Warum sollte man sich das Ballett „Onegin“ nur ein einziges Mal pro Tag und Wochenende ansehen? Es hat einen hohen Suchtfaktor, und kaum jemand, der es einmal sah und sich begeistern ließ, belässt es dabei. Gleich zwei international renommierte Compagnien – das im weltweiten Vergleich eher kleine Hamburg Ballett und das wirklich große Bolschoi Theater in Moskau – bieten nun, am letzten Mai-Wochenende, beide die fabelhafte Gelegenheit zu einem „Onegin“-Marathon. Ob in Moskau oder in Hamburg: In den Metropolen kann man jetzt das Ballettdrama – das John Cranko in den 60er Jahren schuf und das wie kein anderes den immer noch aktuellen Zeitgeist der klassischen Liebe formuliert – sogar noch öfter als zwei Mal nacheinander am selben Tag ansehen. Nämlich mindestens drei Mal in zwei Tagen! Eine verlockende Offerte für echte Fans – und ganz Verrückte fliegen vielleicht sogar von einer Vorstellung zur nächsten zwischen Hamburg und Moskau hin und her.
Das Bolschoi lockt mit Weltstars: Am 29. Mai tanzen in Moskau Evgenia Obraztsova und Vladislav Lantratov die Hauptpartien. Evgenia ist eine stolze, feminine, sehr selbstbewusste, aber auch poetisch veranlagte Tatjana, die ihre Liebe zum melancholischen Dandy Onegin trefflich von ihrem glatt geölten Scheitel bis zur schön gestreckten Fußspitze ausdrücken kann. Jeder Atemzug als Tatjana stimmt bei ihr, sie hat sich die Rolle von Crankos tragisch Liebender regelrecht unter die Haut gebeamt. Auch die beiden „Hexensprünge“ im Schluss-Pas-de-deux, die technisch extrem schwer sind, gelingen ihr tadellos: Es handelt sich um vertikale Spagatsprünge, die aus dem Liegen und aus dem Stand heraus geschafft werden müssen, während der Partner die Ballerina nur an den Händen hält.
Evgenia Obratzsova ist denn auch eine der aktuell führenden „Onegin“-Tatjanen weltweit; neben Polina Semionova, die diese Rolle mit ungeheurer Emotion und exklusiver Technik darstellt. Polina tanzte Crankos Tatjana in allen Details stimmig ambivalent, aufregend verliebt und geschmeidig entschieden – diese Saison in Berlin und München.
Zurück nach Moskau. Evgenias Partner Vladislav Lantratov tanzt die Titelfigur „Onegin“ äußerst elegant, aber auch ungewohnt jugendlich. Sein Onegin ist weniger verdrossen und dekadent als vielmehr traurig von Grund auf. Seine Schönheit, die nicht nur in seinem in der Tat hübschen Gesicht wohnt, sondern vor allem auch in seinen Gliedmaßen, verleiht seinem „Onegin“ den Status eines erotisch intensiv wirkenden Einzelgängers und Außenseiters.
Männlicher, kraftvoller und traditioneller wird Evgenia am Abend des 30. Mai von Alexander Volchkov als „Onegin“ gepartnert. Er tanzte das Stück auch schon mit Diana Vishneva. Vishneva wiederum ist die einzige Tatjana, die ich kenne, die ganz am Ende, wenn sie sich für die brave Ehe mit ihrem Fürsten und gegen eine Liebschaft mit dem wilden Onegin entschieden hat, noch einmal den zerrissenen Brief von Onegin vom Boden aufliest. Während sie die Hände zu Fäusten ballt, fallen ihr die beiden Briefteile aus den Fingern… eine interessante Variation der weltberühmten Schlusspose von „Onegin“.
Nachmittags am 30. Mai tanzen Anastasia Goryacheva und Denis Rodkin die Hauptrollen in Moskau. Rodkin, der auch ein ausgezeichneter „Spartacus“ ist, hat jenes triebhafte Flair, das den Melancholiker Onegin zu einem ungezogenen Burschen macht – das ist durchaus wichtig, denn Onegin plant erst, Tatjana zu verführen, als sie bereits mit seinem Freund, dem Fürsten, verheiratet ist. Anastasia hingegen ist eine dynamisch-sportliche Tänzerin; sie erinnert an Natalia Osipova, deren Rolle in „Die Flammen von Paris“ sie auch übernahm. Ihre Tatjana ist mädchenhaft-keck und hat etwas Spontanes.
