Der Nussknacker und die Metaphysik Eine Doppelvorstellung vom „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett bringt's ans Leibniz'sche Licht der Aufklärung: Geburtstage haben höheren Sinn

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Das ist Magie, auch im Licht der Aufklärung gesehen: Lucía Ríos, die als Hofballerina Louise mit exzellent fließenden, modernisiert schnörkeligen Ports de bras berückt, in den Armen von Ballettmeister Drosselmeier, ganz köstlich seriös-komisch getanzt von Marc Jubete. So zu sehen im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Für den Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war Bewegung eine wichtige Angelegenheit: als Gegenstand der eingehenden Betrachtung. Wenn man nun ein Stück des genialen Choreografen John Neumeier eingehend und mehrfach betrachtet, stellt man fest: Da gibt es trotz aller Analysen einen unerklärbaren Rest, den es auch im Weltbild von Leibniz gab, nennen wie ihn Magie. Oder: Seele, Beseelung! Beseelung nennt auch Leibniz ihn. Beseelung und Berührung haben ohnehin viel miteinander zu tun; kommt die Bewegung hinzu, ist eine harmonische Trias perfekt. Oder auch ein Ballett wie „Der Nussknacker„! Und: Bei Leibniz wie in der Tanzkunst ist die Bewegung subjektiv von großer Bedeutung, objektiv aber nicht immer in ihrer Qualität fasslich. Darum braucht eine hervorragende Choreografie auch hervorragende Tänzer! Da kann man sich beim Ensemble vom Hamburg Ballett ja partout nicht beschweren: Verschiedene Interpretationen illustrieren zudem, wie die Beseelung – die Leibniz seinen hypothetisch gesetzten Harmonie-Einheiten namens Monaden zuspricht – rollenpraktisch aussehen kann. Emilie Mazon, Lucia Ríos, Marc Jubete, Matias Oberlin und Aleix Martínez sowie Alina Cojocaru, Anna Laudere, Carsten Jung, Edvin Revazov und Marcelino Libao gaben davon am vergangenen Sonntag ein Lehrstück, als das Hamburg Ballett nachmittags und abends jeweils den „Nussknacker“ von John Neumeier tanzte.

Die größte Überraschung dabei: Lucia Ríos, die als Louise – von Beruf Hofballerina – eine Schulter-, Brust- und Armarbeit zeigt, die in dieser Rolle bisher einmalig ist und die so fließend-extravagant, so graziös-geschmeidig ist, dass man glauben könnte, Nacho Duato sei von solchen elfenhaft-verspielten Bewegungen für sein „Dornröschen“ inspiriert worden.

Eine hinreißende, exzellente Leistung!

Das Adagio im zweiten Teil, in dem ein Violinensolo (wunderschön gefühlvoll: Konradin Seitzer) das Training von Louise vor der Probe begleitet, gerät so zu einer berauschenden Meditation, die all die Magie und Poesie des klassisch-modernen Balletts in sich vereint. Das Ports de bras nebst Schulterarbeit als Neuerfindung des Balletts!

Überhaupt: Vor allem im zweiten und dritten Teil des Abends, sich insgesamt stetig steigernd, berückte Lucia Ríos mit diesen neckischen Zwischenelementen in ihrem Tanz, sie machte aus einer einfach schönen Armbewegung ein himmlisches Orchestrarium.

Es gab wohl niemanden im Publikum, der oder die sich davon nicht inspiriert fühlte!

Welcher Körper von welcher Bewegung nun erfasst wird, ist in Leibniz‘ Gedankenwelt dennoch eine relative Angelegenheit und wird je nach Standpunkt des Betrachters neu entschieden.

Sieht man Neumeiers „Der Nussknacker“ unter Berücksichtigung seines Librettos, so stellt sich zudem die Frage nach der Bedeutung von Geburtstagen. Eine Doppelvorstellung – die zwei verschiedene Besetzungen zeitnah präsentiert – ist gerade bei so kniffligen Aufgabestellungen empfehlenswert: Sie wertet dank der Unterschiede der Besetzungen die individuelle Interpretation auf, betont aber andererseits auch das, was alle Besetzungen gemeinsam haben, nämlich die „nackte“ Choreografie, also die für dieses Ballett grundlegenden Bewegungen an sich.

