Tod und Leben für die Liebe „Giselle“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett – immer wieder schön und wild – und immer wieder anders, je nach Tänzerinterpretation. Ein Abschied in Ehren

Giselle ist ein romantisches Ballett

Sie tanzen um sein Leben: Albert (Alexandr Trusch) und Titelheldin Giselle (Carolina Agüero) beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Sie ist schon etwas sehr Besonderes, diese „Giselle“! Und auch ihr Liebster, der bei John Neumeier „Albert“ heißt und nicht „Albrecht“, wie in der romantischen Urversion, ist ein ganz besonderes Exemplar seiner Spezies. Beim Hamburg Ballett macht die faszinierende Neumeier’sche – modernisierte – Version des Klassikers dennoch ab jetzt mindestens eineinhalb Jahre Pause. Wer eine der letzten Vorstellungen im Mai 2017 sah, konnte sich glücklich schätzen: Sie strotzten nur so vor inszenatorischer Spannung und tänzerischer Größe. Am letzten Sonntag, dem „Tag der Arbeit“ (1. Mai), boten Hauptdarsteller, Solisten und Ensemble allemal ein künstlerisches Fest, unterstützt von Simon Hewett, dem Ersten Dirigenten vom Hamburg Ballett, und den Symphonikern Hamburg in der Hamburgischen Staatsoper.

Als Giselle betört Carolina Agüero – mit keineswegs süßlichen, aber mädchenhaft-fraulichen Gesten, geradlinigen großen Posen und herzzerreißend dramatischem Schauspiel. Als Dorfmädchen Giselle fühlt sie von Anfang an, dass mit dem ihr überschwänglich den Hof machenden Albert irgendetwas nicht stimmt. Aber sie ist verliebt, und diesen Zwiespalt zeigt Agüero ganz hervorragend. Da wiegt sie sich selig in der walzernden Musikschmelze von Adolphe Adam, ist aber auch zutiefst bekümmert, als das Blütenzupfspiel „Er liebt mich, er liebt mich nicht“ zunächst gegen die Liebe zu sprechen scheint.

Und ihr Verehrer? Alexandr Trusch ist nach wie vor ganz sicher einer der besten Balletttänzer der Welt, und gerade als Albrecht zeigt sich das zur Gänze.

Truschs Gesicht wirkt auf der Bühne weniger lieblich-jungenhaft, dafür etwas kantig-männlicher als früher. Seinem Charme und seiner hohen Kunst zu tanzen, kann das indes nichts anhaben, auch wenn manche Fans sich vielleicht erst an den neuen Anblick gewöhnen müssen. Trusch ist so oder so umwerfend als Albert: ein Schürzenjäger, heiß und wild, der zunächst den Verliebten nur spielt, um dann doch im Innersten gerührt zu werden.

Seine Sprünge, seine Arabesken, seine moderne wie klassische Grandezza habe ich bereits beschrieben (www.ballett-journal.de/neumeier-giselle/), und da ist jedes Wort nur zu bestätigen.

Zudem ist es schön zu sehen, wie er sich auf seine jeweilige Tanzpartnerin einzustellen weiß.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Alexandr Trusch tanzte „Giselle“ auch oft mit Alina Cojocaru – hier auf einem Foto von 2014 von Holger Badekow, das den Abschied des Paares im zweiten Akt zeigt.

Ob Alina Cojocaru, mit der er recht oft „Giselle“ tanzte, oder ob Carolina Agüero, mit der er zuletzt dieses wichtige, kapriziös-fantastische Liebespaar der Ballettliteratur abgab – immer weiß Trusch zur rechten Zeit einen heißen Blick zu werfen, zu umarmen oder anzufassen, um zu heben.

Im Zusammenspiel mit Agüero verzichtet sein Albert auf manche Kleinigkeit im Detail (wie das Küssen des Bodens im Erschöpfungszustand), konzentriert sich aber umso stärker auf das Schauspiel mit ihr und seinem Gefährten Wilfried.

Dieser, von Graeme Fuhrman mit sichtlich viel Vergnügen verkörpert, steht für das typisch Komplizenhafte einer Freundschaft. Wenn Albert seinen „Aufriss“ an Giselle erprobt, steht Wilfried feixend Schmiere. Und grinst sich eins!

