keinesfalls eine Heiligengeschichte. Sondern ein frohgemut getanztes, körperlich-sinnliches Werk, eine Bündelung von Lebenslust und Inspiration, insgesamt hat es eine deutlich antidepressive Wirkung.

Ballett ist ja nichts Geringeres, als das Unmögliche zu wollen. Daß dieses dialektische Streben heiter und vergnüglich sein kann, zeigt das Hamburg Ballett mit dem „Weihnachtsoratorium I-VI“ einmal mehr. Es ist im übrigen exakt das 150. Ballett von John Neumeier, in seinem eigenen Werkverzeichnis: ein omen zur festlichsten Jahreszeit.

Halbabstrakt wie der Tanz ist auch die Szenerie: Im mit Mauern und Koffern ergänzten Bühnenraum von Ferdinand Wögerbauer entfalten sich drei Stunden lang Hoffnungen, Sehnsüchte, Freudentänze, aber auch Angstanfälle: grundlegend und existenzialistisch. Die hier trotz tänzerischer Sanftheit im Spiel extrem konfliktfreudige Anna Laudere als „Mutter“ knüpft in einem Netz aus ambivalenten Gefühlen trotz aller Probleme, die ihre Mutterschaft für sie mit sich bringt, so was wie eine ganz große, ganz starke Liebe. Mit schöner Selbstverständlichkeit.

drei Weise plus König

Lloyd Riggins, hier mit Weihnachtsbaum, ist die zentrale Gestalt – hinter ihm rücken „die drei Weisen“ an. Foto: Holger Badekow

Der tiefsinnige Lloyd Riggins als strahlender Solitär des Abends – aus dessen Perspektive alles erlebt wird – wandert mal zu ihr und ihrem Mann, mal von ihnen weg: Er ist der ewig Suchende.

Carsten Jung hingegen, der sonst oft die dunkle Seite des Mondes und der Liebe verkörpert, zeigt hier seine bodenständige Seite. Er kann wie ein Lotse den Weg weisen und wie ein Hirte Fremde vor Gefahren beschützen. Marc Jubete, Sasha Riva und Thomas Stuhrmann sind, in langen Rocktüchern und oben ohne, als „die drei Weisen“ sehr lasziv und und auf den Punkt genau, wenn sie sich in die Fantasie der Hauptperson Lloyd Riggins und gleichermaßen ins Bühnengeschehen einschleichen.

Engel

Silvia Azzoni und Alexandr Trusch als Engelspaar – himmlisch! Foto: Holger Badekow

Und dann ist da noch das köstliche Engelspaar, das die reife Silvia Azzoni und der blutjunge Alexandr Trusch abgeben: Vollweib und süßer Bube, in Charme vereint, wie einst Venus und Amor. Anmut trifft Anmut, hoher Mut trifft hohen Sinn. Es ist ein Hochgenuss, die beiden zusammen tanzen zu sehen!

Und wenn dann noch ein Obdachloser einen kleinen Weihnachtsbaum verehrt, wenn ein Mann mit einem Riesenbesen alle Reste einfach von der Bühne kehrt, wenn Lucia Ríos am Anfang und am Ende mit einem großen Sprung die Lebensfreude an sich ausdrückt – dann weiß man, dass das Lichterfest der Winterzeit nicht religiös sein muss, um an das Gute im Menschen zu appellieren.

Die akustische Kulisse von Johann Sebastian Bach, feinfühlig live gesungen und gespielt unter Alessandro De Marchi, wird ohnehin zum mitreißenden akustischen Feuerwerk. Und ballettmeisterlich ist das Stück überwiegend in ein weniger lyrisches, dafür betont kraftvolles Energiefeld gesetzt. Fast sportlich, dennoch graziös kommen manche Gesten und Bewegungen. Zudem sind sie mit choreografischen Zitaten aus Neumeier-Balletten wie „Josephs Legende“ und „Winterreise“ durchsetzt. Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten helfen darin einander; Erfahrungen von Nähe und Vertrautheit wechseln mit emigrationsähnlichem Fremdsein in der Welt.

Weihnachten mit Sprung

Lucia Ríos springt – am Anfang und am Ende von Neumeiers „Weihnachtsoratorium I-VI“. Foto: Holger Badekow

„Es geht mir um humane Werte“, sagte Neumeier 2013 in der die Uraufführung vorbereitenden „Ballett-Werkstatt“. Die Angst, eben diese Werte zu verlieren, sollte jeden, der kann, in diesen Abend treiben. Noch einmal John Neumeier im Dialog mit mir dazu: „Das Erlebnis von Ballett als körperlichem Gesamtkunstwerk ist sehr intensiv. Sofern man als Zuschauer bereit ist, sich darauf auch einzulassen.“
Gisela Sonnenburg

Termine in Hamburg: siehe „Spielplan“ 

Wie die junge Emilie Mazon die weibliche Hauptrolle im „Nussknacker“ tanzt: 

www.ballett-journal.de/erwachsenwerden/

Ein Portrait vom Ersten Solisten Alexandr Trusch:

www.ballett-journal.de/der-widerspenstige-wundertaenzer/

Die „argentinische Besetzung“ von Neumeiers „Nussknacker“ mit weiteren Hintergründen: 

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-der-nussknacker-argentinisch/

Ein Portrait der Ersten Solistin Silvia Azzoni:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-silvia-azzoni/

UND BITTE SEHEN SIE AUCH HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/

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