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Marc Jubete (mittig), Emilie Mazon, Patricia Friza, Lucia Ríos und das hervorragende Ensemble vom Hamburg Ballett feiern im „Nussknacker“ von John Neumeier den 12. Geburtstag von Marie: Sie entwickelt sich im Laufe des Stücks zu einer Persönlichkeit. Foto: Kiran West

Dass Geburtstage einen höheren Sinn haben, liegt indes daran, dass sie sich – ähnlich wie die Bewegung bei Leibniz – aufladen können: durch das, was man in ihnen sehen will. Hier ersetzt der letzte Geburtstag der Kindheit das Weihnachtsfest, und das zurecht: Es geht um die Neugeburt eines Menschen, um seine Entwicklung, seine Träume, seine Rechte als Individuum, auch um das, was er der Welt zu geben hat – und nicht nur um die Tatsache der Geburt als Allerweltsakt.

Der Nussknacker“ lässt sich so auch durch die Schablone der Einstein’schen Relativitätstheorie betrachten – als Vorläufer derselben kann Leibniz‚ „Monadenlehre“ nämlich gelten.

Die Monaden sind von Leibniz eigens erfundene – oder gefundene – Theoreme. Sie sollen sich in sich und miteinander harmonisch verhalten und gemeinsam das harmonische Ganze der Welt bilden.

Wenn man sich das als Ballettfan vor Augen führen will, denkt man automatisch an ein großes Corps de ballet mit verschiedenen Solisten, Paaren, Gruppen, die alle zusammen eine organisch wirkende Choreografie aufführen.

Warum aber geht es in Neumeiers „Nussknacker“ um einen Geburtstag? Er änderte damit das traditionelle Libretto vom biedermeierlichen Weihnachtsmärchen hin zum jugendstylischen Belle-Époque-Traum.

Die Essenz vom besonderen Geburtstag bleibt darin erhalten: Statt der Stallgeburt von Jesus Christus wird das Erwachsenwerden eines Mädchens gefeiert.

So hat die junge Marie ihren besonderen Ehrentag, es ist ihr zwölfter Geburtstag, und sie erfühlt darin selbst sowohl den Abschied von der Kindheit und dem Puppenspiel als auch das eigene Heranreifens zu einer auch erotischen Persönlichkeit, also zu einer Erwachsenen.

Emilie Mazon profiliert sich als Marie mit bewährt clownesker, gewitzt ausgestellter, kindhafter Anmutung. Ihre Marie ist ungestüm und in jeder Sekunde voll präsent: neugierig, verspielt, stürmisch.

In der Nachmittagsvorstellung brachte sie mit ihrem köstlich uneitlen, selbstironischen, auch mal drastischen Spiel die Kinder- und Erwachsenenherzen zum lächelnden Schmelzen, und Maries Träume vom Theater nimmt man da nur zu gern als die eigenen entgegen.

Alina Cojocaru am Abend zeigte dann, dass in Marie sichtlich ein werdendes Fräulein steckt: Ihr Geburtstagskind ist weniger deftig, dafür zart und soft; graziöse Attituden und ultrakomische Körpergrimasse wechseln bei Alina reichhaltig ab.

Die Metaphysik dieses Kindergeburtstags auf der Schwelle zur Erwachsenheit schwingt derweil bei beiden mit: bei Emilie Mazon als über ihrem Tanz gleichermaßen schwebendes Menetekel, bei Alina Cojocaru als Teil ihrer mimischen Aufbereitung der Rolle.

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Alina Cojocaru als Marie und Edvin Revazov als Günther: Ein Mädchen träumt von der romantischen Liebe  und wird ganz nebenbei erwachsen… so zu sehen in John Neumeiers „Nussknacker“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

1973 entstand während der Einstudierung des 1971 in Frankfurt am Main kreierten Stücks in München beim Bayerischen Staatsballett ein Pas de deux von Marie und dem Ballettmeister Drosselmeier. Er spiegelt die Erwartung, die Vorfreude, die Marie empfindet, bevor sich das Theater in eine Probebühne mit einer faszinierend poetischen Ballettprobe wandelt.

Kurz vorher – man befindet sich gleich nach der Pause wieder auf seinen Plätzen – kraxelten Drosselmeier und Marie eine Leiter empor, um aus dem Orchestergraben auf die Bühne zu gelangen. Als der dort kunstvoll auf einen Prospekt aufgemalte Vorhang (nach dem Vorbild des roten Vorhangs im Palais Garnier in Paris gestaltet) hochgeht, ist die Bühne noch leer, aber in traumblaues Licht getaucht.

