Dieser Mann ist kein Anhängsel irgendeiner Firma, irgendeines Chefs, irgendeiner Werbestrategie. Dieser junge Mann hier ist echt, und das heißt in erster Linie: verletzlich, zart, ichbezogen, unruhig. Aleix Martínez leistet als Titelfigur von John Neumeiers grandiosem Seelenballett „Nijinsky“ von 2000 eine bislang nicht mal erahnte Rolleninterpretation: als Narziss, als selbstverliebtes Superego, als gleichermaßen sensibles und fast autistisches Künstlerherz. Mit der nachgerade im klassischen Sinn virtuos-wahnsinnigen Interpretation von Alexandre Riabko hat der junge Martínez kaum etwas zu tun, er ist vom Reifegrad her nicht vergleichbar. Dafür führt er auf ganz anderen Spuren in jene mentale Düsternis, in der Vaslaw Nijinsky (1889 -1950), zunächst der am meisten gefeierte Ballerino seiner Zeit, langsam, aber sicher für den Rest seines Lebens versackte.
Leben und Wahn, Kunst und Irresein: Neumeier lässt sein Ballett über Tanz und Schizophrenie mit dem letzten öffentlichen Auftritt des Startänzers Nijinsky beginnen und auch enden. Immer wieder kehrt der collageartig montierte Szenenreigen zu diesem Ausgangspunkt zurück.
Der erste Auftritt von Nijinsky hier zeigt aber schon, wie der jeweilige Tänzer die Rolle anlegt.
Während Alexandre Riabko majestätisch und fast cäsarisch eintritt und dabei eine etwas dekadente, aber auch souveräne, dramatische Stimmung transportiert, ist Aleix Martínez ein selbstverliebt Entrückter, ein Somnambuler, dem man das Herz bereits brach, bevor er sich unrettbar in sich selbst verknallte.
Narzissmus als Zustand der Moderne, als quasi-normale Befindlichkeit des begabten Außenseiters, der sich zunehmend in seinem Dasein isoliert fühlt. Aus dem anfänglich noch kompensierbaren Einsamkeitsgefühl wird immer stärker das seelische Sich-im-Kreis-Drehen. Bis zum Wahnsinn…
Nijinskys Tanz ist hier zunächst noch ein Buhlen um Zustimmung bei seinem letzten Publikum in einem Schweizer Hotel – und kein avantgardistisch gemeinter, geballter Selbstausdruck wie bei Riabko. Dieser Nijinsky von Martínez will beeindrucken, er will nicht mehr einsam sein, will der Isolation, die in seinem Innern wie eine Eiszeit bereits ausbrach, entkommen.
Aber in die Gefälligkeit, die Martínez’ Nijinsky sich selbst mit sehr diffiziler, feinfühlig-geschmeidiger Darstellungskraft abverlangt, mischt sich immer wieder der Bruch mit der Realität. Hart werden die Bewegungen dann. Der geschmeidige Fluss der Gesten und Sprünge – die er im übrigen fantastisch und penibel exakt absolviert – stockt dann, als habe die Musik aufgehört zu spielen. Ganz klein sind diese Brüche, fast sind sie wie Risse in hart angeschlagenem Glas. Aber sie sind da, unübersehbar, und sie sind gefährlich – bei weiterer Belastung, das ist klar, werden sie das Glas sprengen, es wird explodieren, und es wird nichts mehr sein wie zuvor. Es ist fantastisch und zugleich glaubhaft gruselig, wie Aleix Martínez das tanzt.
Die Schizophrenie, an der Vaslaw Nijinsky litt, beendete denn auch seinen Werdegang als Tanzkünstler, setzte aber zugleich enorme Energien für Zeichnungen frei. Schon vor dem Abgleiten in den auch vom Kranken selbst unkontrollierbaren Zustand des Irrsinns zeichnete Nijinsky, mit unerhörter Begabung. Dieses Mehrfachtalent hat er mit John Neumeier, der unter anderem Malerei studierte, bevor er Profitänzer wurde, gemeinsam. Neumeier schuf auch die Bühne und die Kostüme in „Nijinsky“; er stützte sich dabei auf die Originalentwürfe von Léon Bakst und Alexandre Benois, insoweit es um historische Rollenkostüme wie für „Petruschka“ und „L’après-midi d’un faune“ geht.
Genie und Wahnsinn bedingen einander zum Glück mitnichten, sodass John Neumeier seine Schaffenskräfte ungebrochen walten lassen kann.
Allein die Musikauswahl – beginnend mit sanftmütigen Klängen von Frédéric Chopin und gipfelnd in Dmitri Schostakowitschs erschütternder, haarsträubend-gänsehauttreibender Sinfonie N. 11, die einen blutig nieder geschlagenen Aufstand im zaristischen Russland im Jahr 1905 beschreibt – bezeugt schon die tiefsinnige Dramturgie des Stücks.
Die Choreografie, die gelegentlich auch andere Stücke sowohl historischer Art als auch von Neumeier selbst zitiert, ist ein dicht komponiertes Geflecht aus getanzten Erinnerungen, Illusionen, Visionen, Halluzinationen und realitärer Spielzeit.
Man hat den Eindruck, hier würden insgesamt weit über hundert Leute auf der Bühne stehen. Dadurch, dass etliche Solisten, aber auch die Corps-Mitglieder in viele verschiedene Rollen schlüpfen, entsteht in der zusammen fassenden Ansicht von „Nijinsky“ eben dieses Moment von erlebbarer Masse.
Fühlbar stark sind deren Rhythmen vor allem in den ganz fantastisch gecoachten Herrenensemble-Szenen. Die von Nijinsky imaginierten Soldaten in Slip und offener Militärjacke (darunter Erste Solisten wie Edvin Revazov und Alexandr Trusch sowie Karen Azatyan und Marc Jubete) preschen darin auf und nieder, sie springen, purzeln, drehen sich als Gruppe dermaßen elegant und synchron, aber auch so passioniert und hingebungsvoll, dass Mitleid und Empathie möglich werden. Ein kathartischer, pazifistischer Effekt, den man genau so von solchen Szenen erwartet.
Die Solisten haben dann enorm viel zu tun. Etwa als „Spectre de la Rose“: Hier muss Christopher Evans allerdings noch etwas die notwendige lyrische Leichtigkeit in den Beinen üben.
Ich darf hier mal unüblicherweise die junge derzeitige Freiberuflerin Rebecca Gladstone als anzuwerbende Ballettmeisterin empfehlen – sie hat in ihrer Zeit beim Semperoper Ballett in Dresden noch jeden Jüngling auf anmutigste Linie gebracht und noch jedes Mädchen sich elegant-graziös drehen lassen.
Gladstones beste Visitenkarten sind auch heute die verschiedenen Besetzungen der Hauptfiguren in Kenneth MacMillans „Manon“, die sie freiberuflich staged. Aber auch modern-akrobatische Stücke von David Dawson, William Forsythe und anderen zeitgenössischen Choreografen weiß Gladstone exquisit, mit Herz und Seele und dennoch großer Meisterschaft, zu coachen. Ihre Bandbreite ist enorm. Es ist anzunehmen, dass sie auch den sehr logischen, neoklassizistisch-modernen Neumeier-Stil in kürzester Zeit vollauf beherrschen und dann besser lehren könnte als so mancher ehemalige Neumeier-Tänzer.
Und ich will ja nicht drängen, aber auf diesem Gebiet fehlt es an jungen Könnern in Hamburg.
Weil Lloyd Riggins, der in drei Jahren vermutlich das Hamburg Ballett als Chef übernimmt, als Ballettmeister nicht alles kann, sollte Neumeier sich beizeiten genialischen Nachwuchs für die Ballettmeisterei suchen, auch solchen, der nicht im eigenen Stall – also bei Neumeier in Hamburg – herangereift ist. Denn das Coachen ist ein ganz eigenes Talent, das mit Tanzen nur bedingt zu tun hat. Es ist wie Regieführen, nicht wie Schauspielen, es ist eine eigene Kunstfertigkeit, und es gibt weltweit gar nicht wenige Ballettmeister, die keine großartigen Ersten Solisten waren, die aber dennoch zu den Besten ihrer Zunft gehören.
Rebecca Gladstone ist da genau die Richtige, meiner Meinung nach, die in Hamburg mit ihrer bescheidenen, aber sehr sicheren Art etwas grundsätzlich für die Zukunft Wesentliches beisteuern könnte.
