Weihnachtsmannpremiere Die „Tschaikowski-Ouvertüren“ von Alexei Ratmansky stehen beim Bayerischen Staatsballett kurz vor der Uraufführung

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Serge Honegger (links) und Alexei Ratmansky auf der Bühne vom Nationaltheater in München bei der „Einführungsmatinee“ zu den „Tschaikowski-Ouvertüren“. Foto: Ksenia Orlova

Es ist schon ein Wagnis, eine Premiere auf den 23. Dezember zu legen. Egal, welche Religion man selbst hat – die meisten Menschen routieren mit hektischen Vorbereitungen und Einkäufen, um Heiligabend und den Festtagen zu begegnen. Weihnachtsmärkte gibt es sogar in Dubai, und auch die meisten jüdischen Familien beschenken sich in Europa zur Adventszeit mit Süßigkeiten und feiern zusätzlich zu Chanukka Weihnachten als säkulares Fest. Haben die Ballettfans da überhaupt Zeit, so kurz vor Weihnachten in ein ihnen unbekanntes Ballett zu gehen? Was meint Münchens Ballettdirektor Laurent Hilaire dazu? Doch er ließ sich bei der „Einführungsmatinee“ am Sonntag im Nationaltheater nicht blicken. Dafür warteten Choreograf Alexei Ratmansky und der junge Dramaturg Serge Honegger auf, flankiert von Tänzerinnen und Tänzern vom Bayerischen Staatsballett sowie von einem Pianisten und einem Sängerduo. Nur sieben Wochen, so erfährt man, hatten die Künstler Zeit, um die Choreografie, Dramaturgie und Ausstattung zu erstellen. Eigentlich seltsam. Denn die Pläne zum neuen Programm stammen noch von Hilaires Vorgänger Igor Zelensky. Man hatte also theoretisch viele Monate lang Zeit. Normalerweise entsteht so ein Abend in Etappen, die sich manchmal sogar auf zwei Jahre erstrecken. Dennoch begannen die Proben in diesem Fall erst vor knapp zwei Monaten. Entsprechend ist alles ein bisschen mit der heißen Nadel gestrickt. Weihnachtlich hektisch, sozusagen. Wie auch immer: „Tschaikowski-Ouvertüren“ heißt der Abend, der fünf Musikstücke von Peter I. Tschaikowsky vereint.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Modern gemachte Tutus für die Damenwelt, fesh designte Hamlet-Westen für den Herrn: Jean-Marc Puissant ließ sich Einiges für die Kostüme der „Tschaikowski-Ouvertüren“ beim Bayerischen Staatsballett einfallen. Foto: Serghei Gherciu 

Die ballettafine Klangwelt des Komponisten lebt von differenzierten, nuancenreichen Gefühlsaufwallungen; schwelgerische Euphorie wechselt mit leidenschaftlichen Sehnsuchtsmotiven.

Auf der Bühne erläutert Serge Honegger, dass die Musik der drei sinfonischen Ouvertüren von Tschaikowsky als Erstes feststand, als man Alexei Ratmansky fragte, was er für München kreieren wolle. Alle drei Stücke sind je einem dramatischen Werk von William Shakespeare gewidmet. Sie sind aber keine Ouvertüren im Sinne eines Vorspiels, sondern Ouvertüren im Sinne eines aus einem Satz bestehenden Konzertwerks.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Drei Paare üben die Liebe in dem „Romeo“-Teil der „Tschaikowski-Ouvertüren“ von Alexei Ratmansky. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Ksenia Orlova

Es sind sozusagen programmatisch inspirierte Miniatur-Sinfonien. Eine dieser Ouvertüren („Romeo und Julia“) ist im Ballett bereits sehr bekannt, und zwar in der Bearbeitung von Kurt-Heinz Stolze als berauschende Musik für John Crankos Ballett „Onegin“. Bei Ratmansky hört man jetzt das Original plus das Gesangsduett, das Sergej Tanejev nach Tschaikowskys Tod nach Notizen des Meisters fertig stellte.