Hier verfällt Marie in das Glück der Erwartung, in die Vorfreude, die ja einem Sprichwort nach die schönste Freude sein soll. Ihr nächtlicher Freund, Ballettmeister Drosselmeier, freut sich ebenfalls, hat er doch die Ehre, dem jungen unbedarften Mädchen die Fantastik der Ballettwelt zu zeigen.

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Matias Oberlin tanzt mit Emilie Mazon als Günther und Marie den Pas de deux des Erwachsenwerdens im „Nussknacker“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Innerhalb des Balletts korrespondiert dieser Pas de deux mit einem weiteren von Marie, der bald darauf stattfindet.

Die Choreografie Neumeiers zeigt dann, beim Pas de deux mit Maries Schwarm und künftigem Schwager Günther auf der Theaterprobe, in welche Richtung das Frollein Marie gehen wird: nicht mehr unbeholfen, sondern selbstbewusst, hingebungsvoll, lebenslustig, innig flirtend und freudvoll sich entwickelnd zeigt sie sich da. Sie wird, während sie sich mit der romantischen Liebe auseinander setzt, erwachsen! Kann man mehr vom Licht der Aufklärung, wenn es auf die Liebe fällt, erwarten?

Bei den tanzenden Jungs wird dann wiederum Leibniz notwendig, um ihre Kunst voll auszuloten. Für ihn ist die Bewegung nämlich nicht zu trennen vom Begriff der Kraft.

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Auch Wikipedia kennt den Philosophen Leibniz – als Vorläufer von Kant und Einstein ist er in unserer Kulturgeschichte nicht wegzudenken. Faksimile von Wikipedia: Gisela Sonnenburg

Damit befindet sich der frühe Aufklärer schon sehr weit vorn im Gedankenkalkül der Neuzeit bishin zur Moderne. Wenn wir heute von Energien sprechen, die sich im physikalischen Sinn stets nur wandeln, etwa von der Energie der Ruhe in die Energie der Bewegung, dann schuf Leibniz somit eine Grundfeste unserer naturwissenschaftlichen Weltauffassung.

Und es gibt kaum anschaulichere Verkörperungen dieser Kraft als Balletttänzer!

Gerade die Ballerinos, deren Können in Pirouetten und Sprüngen maßgeblich auffällt, indem sie zu schweben scheinen und doch mit nachgerade animalischer Kraft agieren, können als Sinnbild der schönen Kraft an sich stehen: gewaltfrei, aber die Schwerkraft überwindend; ästhetisch, dennoch männlich-sinnlich im Ausdruck.

In Dreier-, Vierer-, Fünfer- und Siebenergruppen frönen sie im „Nussknacker“ dem typischen Jungenstanz, so begeisternd wie faszinierend.

Mathias Oberlin und Edvin Revazov strotzen zudem beide als Günther nur so vor Eleganz und können sich auf ihre Partnerinnen voll Freundlichkeit einstellen.

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Lucia Ríos und Matias Oberlin (mittig) tanzten auch an Silvester 2018 als eines von vier Paaren im „Nussknacker“ beim Hamburg Ballett – jetzt absolvierten sie ihr stürmisch bejubeltes komplettes Debüt! Foto: Kiran West

Oberlin partnert die schon eingangs bewunderte Lucia Ríos. Der schlanke gebürtige Argentinier, der die Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier 2013 als Student beim Prix de Lausanne vertrat (und dort mit seinem schönen Tanz eine sehr gute Figur machte!), 2014 in die Compagnie aufgenommen wurde und seit 2018 Solist ist, tanzt erst seit dieser Saison im „Louisengünther„, wie ich das Pärchen Louise-Günther in Neumeiers „Nussknacker“ gern nenne. Und was soll man sagen? Oberlin und Lucia Ríos verströmen Sanftmut und Lebenslust, energiereiches Walzertemperament und doch auch liniensichere Freude am Höhepunkt einer jeden Bewegung. Superbe, auch wenn die schnell geworfene Hebefigur des „Fisch„s noch ein wenig Übung vertragen könnte.