Die Musik von „Onegin“ ist bekanntlich eine Sache für sich. Die Grundlagen stammen von Peter I. Tschaikowski. Aber der mit John Cranko in Stuttgart zusammen arbeitende Komponist Kurt-Heinz Stolze hat sie neu arrangiert, collagiert und orchestriert – die Musik klingt daher wie Tschaikowski hoch zehn. Also: Schwelgerisch, dramatisch, pathetisch, romantisch, aber auch mit Dissonanzen durchsetzt, die indes getragen sind von bombastischen harmonischen Akkorden. Tschaikowski als filmische Bühnenmusik. Der Einfluss Wagners auf Tschaikowski findet sich dadurch betont – ein Sog entsteht, der zudem passgenau choreografiert wurde.
Der Dirigent in Moskau ist übrigens Pavel Sorokin, ein Bolschoi-Kind von Geburt an, denn seine Mutter war dort Sängerin, sein Vater Tänzer. Die Symbiose aus Ballett und Musik hat sich hier nahezu voraussagen lassen, denn Sorokin ist auf die Vermittlung der Noten ans Ballett und der Tänze ans Orchester spezialisiert. Seine Eltern hätten es sich nicht anders wünschen können!
In Hamburg dirigiert derweil James Tuggle, der im Hauptjob Musikdirektor des Stuttgarter Balletts ist. Musik aus dem späten 19. Jahrhundert ist die Spezialität des gebürtigen Amerikaners. „Onegin“ gehört zu seinem Standardrepertoire; schließlich wurde Crankos Ballett in Stuttgart uraufgeführt und gehört dort sozusagen zum festen Bestandteil des ballettösen Seins.
Die Besetzungen in Hamburg werden ergänzt von einem weiteren Ballett, nämlich der „Tatjana“, die John Neumeier 2014 nach derselben Romanvorlage schuf, nach welcher auch „Onegin“ entstand. „Tatjana“ wird musikalisch von Simon Hewett geleitet. Wie James Tuggle ist er in den USA geboren, und auch Hewett ist in Stuttgart fest engagiert, und zwar als Erster Kapellmeister. Dennoch ist er häufig zu Gast beim Hamburg Ballett. Und obwohl er auch im Operettenfach einen guten Ruf hat, belebt er die erst 2014 uraufgeführte Partitur von „Tatjana“, die aus der Feder der Neumeier-erprobten Komponistin Lera Auerbach stammt, meisterhaft.
Man sollte die Gelegenheit vor Ort nutzen und sich beide Ballette ansehen, die Alexander Puschkin mit seinem Versroman „Eugen Onegin“ (1833 erstveröffentlicht) anregte, also „Tatjana“ und „Onegin“. Hélène Bouchet, die Neumeiers Tatjana kreierte, tanzt sie Anfang Juni wieder; am 30. Mai ist sie nachmittags als deren Vorgängerin in Crankos „Onegin“ zu sehen.
Vor allem aber gibt es ein Debüt in Hamburg, auf das man gespannt sein darf: Anna Laudere tanzt am 26. Mai erstmals die Neumeier-„Tatjana“ – die Tatjana in Crankos „Onegin“ hat sie seit 2012 bereits gezeigt, ist diese Saison aber nicht dafür besetzt. Dafür tanzt Silvia Azzoni, die 2012 auch die Hamburger „Onegin“-Premiere leistete, jetzt zwei Mal in „Onegin“: am 29. Mai und am Abend des 30. Mai. Sie ist eine mitreißende Cranko-Tatjana, die weniger mit kalter Technik, als vielmehr mit Sanftheit und Anmut bezaubert. Ihr Gatte Alexandre Riabko machte als Onegin seit der Premiere eine Veränderung durch. Er hatte den zynischen Frackträger zunächst als ziemlich arrogant angelegt – sein Onegin der Hamburger Premiere war ein egoistisches Ekelpaket. Eine durchaus glaubwürdige, wenn auch nicht zwingende Interpretation. Seit letztem Jahr tanzt Riabko den Onegin differenzierter, leidensfähiger – und ermöglicht so auch in der wichtigen Schlussszene eine Identifikation mit ihm.
Hélène Bouchet wiederum schafft in Hamburg eine Darstellung der Tatjana in „Onegin“, die auf ihre Art herausragend ist: Ihr nimmt man sowohl die unmittelbare, jungmädchenhafte Faszination durch Onegin ab als auch den schweren Kampf mit sich selbst, den sie am Ende als gereifte Frau auszufechten hat. Fast hofft man, dass sie ihrem Galan da doch noch nachgibt: ein spannender Zwiespalt einer weiblichen Seele.