Weil man aber noch einige weitere Minuten des Theaterabends füllen wollte, suchte man ein ergänzendes Tschaikowsky-Werk – und kam auf die Elegie in G-Dur, die Tschaikowsky dem Schauspieler Iwan Samarin gewidmet hat.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Osiel Gouneo als Hahn im Korb, an Ratmanskys „Namouna“ erinnernd, in den „Tschaikowski-Ouvertüren“: Foto: Nicholas MacKay

Was Serge Honegger nicht sagt: Auch dieses Musikstück ist im Ballett bereits gut bekannt: George Balanchine schuf einen Mondschein-Tanz namens „Elegy“ mit diesen zehn romantisch-wehmütigen Minuten, für einen Galan und sieben Grazien.

Jetzt ist dieses musikalisch einprägsame Werk der Einstieg in den neuen Ratmansky-Abend. Der Bühnenhintergrund dazu wird dunkel sein, schwarz, soviel wurde schon verraten. Jean-Marc Puissant, der Ausstatter, erhielt für seine pointierten Designs schon Preise und sollte auch dieses Mal nicht enttäuschen.

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Das zweite Stück heißt nach der im Auszug verwendeten Ouvertüre „Hamlet“: Dem durchaus tragischen Thema angemessen, werden schwarze Schleier die Bühne dominieren. Münchens Starballerino Osiel Gouneo als Hamlet und Sofia Ivanova-Skoblikova als Ophelia zeigten bei der Matinee schon mal einen Pas de deux, an dem mit Ratmansky auch live gearbeitet wurde.

Diese beiden sind ja gar kein glückliches Paar bei Shakespeare, sondern von Beginn an der Inbegriff aller Missverständnisse, die es in der Liebe geben kann. Bis hin zu ihrem Wahn und Tod.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Hamlet (Osiel Gouneo) gedankenvoll am Boden… zu sehen in den „Tschaikowski-Ouvertüren“ von Alexei Ratmansky. Foto: Nicholas MacKay

Man kann Hamlet auch als Inbegriff des unverstandenen, verhinderten Künstlers sehen, der überall in der Gesellschaft aneckt und durch Unrecht zum Außenseitertum verdammt ist. Bis zu seinem Tod und sogar darüber hinaus.

Tschaikowsky fühlte sich enorm als Außenseiter. Er und sein Bruder Modest waren beide homosexuell, und auch, wenn es im 19. Jahrhundert bereits Bordelle für Schwule gab – offiziell durfte keine Rede davon sein.

Ralf Pfleger meint es gut mit Tschaikowskis schwulen Fans.

Ein etwas anderer Tschaikowski wurde uns vor Jahren in einer Doku auf arte vorgestellt – Filmemacher Ralf Pfleger sah ihn ganz heutig. Foto: Videostill / arte

Hinzu kamen chronische Geldsorgen, die Tschaikowsky aufs Gemüt drückten. Er war alles andere als leichtherzig. Dafür war er der wohl am meisten selbstkritische große Künstler, der je Kompositionen verfasst hat.

Sein Stil, von Richard Wagner geprägt, machte ihn zu einem der weltweit bedeutendsten Vertreter der Romantik. Als er im Alter von 53 Jahren starb, war das ein frei gewählter Tod: Er hatte sich mit Cholera-Bazillen durch ein Glas mit nicht abgekochtem Wasser angesteckt, und aus seinem Tagebuch ging hervor, dass er panische Angst hatte, kompositorisch den eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen zu können, und dass er sein Leben darum als sinnentleert betrachtete.

Schon vorher hatte er versucht, durch Krankheit ins Jenseits zu entkommen: Ein Bad in der eiskalten Newa überlebte Tschaikowsky allerdings, die zugezogene Lungenentzündung wurde kuriert. Bei der Cholera wusste er, dass die Chancen zu überleben sehr gering waren.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Osiel Gouneo und Sofia Ivanova-Skoblikova proben „Hamlet“ mit Ratmansky – beim Bayerischen Staatsballett auf der Matinee. Foto: Ksenia Orlova

Kehren wir nach diesem kleinen Ausflug ins Archiv ins Nationaltheater zur Matinee zurück:

Der dritte Teil der „Tschaikowski-Ouvertüren“ ist von Shakespeares letztem Theaterstück inspiriert, vom „Sturm“. Alexei Ratmansky verspricht hierfür eine Art ballet blanc.