In den Pas de deux aber zeigt sich nicht nur das herrliche Miteinander des Paares, sondern auch Kraft und Mut, Sicherheit und sogar Humor.

Diese Kardinaltugenden eines klassischen Danseur Noble teilt der aus der Ukraine stammende Edvin Revazov, der seit 2010 Erster Solist in Hamburg und bereits ein versierter Meister als Günther ist, als wären sie für ihn erfunden.

Edvins Louisengünther – mit seiner unersetzlichen Partnerin und Gattin Anna Laudere – hat zudem ein ganz bestimmtes Flair, das ich kürzlich als die optische Zusammenfassung vieler erdachter luxuriöser Portraitgemälde von den beiden beschrieb. Als liefe da ein Kinofilm ab, während sie tanzen, und in nur wenigen Sekunden entfächert sich ein ganzer Hollywoodroman…

Und der Prinz hebt die Prinzessin in die Höhe!

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Edvin Revazov führt Anna Laudere in Hebungen und Posen: Er ist ein Günther wie ein Prinz und sie eine Louise wie eine Majestät. Das Bühnenbild von Jürgen Rose passt dazu, illustriert es doch zugleich die exotische Poetik des Stücks. So zu sehen beim Hamburg Ballett im „Nussknacker“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Hebungen, dieses exquisite Kennzeichen klassischen Balletts, finden sich in Neumeiers „Nussknacker“ so häufig und so wunderschön moduliert und variiert, dass man die jeweils gehobenen Damen darum nur beneiden kann! Die Herren, die sie „liften“, aber auch, denn es sind Kraft und Stärke, die sie zeigen, und damit sind nicht nur äußerliche, sondern auch charakterliche Eigenschaften gemeint.

Lucia Ríos ist denn auch jede Hebung unbedingt wert. Die schöne Ballerina aus Buenos Aires – auch sie stammt, wie Oberlin, aus Argentinien – ist ja noch ganz neu in der Rolle als Louise und bezaubert bereits jetzt mit ihrem Charme wie mit ihren schnellen, präzisen Posen.

Ihre Lebensfreude, gepaart mit ihrer raffinierten Weiblichkeit, wird ihr hoffentlich noch einige prägnante Hauptrollen bescheren. Was sie wirklich vor allem mit ihren exquisiten, neuartigen, fließenden, dennoch wie barock geschnörkelten Ports de bras im zweiten und dritten Teil nahelegte.

Anna Laudere aus Lettland in der Abendbesetzung ist hingegen bereits unbestreitbar eine richtige Majestät voll Stolz und Würde – und man würde niemals auf die Idee kommen, sie wäre am Hoftheater etwas anderes als die Primaballerina assoluta. Ihr Louisengünther mit Gatte Revazov (ihrem Günther) sprüht nur so vor Glamour, vor Würde, vor Lebendigkeit dennoch auch. Was für ein anbetungswürdiges Pärchen!

Auch das Farbenspiel der Kulisse nebst Kostümen  (Ausstattung: Jürgen Rose, der Legendäre!) scheint dafür wie gemacht…

Da dürfte Ballettmeister Drosselmeier schon ein bisschen eifersüchtig sein… was er mit Komik hoch zehn kompensiert.

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Carsten Jung als Drosselmeier: immer eine Illusion wert… Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Abends wurde dessen Partie von dem auch schauspielerisch sehr begabten Deutschen Carsten Jung zünftig-boulevardesk getanzt, mit sehr viel Sinn für all die komischen Details, die der etwas spinnerte, egozentrische Künstler hier vom Choreografen John Neumeier mit auf den Weg bekommt. Man kann gar nicht anders, als Drosselmeier schmunzelnd und kichernd auf all seinen Bühnenwegen zu folgen, ob er sich nun vordrängelt, wenn es ums Familienfoto geht, oder ob er die Retourkutsche der von ihm malträtierten Jungs einstecken muss.

Marc Jubete – gebürtiger Spanier – verblüffte dagegen am Nachmittag durch den Ursprung der theatralen Komik, die darin liegt, dass nichts absichtlich übertrieben ist, aber ganz besonders ernst genommen wird. Die komische Person selbst bemerkt ihre Komik gar nicht – sondern ist so sehr ins Absurde vertieft, dass ihr Anblick für Außenstehende in einem Höchstmaß lustig ist. Hahahaha, man möchte platzen vor Lachen!

