
Im ersten Akt finden Armand (Edvin Revazov, links) und Marguerite (Ida Praetorius, in Dunkellila) zusammen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Wenn die „Kameliendame“ Marguerite Gautier stirbt, geht mit ihr eine ganze Welt zugrunde. Denn der romantische Schmelz einer Ära, in der Frauen sich zwar prostituieren müssen, dafür aber moralisch Heldinnen sind, vergeht mit der Königin dieser Philosophie, die am stärksten und am schönsten dieses Ideal verkörperte. Im Paris des 19. Jahrhunderts ersann der Romancier Alexandre Dumas der Jüngere diese märchenhafte Figur einer Frau, die erst nur Geld und gesellschaftlichen Aufstieg will, sich dann aber doch am liebsten der wahren großen Liebe zu einem Mann hingeben möchte. Ida Praetorius kennt und beherrscht die Partie der Marguerite im Ballett „Die Kameliendame“ von John Neumeier seit über zehn Jahren. Sie tanzte sie früher in Kopenhagen, jetzt auch beim Hamburg Ballett. Damals bot sie eine betont mädchenhafte Interpretation, heute ist sie ganz Frau, wenn sie die meist schulterfreien edlen Roben der „Kameliendame“ trägt. Mit Edvin Revazov hat sie einen erfahrenen, gerade als Marguerites Liebhaber Armand versierten Bühnenpartner. Revazov gastierte übrigens auch schon beim Bolschoi Ballett in der „Kameliendame“, mit der Jahrhundertballerina Svetlana Zakharova an seiner Seite. Das unkaputtbare Meisterwerk von 1978, das 1981 überarbeitet und komplettiert wurde, sorgt derzeit in Hamburg für erneute Triumphe.
Zart und biegsam, expressiv und elegant ergibt sich Ida Praetorius als Marguerite dem Charme des um sie werbenden Armand von Edvin Revazov. Kraftvoll und doch zunächst auch schamhaft und schüchtern, dann zunehmend dominant erobert er die Kurtisane, von der tout Paris wusste, wem sie schon alles gehört hat. Revazov beherrscht jeden Blick, jeden Sprung, jede Hebung, jede Pirouette, jede Liebeserklärung, jedes Begehren, jede Ängstlichkeit und jeden Wutausbruch dieser Rolle par excellence. Er kann seiner Partnerin viel geben, sie unterstützen, sie mitnehmen in seine tänzerische Verliebtheit.

Im „Weißen Pas de deux“, in dem das aus zarten Chiffonlagen bestehende Kleid auch schon mal reißt, beschwören Marguerite und Armand ihr höchstes Liebesglück. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Die drei großen Pas de deux – zu Beginn, auf dem Höhepunkt und nach dem eigentlichen Ende ihres Liebesglücks – tanzen die beiden mit so viel Herz und Übereinstimmung, dass man glauben könnte, sie seien bereits langjährig als Bühnenpaar verkuppelt.
Bisher hatte Revazov allerdings dieses Stück stets mit seiner Ehefrau Anna Laudere in Hamburg und auch mal in München getanzt, seit ihrem umjubelten Debüt 2012. Diese Saison tanzt Laudere jedoch ihre „Kameliendame“ mit dem jungen Alessandro Frola, der damit als Gast zum Hamburg Ballett zurückkehrt. Als Gala-Glanzstück haben die beiden den „Weißen Pas de deux“, den vom großen stillen Glück auf dem Lande, bereits zusammen getanzt. Heute Abend haben sie ihr Hamburger Debüt in dieser Kombination mit dem Stück.

In Shanghai tanzt derweil das Stuttgarter Ballett beim Gastspiel auch „Die Kameliendame“ von Neumeier – hier Rocio Aleman im „Schwarzen Pas de deux“, fotografiert von Roman Novitzky. Ein international begehrtes Werk!
Aber zurück zu Praetorius und Revazov. Ihre Entwicklung des Paares, das gegen die Konventionen mehr als heimliches, nächtliches Vergnügen miteinander teilen will, explodiert regelrecht in den großen Pas de deux, aus denen ihre Liebe die Schubkraft bezieht.
Die gesellschaftlichen Grenzen, die ihrem Glück gesetzt sind, finden sich von einem Personal verkörpert, das in den immer noch berauschend wirkenden Kostümen von Jürgen Rose die grotesk bunte Welt des gehobenen Amüsements der Großstädter illustriert.

Ana Torrequebrada tanzt virtuos die nicht einfache Rolle der Prudence, hier beim scherzhaft-erotischen Tanz im ländlichen Idyll. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Als da sind: Matias Oberlin als Armands Freund und Fast-Kuppler Gaston, der sich mit Marguerites Branchengefährtin Prudence (köstlich leichtlebig und nur beim Applaus mal ausrutschend: Ana Torrequebrada) die Zeit vertreibt.
Xue Lin und Daniele Bonelli verkörpern mit Manon Lescaut und dem Chevalier Des Grieux in nostalgischem Barockviolett das Vorläuferpaar von Marguerite und Armand.
Von allen drei Besetzungen der Olympia, der keck-frivolen, katzenhaft-gespreizten Konkurrentin von Marguerite, ist die am Abend des 13.11.25 vielleicht besonders interessant: Emilie Mazon wandelt darin auf den Spuren ihrer Mutter, die diese Rolle vor rund vierzig Jahren tanzte. Aber auch Eleanor Broughton und Olivia Betteridge treffen das leicht boshafte Kalkül dieses Nüttchens sicher ganz schön.

Zum Vergleich: Damals schien alles noch so viel unbeschwerter. Alban Lendorf und Ida Praetorius 2014 im „Weißen Pas de deux“ der „Kameliendame“ von John Neumeier – Foto: Gisela Sonnenburg
Markus Lehtinen jedenfalls weiß für alle Besetzungen das Philharmonische Staatsorchester Hamburg zu motivieren, zu leiten, zu Bestleistungen zu bringen. Die wogend emotionale Klavier- und Orchestermusik von Frédéric Chopin hat indes nichts anderes verdient.
Und wer danach oder am nächsten Tag noch die Zeit dazu findet, dem sei der Roman zum Nachlesen ans Herz gelegt. Dieser beginnt mit einem vielleicht nur scheinbaren Bekenntnis des Autoren, das ironisch auf seine eigene Jugend anspielt, da sein Vater – der Romancier des „Grafen von Montechristo“ – ein um so vieles mehr erfahrener Schriftsteller war: „Ich bin der Meinung, dass man erst nach langer Beobachtung der Menschen imstande ist, Charaktere zu erfinden und zu gestalten, ebenso wie man erst durch langjähriges Studium befähigt wird, eine andere Sprache zu sprechen.“

Xu Lin als Manon Lescaut ist die anmutige literarische Vorläuferin der Kameliendame. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Um die Kunst des Balletts, die der Figurenführung und die Musikalität des Tanzes zu studieren, eignet sich „Die Kameliendame“ von Neumeier allerdings immer wieder ganz vorzüglich. Viel Genuss sei allen gewünscht, die die Folgevorstellungen besuchen!
Gisela Sonnenburg / Anonymous
www.hamburgballett.die-hamburgische-staatsoper.de

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