Es war von daher sicher kein Zufall, dass John Neumeier La Bouchet für die Kreation seiner neuen, modernen „Tatjana“ auswählte. Das Dreistundenballett setzt vor allem die subjektiven Perspektiven der Hauptpersonen um und mischt Epochen und Erzählstränge montageartig miteinander. Da die Neumeier-Ballette das Kern-Geschäft beim Hamburg Ballett sind, sei nochmals auf die gute Möglichkeit hingewiesen, sich beide Ballette – „Tatjana“ und „Onegin“ – in kurzem zeitlichen Abstand anzusehen.
„Onegin“ hat allerdings auf Ballettfans einen ähnlichen Effekt wie „Schwanensee“: Man kann davon nie genug bekommen. Die Geschichte thematisiert die klassische Zweierbeziehung und bietet drei verschiedene Modelle dazu an. Das Resümee der Geschichte ist letztlich tragisch: Die größten, stärksten, süßesten und auch bittersten Gefühle entwickelt jenes Paar, das keine Zukunft zusammen hat. Dafür ist die Leidenschaft hier ein offenbar lebenslanges festes Band zwischen den beiden, das unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein überstarkes Begehren manifestiert.
Tatjana, die belesene Landpomeranze, ist bereits ein spätes Mädchen, als sie Eugen Onegin trifft und sich ad hoc in den gewandten, gebildeten Mann verliebt. Auf einem Spaziergang erklärt er ihr sein Weltbild – und lässt sich, ganz Macho, von ihr in seinem Weltschmerz bewundern. Ihrer Liebe erteilt er aber eine Absage: zu reizlos einerseits und zu anständig andererseits erscheint sie ihm, dem verwöhnten Lebemann, der von der Heirat nie viel hielt.
Doch Tatjana gibt nicht auf. Sie schreibt ihm einen Liebesbrief und will ihn auch dann noch beeindrucken, als er ihr den Brief bereits zerrissen zurück gegeben hat. Aus Rache für ihr offensives Nachstellen flirtet er mit Tatjanas Schwester, die zugleich die Verlobte seines Freundes ist. Die Sache endet im Duell, in dem Onegin seinen Freund erschießt.
Zehn Jahre später ist Tatjana glücklich mit einem Fürsten verheiratet, als sie Onegin wieder trifft. Jetzt verliebt er sich in sie – und kündigt ihr in einem rückhaltlos vertraulichen Brief einen Besuch an. Stürmisch umwirbt er sie, und beinahe lässt sie sich hinreißen (zu was auch immer: zu bloßem Sex oder zum gemeinsamen Durchbrennen) – aber ihre Selbstachtung siegt, sie gibt Onegin seinen Brief zerrissen zurück und wirft ihn raus.
Allerdings leidet sie ebenso wie er unter diesem Entscheid zur Trennung, und ihre letzte große Geste – die geballten Fäuste vorn an der Rampe langsam zu senken – gleicht einem Sinnbild für ihr orgiastisch-heroisches, unterschwellig stark emotionales Schicksal.
Vieles von diesem Inhalt gibt es so nur im Ballett von Cranko. Sowohl die Vorlage von Puschkin als auch die Oper „Eugen Onegin“ von Tschaikowski als auch Neumeiers „Tatjana“ haben eigene Vorgänge innerer und äußerer Handlungen. Cranko aber kreierte sein Stück in zwei Arbeitsgängen (das Ballett premierte 1967 bereits in der überarbeiteten, heute gespielten Version, ohne Prolog, mit dem Schwerpunkt auf den vier Pas de deux der weiblichen Hauptperson). „Onegin“ hatte also Zeit, auszureifen und sich der Theaterpraxis anzupassen.
Von den drei vorgestellten Liebesmodellen in „Onegin“ scheitern zwei: die Liebe von Tatjana zu Onegin hält zwar lebenslang, aber nur, weil sie unerfüllt bleibt. Die von Onegin zu ihr entsteht zu spät, um noch realisiert zu werden. Das Hauptpaar ist somit blamiert: wahre Liebe als unmöglich darzustellen, ist offenbar seine heimliche Aufgabe.
Das an sich glückliche Pärchen Olga und Lenski (Tatjanas Schwester und Onegins Freund) hingegen trennt der Tod, und es ist ein Tod, der im weiteren Sinn von Onegins und Tatjanas Konflikten verursacht wird. Die Verklammerung des Unglücks des Hauptpaares bis hinein ins dichteste Glück des Nebenpaares scheint hier von Puschkin bereits vollends angelegt, wird aber durch die musikalischen und tänzerischen Parallelen der Paare in Crankos „Onegin“ nochmals unterstrichen.