Ein Junge ist im Zusammenspiel mit Drosselmeier besonders keck: Der spritzige Fritz, der mit seinen Kadetten stets Freudentänze aufführt ‑ mal im adrett-französischen Stil, mal im Kosakenstil. Er reißt indes jedes Mal mit, dass es eine Herzensfreude ist! Als Bruder der Hofballerina Louise verfügt offenbar auch er über ein gewisses theatralisches Talent.

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Ricardo Urbina, Marcelino Libao und Aleix Martinez: ein furioses Kosaken-Trio aus dem dritten Bild im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Vollauf sicher ist der superbiegsame Spanier Aleix Martínez in dieser Rolle, die ihm nachgerade auf den Leib geschneidert wirkt. Das Militär ist hier ja nicht grob oder grobschlächtig, sondern, im Gegenteil, geschmeidig und galant. Es handelt sich sozusagen um ein „Kaiserwalzermilitär“ in diesem „Nussknacker“, und dessen kesse Vorhut ist eben Fritz, der Bruder von Marie und Louise, der altersmäßig zwischen den jungen Damen steht und sich darum immer wieder den Bonus des schalkhaften Buben herausnehmen darf.

Fritz macht hier auch kein Spielzeug kaputt, auch nicht den Nussknacker, den Marie zum Geburtstag als Geschenk erhält (wie in anderen „Nussknacker„-Varianten), sondern er ist hier ein alles in allem gut erzogener Junge, der im Verein mit seinen Freunden Spaß hat und nachgerade aus Gerechtigkeitssinn am zuvor nachlässig rücksichtslosen Drosselmeier seine lustige Rache nimmt. Hopsa, da purzelt Drosselmeier über Fritz, weil der ihm zwar kein Bein stellt, sich aber blitzschnell auf allen Vieren dem Ballettmeister in den Weg stellt. Etwas später katapultieren die Jungs den etwas überheblichen Drosselmeier rückwärts in die Käfer-liegt-auf-dem-Rücken-Position: Hui, so kann es gehen, wenn man sich mit der Jugend anlegt!

Bei Neumeier tanzt Fritz mit seinen Kumpels aber auch so furios, dass man vor allem bei ihrem Kosaken-Auftritt im dritten Bild von einem absoluten Highlight dieses wunderbaren Balletts sprechen muss.

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Marc Jubete als Drosselmeier und rechts von ihm Marcelino Libao als Fritz: Heißa, die zwei haben sich viel zu erzählen und auch mal Händel miteinander! Foto: Kiran West

Das beweist auch Marcelino Libao, der am Sonntagabend erstmals komplett den Fritz tanzte. Er hatte sein Debüt ja streng genommen bereits Silvester, als Fritz teilweise in vierfacher Besetzung – als Silvesterscherz – auf der Bühne stand.

Jetzt durfte Libao die Partie aber allein interpretieren – zu meiner großen Freude, denn in letzter Zeit fiel er immer wieder durch Glanzleistungen, aber ganz ohne penetrantes Vordrängeln auf der Bühne, auf.

Und mit energiegeladener Haltung springt und scherzt und lächelt Marcelino Libao, auch als Anführer der Leutnants, dass es eine Freude ist! Dieser Fritz ist zudem ein männliches Abbild von Marie, in gewisser Weise: Auch er ist noch nicht ganz erwachsen, auch in ihm quillt noch viel kindliche Freude.

Mit Aleix Martínez (der ja sonst oft als Fritz virtuos auftrumpft) und Illia Zakrevskyi bildet Marcelino Libao im dritten Teil das formidable Kosaken-Supertrio, das mit seinen hohen Bockssprüngen und seinem sozusagen krachledernen Reigen sogar sehr überzeugten Mädchen das Jungssein lecker reden könnte.

Gottfried Wilhelm Leibniz war hingegen nicht nur Philosoph, sondern auch Mathematiker und Naturwissenschaftler. Während eines längeren Arbeitsaufenthalts in Paris erfand er die heute nicht mehr wegzudenkende Differentialrechnung. Aber auch als Historiker und politischer Berater erwarb er Verdienste.

Anhänger der Ökumene können sich auf ihn berufen: Als Lehre aus dem schrecklichen Dreißigjährigen Krieg schlug Leibniz vor, dass sich die christlichen Hauptkirchen, also die katholische und die evangelische, wieder vereinen sollten.

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Für Ägypten hegte Leibniz allerdings den dubiosen Plan, dass Frankreich es erobern solle. In Neumeiers „Nussknacker“ ergeht es Ägypten beträchtlich besser: Mit dem Tanzpaar Priscilla Tselikova und Florian Pohl wird es in hervorragender Weise vertreten, die goldgeschmückte Ballerina darf mit hehrem Spitzentanz unter den sicheren Händen des ebenso Ergoldeten brillieren, und die elegischen Posen hier – zu Beginn und am Ende ihrer Hauptdarbietung unter einem blauen Schleier – sind von so erlesener Schönheit, dass man geneigt ist, Ägypten für das Ursprungsland des Tanzes zu halten.

Übrigens steht ein Ballett von Marius Petipa namens „La Fille du Pharaon“ („Die Pharaonentochter“) hier auch titelspendend Pate. Zwei andere klassische Stücke werden ebenfalls zitiert, mit „Die Schöne von Granada“ und „Esmeralda und die Narren„. Als Esmeralda debütierte übrigens die Erste Solistin Hélène Bouchet, die ihrerseits zu Silvester eine der vier ganz wunderbaren Louisen abgab und mit lyrischer Selbstvergessenheit brillierte.

Und obwohl man die fantastische Silvestervorstellung nicht einfach so vergessen kann (so sehr man sich auch bemüht), zeigt die sonntägliche Doppelvorstellung doch ihre Vorzüge sehr deutlich: Details, wie etwa das adrette Knuffen einer Kissenfalte durch den freundlichen alten Diener (immer wieder liebenswert sorgfältig: Leeroy Boone) am Ende des ersten Bildes, brennen sich umso besser ein – und dass ein zwölfter Geburtstag viel einmaliger ist als ein Weihnachtsfest, zumal aus der Sicht der Jubilarin, leuchtet einem umso stärker ein, wenn man den Handlungsablauf noch frisch vom Nachmittag am Abend im Gedächtnis hat. Ist ein Geburtstag doch immer eine Feier des Lebens!

"Der Nussknacker" von John Neumeier: unerschöpflich gut

Lucia Ríos am Arm von Marc Jubete: Die Hofballerina Louise trainiert hier mit ihrem Ballettmeister im „Nussknacker“ von John Neumeier. Welche Poesie des Balletts! Foto: Kiran West

Auch die Musik ergibt doppelten Genuss, wenn man sie zwei Mal hört, was dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zu verdanken ist. Es wurde – in beiden Vorstellungen – von dem hierin überirdisch guten Simon Hewett dirigiert, mit einer von superfiligran bis hochdynamisch reichenden Palette, die dem Komponisten Peter I. Tschaikowsky absolut gerecht wurde und zudem ebenfalls dem Glauben an die Leibniz’schen Monaden zuspielte.

Das erweist sich in all den folkloristischen Einflüssen bei den Divertimenti wie dem „Chinesischen Vogel“ und der „Gigue“ , aber auch bei dem entzückenden Damen-Pas de quatre und der sportiv-faszinierenden fünfköpfigen Variation der Herren.

Und gerade auch beim berühmten Grand Pas de deux en Bordeaux im dritten Teil, in dem das Louisengüntherpaar seine von Liebe beflügelten Kräfte zeigt. Klassik und Modernisierung gehen hier im Tanz eine Ehe ein, die ohnegleichen ist, und man erfühlt sowohl die strengen Linien eines Lew Iwanow als auch die verspielte Lieblichkeit von Marius Petipa in dieser von John Neumeier indes neu geschöpften Fantasie und Paraphrase auf den „Ur-Nussknacker„.

Das ist ganz großes Theater!

Die Metaphysik des Stücks und seiner Musik wird sich indes in jeder Besetzung durchsetzen, da darf man sicher sein. Und gerade im Vergleich gewinnen die einzelnen Interpretationen nochmals an Tiefenschärfe – das ist Weltkultur und eben kein Kinderkram, das ist höchste Kunst und nicht nur ganz hübsche Dekoration. Es ist wichtig, diesen Unterschied wahrzunehmen.
Gisela Sonnenburg

Noch eine Doppelvorstellung gibt es am Sonntag, 13. Januar 2019

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