Und wenn Giselle zuerst zögert, auf Alberts Werben einzugehen, sie sich aus sicherem Schutzinstinkt heraus sogar verweigert, dann ist Albert genervt und rollt hinter ihrem Rücken die Augen – Wilfried aber feuert ihn an. Mann, Alter, die kriegste noch mal rum!

Als dann das Blütenblätter-zupf-Spiel („Er liebt mich, er liebt mich nicht…“) zu versagen droht, ist es bei Neumeier Wilfrieds Idee, dem Schicksal nachzuhelfen und heimlich ein Blütenblatt zuviel zu entfernen. Ein rechter Kumpel ist das!

Auf den Pfad der wahren Liebe wird Wilfried den als Dorflümmel verkleideten Herzog aber nicht begleiten.

Den muss Albert, im zweiten Akt, allein beschreiten – und in kaum einer anderen Inszenierung wird so deutlich wie hier etwas über den Charakter des jungen Mannes ausgesagt.

Er ist ja zunächst ein Verführer mehr der heißen Hose als des heißem Herzens. Ein Windhund. Kein ernst zu nehmender Liebender.

Und als seine Verlobte, die Adlige Bathilde (köstlich naiv-durchgeknallt, aber weniger hysterisch-exaltiert als letzte Spielzeit von Emilie Mazon getanzt) auftaucht, beugt er sich brav dem Diktat des Geldes und der Konvention.

Giselle, die nichts von Alberts adliger Identität wusste, wird von Bathilde aufgeklärt. Die zeigt ihren funkelnden Verlobungsring vor und stellt Albert als ihren Verlobten vor.

Für die verführte Dörflerin Giselle bricht die Welt zusammen.

Da küsst Albert Bathilde die ausgestreckte Hand – und für Giselle versinken alle Träume von einer gemeinsamen Zukunft im Nichts.

Natürlich fühlt sie sich betrogen. Vor allem wird sie mit der Erkenntnis, dass ihr süßer Albert ein Schwindler und Betrüger ist, nicht fertig.

Der Blick Alberts suggeriert, dass er darauf hofft, Giselle als heimliche Geliebte behalten zu können. Was für das verliebte Mädchen kein Ausweg ist.

Als Hilarion dann noch Schwert, Wams und Mantel des Adligen Albert vorzeigt und ihn somit als Herzog outet, ist für Giselle alles verloren, was sie an Liebesträumen und Hoffnungen hatte.

Die Wahnsinnsszene ist hier zweifach motiviert: Giselle dreht zum Einen durch, weil sie Albert so jäh verloren hat – und zum Anderen, weil sie sich in seinem Charakter so arg getäuscht hat.

John Neumeier stellt diese Vorgänge psychologisch viel plausibler dar, als sie es in den klassischen Versionen dieses Balletts sind. Man kann Albert und Giselle und ihr vertracktes Verhältnis hier gut verstehen.

Die Art und Weise, wie er sie betrog und weiter betrügen wollte, stellt aber auch eine einzige Entwürdigung dar. Es ist so demütigend, jemandem auf den Leim zu gehen, der lediglich auf seinen Vorteil bedacht ist. Ohne etwas zu erwidern…

Allerdings: Es gibt (woanders und auch heute) noch viel schlimmere Jungs als diesen Neumeier’schen Heißspund Albert.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Giselle (Carolina Agüero) steht in der Tür, als befände sie sich bereits an der Schwelle zu einem jenseitigen Leben… so zu sehen in „Giselle“ von John Neumeier. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Denn immerhin läuft er jetzt nicht weg, er verschanzt sich nicht hinter Bathilde oder bei seinen Kumpels, sondern er kümmert sich um Giselle, als sie einen Schwächeanfall erleidet und zu Boden geht (was sie zuvor beim Tanzen mit den Winzern auch schon tat).

Und: Albert stellt sich auch Giselles Zorn. Er legt nicht den Hörer auf, verschickt keine Rufmord-Mails über sie und versucht auch nicht, sein Verschulden klein zu reden.

Wieder aufgerichtet, trommelt Giselle, nervlich völlig außer sich, auf ihn ein – und Albert erduldet es, wohl wissend, dass das kaum eine Strafe für ihn sein kann.

Bathilde, die peinlich und auch schmerzlich berührt ist, zieht sich mit ihrer Gouvernante (liebenswert: Ann Drower) zurück.

Denn allen ist klar: Hier müssen zwei ehemalige Liebesleute etwas klären.

Ghosting, also das erklärungslose Verschwinden nach einer Trennung, versucht Albert gar nicht erst. Er war ein Hallodri, aber er ist nicht seelisch grausam. Und er demütigt Giselle nicht noch zusätzlich, indem er ihren Schmerz ignorieren würde.

Hier fühlt Albert auch im ersten Akt schon Scham über sein gedankenloses Verhalten – sogar, bevor Giselle stirbt. Das ist ein Spezifikum dieser Inszenierung von Neumeier, und es hilft, den zweiten Akt zu verstehen.

Für Giselle aber ist es zu spät.

Sie ist dünnhäutiger, empfindsamer als die anderen, und passenderweise leidet sie (wie schon in den klassisch-romantischen Versionen des Stücks) auch noch an einer organischen Herzschwäche.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Drama und Tragik: Patricia Friza als Berthe und Carolina Agüero als ihre Tochter „Giselle“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Zwar kann ihr der Prinz von Kurland, Bathildes Vater (von Eduardo Bertini gekonnt und geistesgegenwärtig gespielt), den Degen Alberts entziehen, mit dem Giselle sich erstechen will.

Aber ihr schwaches Herz, das sie zusätzlich zu einem frühen Tod verurteilt, führt Giselle erst in den Zustand der Raserei und dann in den Tod.

Da tanzt sie, ganz unwillig und hilflos, noch einen letzten Pas de deux mit ihrem dörflichen Verehrer Hilarion (ganz hervorragend, Giselle rückhaltlos und ehrlich liebend: Konstantin Tselikov).

Und dann gibt es auch noch ein paar letzte lustvolle Drehungen mit Albert. Sie enthalten bereits Todesahnung. Albert wirft sie hoch, sie dreht sich in der Luft – und sie stirbt dabei, ihm langsam aus den Händen gleitend.

Giselles hellseherisch begabte Mutter Berthe – von Patricia Friza sehr eindringlich getanzt – stürzt zu dem Leichnam ihres Kindes, sie kann den Tod nicht fassen und hatte ihn doch schon lange befürchtet. Sie öffnet den Mund zu einem stummen Schrei. Welch ein Kummer!

Diesen Schluss des ersten Akts sahen wir bereits bei Stückbeginn, denn der Rest wurde als Rückblende getanzt: Die Dörfler strömen noch einmal zusammen, um Giselle – nun tot – zu sehen.

War sie doch vor wenigen Minuten noch so schön und glücklich, durfte als verliebte Weinkönigin posieren und mit dem Dörflervolk ausgelassen tanzen!

Und auch das Pärchen, das den berühmten „Bauern-Pas-de-deux“ tanzte, kann jetzt den Tod Giselles kaum fassen.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Florencia Chinellato und Jacopo Bellussi zeigen den frisch-fröhlichen Bauern-Pas-de-deux! Foto (Ausschnitt): Kiran West

In dieser Besetzung vom 1. Mai 2017 reüssieren Florencia Chinellato (sehr präzise) und Jacopo Bellussi (fein schwungvoll) als virtuos tanzendes Paar.

In den Paartanz- wie in den Soliszenen überzeugen die beiden vollauf, und Florencia wird sich zudem auf den Juni 2017 freuen, wenn sie in Serie die Titelrolle in „A Cinderella Story“ tanzen darf. Übrigens mit Christopher Evans als prinzlichem Partner – dafür setzte Evans die diesjährige „Giselle“-Runde aus.

Da wir gerade bei Ausblicken auf Neubesetzungen sind:

Emilie Mazon wird am Sonntag, dem 21. Mai, erstmals jene Rolle tanzen, in der einst ihre Mutter Gigi Hyatt bei der Uraufführung von „Othello“ soviel Haut und Herz und Hirn und Heftigkeit zeigte, dass die Desdemona auf den Bühnen der Welt seither kein lasches Allerweltsliebchen mehr ist, sondern eine dramatisch höchst ernst zu nehmende Partie.