Das dritte Liebesmodell scheint jedoch Erfolg zu versprechen: Fürst Gremin – eine durchaus beachtenswerte Rolle, und sie verspricht viel Applaus, obwohl außer einem Pas de deux nur wenig zu tun ist – ehrt und liebt Tatjana, obwohl oder gerade weil die beiden keine Kinder haben und somit dem „normalen“ Familienleben nicht entsprechen.
Der Fürst und seine Fürstin Tatjana stehen für die standesgemäße und beständige Liebe, sie stehen für das Glück unter Menschen, die sich ähnlich sind, und ihre Liebe schimmert vor dem sozialen Hintergrund des Reichtums in allen goldenen Farben. Die Harmonie, in der Eheleute leben sollten, wird dadurch begünstigt, aber auch durch die offenbar bedingungslose und besonnene Liebe des Fürsten zu seiner Frau. So wird er keineswegs rasend eifersüchtig, als Onegin an seinem Hof auftaucht. Im Gegenteil: Er traut seiner Frau zu, das Richtige zu tun, was immer das sei. Man ist versucht, ihre Verbindung eine „Freundschaftsehe“ zu nennen.
Nun mag man sich fragen, wie es aber überhaupt sein kann, dass die so stark und dauerhaft in Onegin verliebte Tatjana in der Lage ist, einen anderen Mann zu heiraten und zu lieben. Als Antwort wird gern die Realität des 19. Jahrhunderts angeführt: um finanziell und sozial versorgt zu sein, musste Tatjana heiraten.
Es ist aber auch denkbar, dass sie nach dem Duell ganz genau kapiert hat, dass Onegin für sie nicht mehr in Frage kommt. Selbst wenn er gewollt hätte – als Mörder des Verlobten ihrer Schwester wäre er in ihrer Familie niemals mehr willkommen gewesen. Und auch ihr eigenes Herz mag zuviel Zwiespalt empfunden haben, nachdem der Tod von Lenski die Verbindung verunmöglichte. Ist Onegin nicht eindeutig zu brutal, zu egoistisch, zu rabiat für sie? Und was hat er ihr zu geben? Vermutlich nicht mal Treue, denn seine Promiskuität klingt bereits bei Puschkin an und ist in Crankos Ballett relativ deutlich ausformuliert.
Dass Tatjana Onegin dennoch liebt, steht außer Frage. In der Oper singt die männliche Titelfigur sogar wörtlich: „Du liebst ja doch nur mich!“ Und dem vermag sie nicht zu widersprechen.
Aber: Sie schützt sich selbst, vielleicht auch aus einem durch die Ehe mit dem Fürsten gewonnenen Stolz heraus, wenn sie Onegin entsagt. Denn was wäre das auch für eine Liebschaft geworden mit einem Mann, der grundsätzlich nicht heiraten will, im 19. Jahrhundert?
Obwohl die Sexualmoral heute viel lockerer ist, stellt sich die Frage, ob es eine Tatjana, einen Fürsten, einen Onegin auch heutzutage noch so oder in einer ähnlichen Konstellation geben kann. Dem Erfolg nach, den das Ballett weltweit verzeichnet, muss man vermuten: oh ja!
Gisela Sonnenburg
Am 26. Mai, am 3., 4., 5. und 6. Juni: „Tatjana“ in der Hamburgischen Staatsoper
Am 29. und 30. Mai (zwei Mal): „Onegin“ in der Hamburgischen Staatsoper
Am 29., 30. (zwei Mal) und 31. Mai am Bolschoi-Theater in Moskau: „Onegin“
Und vom 6. bis zum 9. Juni gibt es auch in Stuttgart wieder „Onegin“-Vorstellungen: Mit Friedemann Vogel und Jason Reilly alternierend in der Titelpartie!
Am 14. Juni gibt es zudem eine Doppelvorstellung „Onegin“ in München beim Bayerischen Staatsballett!
Mehr zu „Onegin“ zum Beispiel hier:
www.ballett-journal.de/ein-traumpaar-und-doch-ein-anti-paar/
Und hier:
www.ballett-journal.de/staatsballett-onegin/
Sowie in den Essays, auf die dort die Links verweisen.
Aber auch hier:
www.ballett-journal.de/onegin-dudek/
Zu „Tatjana“ gibt es hier mehr:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-neubesetzung/
Sowie hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-moskau/
Die Links zu den Compagnien: