Das Maximum des Begehrens Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett zu Gast in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Sinnlich bis zum Anschlag: Anna Laudere und Edvin Revazov in der „Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Sinnlich bis zum Anschlag, dennoch jugendfrei: Der so genannte Schwarze Pas de deux von John Neumeier ist definitiv ein erotischer Höhepunkt der Ballettgeschichte. Seine Protagonisten – die Titelrolle aus „Die Kameliendame“ und ihr Geliebter – versöhnen sich hierin nach einer Auszeit des Streits für eine Nacht, und ihre Gefühle füreinander sind so stark, dass ein Überleben ohne den anderen kaum möglich erscheint. In der Dramaturgie des Stücks aber bedeutet das Maximum des Begehrens, das sich darin äußert, zugleich den Wendepunkt zur Tragödie. Die Spannung steigt ins fast Unerträgliche! Das Bayerische Staatsballett hat dieses rasante abendfüllende Ballett, das Neumeier 1978 für die Stuttgarter Primaballerina Marcia Haydée schuf, seit 1997 im Repertoire. Immer mal wieder faszinierten neue Ballerinen in der Hauptrolle das Publikum, zuletzt Lucia Lacarra, Daria Sukhorukova und, als Gaststar, Alina Cojocaru. Jetzt sollte eigentlich die junge Ksenia Ryzhkova ihr Debüt als „Kameliendame“ geben. Aber eine Verletzung verunmöglichte das – viele Genesungswünsche seien an dieser Stelle an die elegant-energische Münchner Erste Solistin übermittelt. Für die angekündigten Vorstellungen wurde Anna Laudere gemeinsam mit ihrem Gatten Edvin Revazov eingeflogen. Die beiden Hochkaräter tanzen die Hauptrollen in „Die Kameliendame“ seit Sommer 2012 beim Hamburg Ballett, ihrer künstlerischen Heimat. Heute, am 11. Januar, sollten sie in München ohnehin gastieren – jetzt übernehmen sie einfach alle derzeit anliegenden Termine. Der souveräne Revazov brillierte zudem schon an der Seite von Svetlana Zakharova in der „Kameliendame“ beim Bolschoi Ballett. Und Anna Laudere kann dank ihrer starken Expressivität mit Fug und Recht als die modernste „Kameliendame“ unserer Zeit gelten.

Dabei gibt es außer dem grandiosen Liebespaar neun weitere bedeutende Partien im Stück.

Etliche Solisten und Corps-Mitglieder des Bayerischen Staatsballetts gaben von daher ihre Rollendebüts, das Ergebnis: eine so anrührende wie bewundernswerte Vorstellung, die das Publikum zum Rasen vor Begeisterung brachte.

Denn auch nach gut 40 Jahren hat „Die Kameliendame“ nicht ein Jota ihrer bezwingenden Kraft eingebüßt. Man sieht sie – und ist von ihr erfasst, als handle es sich um eine Uraufführung. Die Ausstattung von Jürgen Rose wirkt ebenso stimmig wie die Figurenentwicklung – es handelt sich um ein rundum geniales Meisterwerk, keine Frage.

Wolfgang Oberender, einst Münchner Ballett-Dramaturg und einer der besten seiner Zunft, erklärt das mit dem unbedingten Willen zur künstlerischen Wahrhaftigkeit des Choreografen John Neumeier.

Aber auch die von Neumeier gewählte, orchestrierte Musik von Frédéric Chopin trägt das ihrige dazu bei: romantische Schwärmerei wechselt darin mit abgrundtiefer Melancholie.

Der Aspekt der Schwermut, der zur Liebe beitragen kann, wird denn auch in der Interpretation von Anna Laudere besonders tragfähig. Ihr Schauspiel trägt durch den Abend: dramatisch bis an die Grenze zum Pathetischen, lyrisch-hingegeben bis zur vollendeten Leidenschaft.

Ihre Rolle, Marguerite Gautier, die Kameliendame, entspricht hier in den wichtigsten Zügen der Romanfigur, die der Dichter und Dichtersohn Alexandre Dumas d. J.im Paris des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild einer real existierenden jungen, bildschönen, tödlich an TBC erkrankten Luxuskurtisane ersann. Dieses Mädchen verliebt sich in den unbedarften 24-jährigen Armand, der ihr seinerseits verfällt und ihr sein Herz in drei atemberaubenden, großen Pas de deux zu Füßen legt.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Ein Paar wie aus Samt und Seide: Marguerite (Anna Laudere) und Armand (Edvin Revazov) beim Bayerischen Staatsballett in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto: Wilfried Hösl

Edvin Revazov lebt seine Partie als Armand mit jedem Atemzug. Er weiß seine Partnerin und Gattin anzusehen, zu führen, zu lenken, zu bedrängen, zu heben, durch die Luft zu wirbeln, sanft abzusetzen wie kein zweiter Ballerino. Abend für Abend durchleben und durchleiden die beiden eine unglaublich traurige Liebesgeschichte, über die das Schicksal einen Fluch verhängt hat. Und dabei lieben sich Armand und Marguerite wirklich stark…

Die weltweit auch auf Galas geschätzten Paartänze der „Kameliendame“ sind angefüllt mit exorbitanten Hebungen, passionierten Bodenfiguren und raffiniert-erotischen Verklammerungen der beiden Partner. Dennoch wirken sie nie anstößig oder obszön: Jede Bewegung ist zugleich materiell fasslich und hat doch eine metaphorische Ebene mit einer Bedeutung im übertragenen Sinn.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Anna Laudere in den Armen von Edvin Revazov – im Schwarzen Pas de deux in der „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Wenn Armand (Edvin Revazov) diese ungewöhnliche Frau ins Visier nimmt, wirkt er zugleich wie ein Macho und doch wie ein schüchterner Bub. Und auch Marguerite (Anna Laudere), die das Leben vor allem aus der Perspektive der Großaufnahme kennt, entdeckt durch die intensive Kommunikation der Verliebtheit in sich das verspielte Kind wieder, das sie einst war. Aber auch das moralische Element wird durch die Liebe hier befördert, Liebe macht hier klarsichtig und altruistisch.

Die Liebe führt und verändert die Personen, und das ist dank der Körpersprache, die John Neumeier für das Paar fand, zu sehen; die ästhetischen, seltenen Posen, in denen sie sich formuliert, werden gerade von dem hervorragend trainierten Paar Laudere-Revazov exzellent zelebriert. Da ist ein Cambré keine einfache Neigung des Schulterapparates nach hinten, sondern ein ausdrucksstarker Akt der Gefühlsäußerung. Und eine Pirouette ist nicht einfach nur ein gut gelauntes Glanzstück, sondern ein eindringlicher Teil einer Ansprache an die Geliebte, fast wie eine Selbstentäußerung.

Theater-im-Theater-Aufführungen, Bälle und Vermischungen von Traum und Realität bilden den Rahmen, in dem sich Marguerite und Armand finden. Auf dem Lande, mitten im Sommer und fern von Paris, frönen sie schließlich, begleitet von lebenslustigen Freunden, der puren Liebe, der erotischen Hingabe par excellance, was im Weißen Pas de deux, den Marguerite in einer luftigen weißen Ballkleid- oder auch Brautkleidvariation mit ihrem Liebsten tanzt, seinen Gipfel der Lust erreicht.

Als Freundin und Kupplerin bildet Prisca Zeisel als Prudence das putzmuntere, lebhafte Gegenstück zu Marguerite.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Osiel Gouneo tanzt mit viel Power den Freund Armands, Gaston, in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Prudence sprudelt nur so vor optimistischer Lebenskraft und ist – im Gegensatz zur aufrechten Kameliendame – auch stets bereit, mal krumme Wege zu beschreiten, um sich zu bereichern oder zu vergnügen.

 Prisca Zeisel hat eine umwerfende Bühnenpräsenz, mit der sie diese Rolle präsentiert. Und das schwierige Spitzentanzsolo der Prudence in der sommerlichen, ganz in Weiß gehaltenen Landleben-Szene meistert Zeisel mit Bravour.

Wenn sie dann mit Gaston, einem Freund Armands, flirtet – von Osiel Gouneo mit köstlich frecher Power getanzt – hat das eine ganz besondere Würze!

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Fantastisch, lyrisch, ätherisch: Kristina Lind vom Bayerischen Staatsballett als Manon in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto: Wilfried Hösl

Aber die Kameliendame hat auch in die andere Richtung, nämlich in die jenseitige, ein Pendant: Kristina Lind ist eine feinfühlige, ätherische, dennoch markant-passionierte Manon Lescaut, die als Traumbild und als Schattenfigur hier eine große Rolle spielt.

Sie taucht im Stück zu Beginn und am Ende erneut als Theaterfigur auf, verselbständigt sich aber zwischendurch in der Gedankenwelt Marguerites und folgt ihr wie ein gespenstischer Totenengel in die intimsten Fantasien. Sie wird begleitet von ihrem Liebhaber Des Grieux – ganz wie im Roman von Abbé Prévost – sowie von weiteren Verehrern, denen sie zu Lebzeiten gegen materielle Zuwendungen ihre körperliche Liebe schenkte.

Das Leitthema von der Käuflichkeit weiblicher Sexualität birgt trotz aller Romantik in seiner Inszenierung unübersehbar sozialkritisches Potenzial. Denn wirklich freiwillig wurden weder Manon noch Marguerite zu Huren. Es war die Not, die sie ihren fragwürdigen sozialen Aufstieg nehmen ließ.

Als Des Grieux umschmeichelt in München Dmitrii Vyskubenko mit lyrisch-schelmischer Kraft seine Manon. Armand begegnet ihm zu Beginn wie einem Zwilling in spiegelbildlicher tänzerischer Gestik. In Dumas‘ Roman lässt der Dichter den Liebhaber Armand sagen, er würde seiner Marguerite genau so in eine Strafkolonie folgen, wie Des Grieux es bei Abbé Prévost tut. Insofern ist Des Grieux auch im Ballett ein Leitbild für Armand.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Der konservativ gestimmte Vater von Armand, Monsieur Duval (Emilio Pavan), mischt sich ein: Die „Kameliendame“ (Anna Laudere) gibt daraufhin Armand den Laufpass. So zu erleben beim Bayerischen Staatsballett im berühmten Stück von John Neumeier. Foto: Wilfried Hösl

Doch er hat nicht bedacht, was er doch ahnte: Marguerite ist weit weniger egoistisch als Manon. Sie meint es ernst, wenn sie im Roman von Dumas zu Armand sagt: „Ich würde mich lieber von Dir trennen, als die Ursache eines Zerwürfnisses zwischen Dir und Deinem Vater zu sein.“

Sie macht Ernst mit dieser selbstlosen Planung – und trennt sich von Armand, ohne ihm zu sagen, dass dieses auf den Wunsch seines Vaters hin geschieht. So fühlt sich der junge Liebende verschmäht und abgestoßen – und verpasst auf Reisen den absehbaren elendigen Tod seiner großen Liebe.

Später wird ihm ihr Tagebuch ausgehändigt. Darin lesend, erlebt er Marguerites trauriges Schicksalsende, das wir, das Publikum, zugleich als Tanz auf der Bühne sehen.

„Die Verhältnisse waren stärker als mein Wunsch“, sagt Marguerite im Roman zu Armand, um ihn darin zu täuschen, dass sie ihn noch immer liebt. Er soll ja glauben, dass sie sich aus finanziellen Gründen von ihm getrennt habe und aus Eigennutz in ihr luxuriöses Leben als Kurtisane zurückgekehrt sei.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Eine wunderbare Erinnerung an paradiesisch glückliche Tage: Die Freunde von Marguerite und Armand (die beiden befinden sich hinten rechts im Bild) in der ausgelassenen Sommerszene auf dem Land, so zu sehen beim Bayerischen Staatsballett in „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Foto: Wilfried Hösl

Armands Rache besteht darin, sich eine aufstrebende Rivalin Marguerites als Geliebte zu halten. Die junge Ballerina Antonia McAuley ist als Olympia ein richtig kokettes Biest, kalt und berechnend, auftrumpfend und immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Es schmerzt Marguerite, dass Armand sich solchermaßen tröstet.

Und doch lügt sie nicht: Die sozialen Unterschiede zerschlagen bis heute viele menschliche Beziehungen, auch solche der Liebe. Die Verhältnisse, sie sind hier wirklich stärker als die Liebe, wenngleich Marguerite sich und ihre Liebe dem Wohlleben des Geliebten opfert.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Anna Laudere als „Die Kameliendame“ im dritten Akt: einsam, todkrank… so ergreifend zu sehen beim Bayerischen Staatsballett in München. Foto: Wilfried Hösl

Liebe unter Aufopferung, unter Verzicht, still und verborgen, letztlich sogar bishin zum einsamen Ableben, um dem Liebsten eine gesellschaftliche Katastrophe zu ersparen.

Lohnt sich das? Oder ist das ein Frauenbild, das vor allem dem Wunschbild patriarchal gesonnener Männer entspricht? Wäre das Ganze denn auch umgekehrt denkbar? Würde ein Mann zu Gunsten einer Frau auf alles, was sein Leben wirklich lebenswert macht, verzichten?

Zumindest gibt es Fälle, in denen die Liebe dieses verlangt: Selbstaufgabe, Selbstverzicht.

John Neumeier schuf ein ballettöses Lehrstück dessen, das mit seinen prachtvollen Bilderreigen und den emotional aufgeladenen Szenen gleichermaßen aufklärt und verzaubert.

"Die Kameliendame" von John Neumeier in München

Traum und Wirklichkeit vermischen sich: Armand (Edvin Revazov) tanzt mit Manon (Kristina Lind) und Des Grieux (Dmitrii Vyskubenko) ein ergreifendes Pas de trois. Zu sehen beim Bayerischen Staatsballett in der „Kameliendame“. Foto: Wilfried Hösl

Die choreografischen Leckerstücke hier sind zudem zahlreich – und umfassen außer den Paartänzen auch viele originelle Interaktionen der anderen Soloparts sowie des hervorragend inszenierten Ensembles. Auch Komik hat da Raum, und Vieles ist so anrührend und gut durchdacht, dass man das Leben als Summe vieler erwähnenswerter Einzelepisoden wahrnimmt.

Das Libretto verschachtelt hingegen raffiniert verschiedene Zeit- und Handlungsebenen, denen man dank ihres logischen Zusammenhalts aber gut folgen kann – auch ohne das Libretto auswändig gelernt zu haben.

So überrascht denn auch Eines nicht:

Die Kameliendame“ gehört zur Ballettspitze wie „Nussknacker“ und „Schwanensee“, wie „Onegin“ und „Spartacus“ und auch „Giselle“, um die Top six der abendfüllenden Handlungsballette mal in einem Atemzug zu nennen.

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Und nicht umsonst erklärte Ksenia Ryzhkova während der Proben, die „Kameliendame“ sei wohl „für jede dramatische Ballerina die begehrteste, die definitive Traumpartie, die das 20. Jahrhundert im Ballett hervorgebracht hat.“
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“ im Ballett-Journal, wo es (bitte googeln!) auch etliche weitere ausführliche Beiträge zur „Kameliendame“ gibt, die übrigens in wenigen Tagen auch in Stuttgart wieder auf dem Spielplan steht

www.staatsballett.de

 

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