Und auch in „Peer Gynt“ wird Mazon alsbald die weibliche Hauptrolle tanzen, was sie erstmals auf einem Gastspiel des Hamburg Balletts in Moskau tat.

Sie hat schon viel Glück im beruflichen Werdegang: Für eine so junge Tänzerin erhält Emilie Mazon (Jahrgang 1995, ab kommender Spielzeit wird sie Solistin sein) reichlich Chancen, mehr zu lernen und sich zu zeigen. Ebenso überraschend ist aber auch, dass es ihr bisher stets gelang, die großen Rollen mit Leben und einer eigenen Interpretation zu füllen.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Emilie Mazon, hier als Bathilde mit Teddy und Ann Drower als Gouvernante, hat schon viel Glück – aber sie langweilt auch keine Sekunde! Videostill aus dem Werbetrailer zu „Giselle“: Gisela Sonnenburg

Darum mögen die Neider bitte schweigen und genießen! Solche emotional wichtigen Überwindungen kann man ja gerade in Balletten wie „Giselle“ vom Bühnengeschehen her bestens lernen.

Denn zu Beginn des zweiten Aktes ist noch gar nicht klar, was eigentlich geschehen wird.

Die Inszenierung von John Neumeier, die im Dezember 2000 erstmals aufgeführt wurde, ist eine Mischung aus modernen, neu gefundenen Bewegungen und aus einer Übernahme der alten, tradierten Schritte.

Da finden sich Elemente, die direkt auf den Zeitgeist auch der Millenniumswende mit ihrer apokalyptischen Hysterie reagieren.

Und das Stück ist auch eine Art Fazit der choreografischen Versionen, die es bis dahin von „Giselle“ gab.

Die Mutter Berthe, im ersten wie im zweiten Akt präsent, ist zum Beispiel Neumeiers choreografische Antwort auf Mats Eks Version von „Giselle“.

Berthes Bewegungskanon zitiert Eks Körpersprache, mit weit ausgebreiteten Armen und durchgestreckten Händen, eckigen Armeinknickungen und oft gebeugten Knien.

Als Beraterin von Neumeier fungierte bei dieser Produktion übrigens nicht jemand aus dem Ek-Stab, sondern Natalia „Natasha“ Makarova, deren eigene – klassisch-romantische – Interpretation von „Giselle“ im 20. Jahrhundert legendär war. (Später, in höherem Alter, hatte Makarova es übrigens nötig, sich in völlig überschminktem Zustand an den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter heftig anzuschmiegen. Die Fotos von dieser feierlichen Gelegenheit seien eine Warnung für Künstler, eine gesunde Distanz zur Macht aus Politik oder Wirtschaft einzuhalten.)

Makarova besorgte den Hamburgern jedenfalls die unbestritten und unerhört schönen romantischen Linien der Posen im zweiten Akt, die bisher noch jede Besetzung beim Hamburg Ballett gnadenlos erotisiert zu zeigen wusste.

So auch Carolina Agüero und Alexandr Trusch.

Doch bevor Giselle und Albert zusammen um sein Leben tanzen dürfen, gibt es viel anderes zu sehen und zu bestaunen.

Da zieht Berthe vor Giselles frischem Grab im Wald einen Kreidekreis, in dem sie schamanenhaft tanzt. Hilarion hat sich ebenfalls hierher getraut, um an Giselle zu denken – obwohl die weißen Frauen, die im Wald dem Nebel entsteigen und  herumgeistern, dafür bekannt sind, dass sie Männer hassen und verfolgen, um sie rachelüstern systematisch in den Tanztod zu treiben. Ich habe dazu schon in einem Aufsatz anlässlich einer Ballett-Werkstatt in Hamburg ausführlich referiert (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle/ ).

Die um ihre Heirat betrogenen, vorher gestorbenen jungen Frauen, die hier als Geister in weißem Tüll erscheinen, teilen Giselles Schicksal: Sie sind unehelich Verführte, vom Geliebten sitzen gelassen.

Sie haben sich organisiert, um Rache am anderen (männlichen) Geschlecht zu üben.

Da ist Madoka Sugai als in dieser Spielzeit neuen, absolut überragenden Myrtha, als Anführerin der „Wilis“, also der untoten weißen Frauen: eine kühl-sadistische Königin der Untoten, deren Körper so beredt ist, dass sie einen stumm vor Staunen macht.

Die Idee des Ausstatters Yannis Kokkos, Myrtha zunächst einen hauchfeinen schwarzen Schleier über der weißen Tüllmontur anzuziehen, bewährt sich dabei: Diese Frau, so suggeriert schon der eigenartig modern-romantische Aufzug, ist keine harmlose Engelsfigur.

Die schwarzen Armbinden an den Oberarmen der Wilis bekräftigen den Kontrast ihrer tödlichen Mission zu den neckischen weißen Blüten in ihrem Haar.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Madoka Sugai ist eine Myrtha wie aus dem Bilderbuch der Neumeier-Inszenierungen: lyrisch, schwebend, überirdisch, dennoch eigenwillig… Foto (Ausschnitt): Kiran West

Madoka Sugai, seit jeher ein großes Talent für schwebend-lyrischen Tanzstil, bietet mit ihrem Auftritt als Myrtha aber auch abstrakt gesehen ein getanztes Gedicht, voll klirrender scheinbarer Emotionslosigkeit und doch großer innerer Anspannung. Faszinierend!

Ihre Balancen sind zudem so ausgeglichen und sanft, so exakt und gestochen scharf, dass man es bedauert, wenn ihre sprungstarken Soli – mit und ohne grüne Myrthenzweige, die sie wie Zauberstäbe in den Händen hält – beendet sind.

Wie an so vielen Stellen gab es auch hier in dieser Aufführung reichlich und berechtigt Szenenapplaus!

Und man bedauert um so mehr, dass „Giselle“ nun erstmal vom Spielplan in Hamburg verschwunden ist, denn die junge Madoka Sugai könnte man sich doch sehr gut in der Titelrolle vorstellen!

Zumal sie auch den etwas sinnlicheren Stil im ersten Akt beherrscht, was sie in früheren Vorstellungen im „Bauern-Pas-de-deux“ auch schon beweisen konnte.

Als ätherisches Geisterwesen ist sie allerdings absolut bei sich, und wenn es nach mir ginge, sollte man künftig glatt noch neue „Sylphiden“-Ballette erfinden, um so begabte Ballerinen wie Madoka angemessen zu beschäftigen.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Die Wilis sind wunderschöne, aber keine einfachen Wesen… so in „Giselle“ in der Inszenierung von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Myrtha ist zudem eine richtige Chefin und schult als oberste Wili auch deren Novizinnen wie Zulma (vor allem zart: Mayo Arii) und Moyna (vor allem elegant: Xue Lin).

Das ganz wunderbar gecoachte Ensemble der Damen in Weiß ist derweil bereits ganz auf der Linie der männerverachtenden Furien: souverän, überirdisch, manchmal etwas schelmisch genießen sie es, Jungs wie den netten, armen Hilarion in den Tanztod zu treiben.

Besonders Giorgia Giani weiß hier auch in der Gruppe eine schlüssige Bühnenperson abzugeben; dass die blutjungen Studentinnen der Ballettschule vom Hamburg Ballett, Olivia Betteridge und Frederike Midderhoff, hier nicht auffallen, spricht indes nur für sie.

Das gespenstische Wili-Gelächter hallt dazu über die Bühne, wenn diese Horden mal wieder einem Mann erst den Verstand und dann die Seele raubten!

Auch Albert soll ihrer Meinung nach so sterben.

Sein Name ist hier sowohl deutsch als auch französisch.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Ausdrucksstark! Noch einmal Patricia Friza als Mutter Berthe und Carolina Agüero als „Giselle“: Die Tochter ahnt ebenso wie die Mutter, dass es bald ein Ade für immer gibt. Foto: Kiran West

Somit ist nicht mehr eindeutig klar, dass die Adelsschicht im „Giselle“-Libretto deutsch ist.

Ursprünglich ging es hier wohl um eine Anspielung auf besetztes französisches Gebiet, denn die Winzer im Dorf tragen alle französische Namen, während die Adelsgesellschaft deutsche Namen hat.

Albert statt Albrecht könnte aber auch französisch klingen – und solchermaßen eine Vereinigung der Politik über den Heiratsmarkt andeuten.

Wie auch immer: Albert hat Glück im Unglück, denn Giselle setzt sich für ihn ein – obwohl sie an ihrer Liebe zu ihm starb.

Ihr erster Auftritt mit gehüpft routierenden Drehungen auf ganzer Fußsohle zeigt Carolina Agüero mit aller gebotenen ätherischen Brillanz.

Lichtwechsel, Stimmungswechsel. Manchmal wird das Licht orangerot, manchmal krass grau. Dann wieder nachtblau.

Und mitten im zweiten Akt wechselt auch der Duktus der Musik, was Simon Hewett mit dem Orchester gekonnt hörbar herausarbeitet.

Die Musik von Adolphe Adam illustriert alle Stadien der im 19. Jahrhundert „Tanzwut“ genannten Lust, sich ekstatisch an rhythmische Klänge hinzugeben.

Nachdem Hilarion von den Wilis in den Tod getrieben wurde (Konstantin Tselikov „stirbt“ unter sprungmächtigen Qualen), wollen diese Anti-Elfen sich Albert vorknöpfen.

Aber Giselle stellt sich vor ihn – und zwar in jenem Kreidekreis, den ihre Mutter zu Beginn des weißen Akts dort gezogen hat.

Ein Menuett erschallt! Und die Wilis erleiden dazu bei John Neumeier ein modernes Zucken, sie winden sich im barock anmutenden Klanggefilde, sie kämpfen mit sich und gegen die Liebe – alle, bis auf Myrtha, die steif und unbewegt da steht.

Aber nach und nach positionieren die Wilis sich bedrohlich um das Paar im Kreis in der linken hinteren Bühnenecke.

Nur eine Novizin hat noch ein Solo ohne Musik: zuckend, barmend, innerlich zerrissen, bis auch sie sich zu den anderen stellt.

Und da steht Giselle vor ihrem Albert! Und ihre Liebe gewinnt die entscheidende Chance, ihn zu retten.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Noch einmal eine muntere Erinnerung an den ersten Akt von „Giselle“ mit dem Bauern-Pas-de-deux (Florencia Chinellato und Jacopo Bellussi) und einer wehmütigen Titelheldin (Carolina Agüero). Foto: Kiran West

Myrthas grüner Myrthenzweig, der eigentlich den Todesbefehl geben sollte, versagt. Der Zweig fällt dieser Königin der Nacht aus der Hand.

Denn die Liebe Giselles ist so stark, dass Myrtha ihr Recht geben muss: Giselle darf versuchen, ihrem Liebsten das Leben zu retten.

Immerhin hat er bereut. Und er kam – sehr mutig – zu ihr ans Grab, trotz des Risikos, dort zu Tode gebracht zu werden.

Albert ist bereit zu sühnen.

Giselle hilft ihm nur zu gern. Sie tanzen und tanzen und tanzen, er springt seine Entrechats schier ohne Ende, sie ergeht sich in lyrisch-zärtlichen Posituren – bis der Morgen graut.

Albert ist dann knapp dem Erschöpfungstod entgangen. Aber er hat überlebt.

Giselle ist ein romantisches Ballett

Berückend entrückt: Alexandr Trusch und Carolina Agüero in „Giselle“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett im zweiten Akt. Foto: Kiran West

Giselle nimmt Abschied von dem Ermatteten.

Und am Ende ist die Blume, die der jetzt Geläuterte in der Hand hält, nicht mehr weiß, sondern rot… so knallrot wie die Zauberblume des Puck in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ (www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ein-sommernachtstraum-john-neumeier/).

Aber das ist ein anderes Märchen – eines, das bald in München beim Bayerischen Staatsballett (gecoacht von Ur-Puck Kevin Haigen und mit Ksenia Ryzhkova als Titania) wieder zu sehen ist.
Gisela Sonnenburg

Grundlegendes zu „Giselle“ bitte hier: 

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle/

www.hamburgballett.de

www.staatsballett.de

 

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