Sie hat so viel Talent und Fleiß in den Fingern, wie ich es noch nie bei so jungen Ballettmeistern erlebt habe – und ich habe ja einige wirklich sehr gute aus Deutschland, Russland, England, Frankreich, Italien, Dänemark, der Schweiz und den USA sehen dürfen.
Gladstone hat übrigens international Erfahrung, sie hat neben ihrer früheren Tätigkeit als fest angestellte Ballettmeisterin von Aaron Watkin und Gamal Gouda in Dresden auch Stars von anderen Theatern für Gala-Auftritte im In- und Ausland mehr als nur fit gemacht.
Den Schmelz, den Rebecca Gladstone den Tänzern einzuhauchen weiß, vermisse ich manchmal in Hamburg, und er würde hervorragend zum Hamburg Ballett passen.
Es sei denn, Alexandr Trusch steht auf der Bühne. Dieser Wundertänzer lässt alles vergessen, er macht auch aus jeder noch so kleinen Nummer einen brillanten Aufreger.
Am Sonntag wird er als „Nijinsky“ debütieren, die Vorfreude darauf ist riesig.
In der Martínez-Besetzung gibt er als Leonid Massine im „Jeux“-Kostüm den nostalgischen Tennisspieler – und becirct mit leichter Hand und schwebendem Fuß auch und gerade im Pas de trois mit Serge Diaghilew (Carsten Jung mit feinsinniger Verführungskunst) und mit Nijinsky (Aleix Martínez, der in den erotischen Szenen etwas unsicher ist, was aber mit der narzisstischen Interpretation durchaus harmoniert).
Dieser Pas de trois des sexy Tennisspielers mit seinem Vorgänger Nijinsky und dem Ballettmogul Diaghilew, der Nijinsky und Massine überhaupt erst entdeckte und zu Stars machte, ist ein raffiniertes Konstrukt aus den Lebens- und Traumbeziehungen der beiden konkurrierenden Tänzer zueinander und zu ihrem Chef. Die drei bilden hier fast eine Art tragische Kleinfamilie, bei der zunächst unklar ist, wer der Thronfolger wird. Da wird geliebt, gelitten, geliebt, gestritten, geliebt, geteilt – und schließlich trennt sich Nijinsky unmerklich von den beiden ineinander Vernarrten, er geht ab, in die Kulissen, während der Pas de deux von Massine und Diaghilew seinen sanften Höhepunkt erreicht.
Da zitiert die Choreografie doch glatt die „Josephs Legende“ von John Neumeier, und tatsächlich wurde die gleichnamige Musik von Richard Strauss (die hier aber mitnichten ertönt) mit Leonid Massine in der Titelrolle uraufgeführt. Mit großer Delikatesse kann Alexandr Trusch hier auch gleich noch sich selbst und seine Interpretation des Joseph zitieren, tanzte er die Partie doch einst in Hamburg – ach, man würde ihn glatt gern erneut darin sehen.
In „Nijinsky“ bleibt es jedoch bei wenigen mit der Hand auf den Handrücken geschlagenen Rhythmen. Vielsagend ist das, einerseits handelt es sich um eine lockende Zusage, andererseits um eine provozierende Forderung. Wie das so ist mit Neumeiers Tänzen…
Wenn dieses Juwel choreografischer Kunst so behutsam-elegant getanzt wird wie am Freitag, dann ist es den heftigen Szenenapplaus, den es bekam, allemal wert. Bravo! Nochmals: Bravoooo! Für mich war es ein Highlight überhaupt der lebendigen Ballettkünste, und ich möchte diese Passage aus „Nijinsky“ gern als Gala-Stück empfehlen. Die Heutigkeit dieser einprägsamen Choreografie, die männliches Rivalentum im Berufsleben so überaus menschlich zu subsummieren weiß, ist einfach unübertrefflich. Danke, John Neumeier!
Aber auch ein weiterer Tänzer zeigt endlich mal, was er kann (man hatte es ja schon immer wieder mal vermutet): Thomas Stuhrmann als rasender „Petruschka“, im weißschwarzen Clownskostüm, ist ein Erlebnis, zirkushaft der Rolle gemäß, aber auch ausflippend wie eben ein Irrer, der seine Grenzen und die seiner Umwelt überhaupt nicht mehr abschätzen kann.
Als „Goldener Sklave“ betört dieses Mal der junge Marc Jubete: sehr schelmisch-durchtrieben-schön! Er ist die List der Lust in Person in dieser Rolle, und dass er goldglitzernde Pumphosen und etliche Glitzerkettchen trägt, passt zu dieser vornehmen Anmutung von Vanitas ohnehin allerbest.
Ach! Männer sollten sich sowieso viel öfters schmücken, auch im Alltag. Liebe Jungs, behängt euch doch mal – auf dass die anderen was zu gucken und zu staunen haben! Ich für mein Teil bin jedenfalls diesen globalen Einheitslook von Jeans und Hemd ohne Glitter, ohne Glamour bei den Herren der Schöpfung wirklich Leid… die Grenze zwischen edler Schlichtheit und grober Einfältigkeit ist doch fließend…
Leslie Heylmann hingegen braucht keinen Goldschmuck, um goldig zu wirken: Ihre superschönen Füße, ihre starken Beine, ihre neckischen Armhaltungen machen einfach glücklich. Als Nijinskys Schwester Bronislava hat sie hier viel Unterschiedliches zu spielen und zu tanzen, bis hin zum berühmten Zitat aus Neumeiers „Sacre“. Wow.
Silvia Azzoni ist ohnehin eine Königin an diesem Abend. Als Romola steckt sie sehr viel intensive Beziehungsarbeit in den Tanz mit Nijinsky, sie zieht nicht nur szenisch den Schlitten, auf dem er sich reglos eingeigelt hat.
Silvias Erfahrung, ihre Anmut, ihre Geradlinigkeit kommen ihr zu Gute. Sie ist elegant und zugleich höchst bodenständig als Romola, aber auch schwärmerisch veranlagt und zauberhaft in den Liebesszenen mit dem Faun und dem Goldenen Sklaven.
Aber da ist auch noch Xue Lin, die junge Chinesin, die man sich zunehmend in größeren Rollen wünscht. Sie meistert ihre Partie als Tamara Karsawina – also auch als Sylphide und als Nymphe – mit Verve, sie scheint energetisch zu fliegen und sich geschmeidig von Pose zu Pose quasi neu zu erfinden. Es macht ganz großen Spaß, sie in diesen lyrisch-naiven Rollen anzuschauen, und man hätte es sogar gern, dass sie noch ein paar Takte mehr zu tanzen hätte. Pardon, ein Frevel, so ein Wunsch. Aber eines Tages wird Xue Lin vielleicht Romola darstellen – bis dahin muss man sicher noch einige Jahre warten, denn die Beförderungstaktik der Ballettchefs setzt auf Sicherheit und Zuverlässigkeit, und da kann es nun mal nicht immer zugehen wie auf dem Sprungbrett.
Und es gibt noch eine Überraschung in dieser Besetzung: Konstantin Tselikov ist ein exzellenter Stanislaw, also das noch vor Nijinsky ebenfalls geisteskrank gewordene Geschwister des Startänzers.
Hier wächst mit „Kostja“ schon ein möglicher künftiger „Nijinsky“ heran – auch oder gerade weil er nicht mehr ganz jung ist. Er verleiht seinen Solorollen ja stets ein unverwechselbares körperliches Timbre, stellt stets deutlich dar statt nur irgendwie zu tanzen – und er weiß tänzerisch-pathetische Spannungen ganz hervorragend aufzubauen.
Einen Vorgeschmack auf diese Vorstellung gab übrigens die erste Probenvorstellung der Saison in der „Hamburger Theaternacht“, dort war Martínez noch nicht ganz so eingesponnen in seine narzisstische Kokon-Interpretation, dafür war die Interaktion mit Siliva Azzoni sehr schön zu beobachten. Und auch Kostja Tselikov fiel dort schon auf – als illustre, bedrückend-ergreifende Verkörperung der Zukunft, einer Art Anti-Zukunft, die nur die Dunkelheit im Geist und nicht mehr die Freude des Lichts kennen darf.
Gisela Sonnenburg
Zur „Theaternacht“-Probe bitte hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-theaternacht-nijinsky/
Zum Haupttext „Nijinsky“ bitte hier: www.ballett-journal.de/virtuositaet-des-wahnsinns/
Weitere Termine siehe oben im „Spielplan“: www.ballett-journal.de/spielplan/