Im „Sturm“ von Shakespeare geht es um den Abschied eines Magiers von der großen Bühne der Welt: Prospero, die Hauptperson, zaubert noch einmal, ein letztes Mal, damit sich dank eines großen Sturms viele Verhältnisse klären, Gerechtigkeit geschaffen und neue Bande geknüpft werden können.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Die drei Romeo-Paare aus Ratmanskys „Tschaikowski-Ouvertüren“ halten zusammen wie eine Clique. Foto: Wilfried Hösl

Doch danach zieht sich Prospero aufs Altenteil zurück. William Shakespeare meinte  tatsächlich sich selbst mit dem alten, weisen Prospero – ganz bewusst verfasste er dieses  letzte Stück, das im November 1611 erstmals aufgeführt wurde, bevor der Dramatiker fünf Jahre später verstarb.

In Tschaikowskys Leben spielte der „Sturm“ insofern eine Rolle, als durch seine 1872 komponierte gleichnamige Ouvertüre seine spätere Hauptförderin Nadeshda von Meck auf ihn aufmerksam wurde.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Noch einmal ein Blick auf die drei Paare aus „Romeo und Julia“ in den „Tschaikowski-Ouvertüren“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto von der Matinee: Ksenia Orlova

Schließlich stehen „Romeo und Julia“ am Ende des Ballettabends und bringen vermutlich den Höhepunkt mit sich: Aber gleich drei junge, verliebte Paare lässt Ratmansky zu der beliebten Liebesmelodie tanzen. Manchmal synchron, manchmal im Kanon, geben sie sich weichen, fließenden Bewegungen hin – und Ratmansky probte live auf der Bühne vom Nationaltheater die detaillierten Posen und Armhaltungen.

Präzision und Formschönheit in den Linien prägen oft Ratmanskys Werk, verbunden mit Musikalität und gelegentlicher Originalität bei neu geschöpften Figuren.

„Eine Arabesque ist erstmal nur eine Arabesque“, sagt er auf Englisch während der Probe (ohne Übersetzung im Theater), „aber aus ihr kann etwas ganz anderes werden“. Warum Ratmansky dann eine Art Kriegs- oder Kampfhaltung aus der eleganten Ballettübung mit dem hinten hoch gestreckten Bein macht, bleibt ein Rätsel. Denn vor allem dient Ballett der Ausdruckskraft innerer edler Gefühle, weniger dem Hass.

Aber Julian MacKay fällt mit seinem freundlichen Naturell im Tanz immer auf, so auch hier.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Alexei Ratmansky bei einer Bühnenprobe für die „Tschaikowski-Ouvertüren“ beim Bayerischen Staatsballett, fotografisch prägnant eingefangen von Nicholas MacKay.

Shale Wagman und Antonio Casalinho waren zwar angekündigt, probten dann aber doch nicht mit – man darf neugierig sein auf die versammelte Tänzerschaft bei den Aufführungen.

Laut Serge Honegger handelt es sich bei dem Abend um „semi-abstrakte“ Ballette. Die von Shakespeare stammenden Geschichten werden nämlich nicht neu erzählt, aber es soll Momente und Situationen geben, die versierte Theaterbesucher wiedererkennen können.

Alexei Ratmansky zieht nun einen altbekannten Werbespruch von Künstlern aus der Westentasche: Er wolle nicht viel sagen, vielmehr solle der Tanz ohne Worte für sich selbst stehen.

Jeder nicht gut vorbereitete Kreative benutzt diese Ausrede, zumal, wenn ihm kein Konzept für ein Werk einfiel, er sich aber vertraglich schon zur Lieferung verpflichtet hatte.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Liebe und Leidenschaft – immer ein Thema im Ballett, so auch hier, in den „Tschaikowski-Ouvertüren“ von Alexei Ratmansky. Foto: Serghei Gherciu

Ein ganz bestimmter Künstler freut sich aber ganz gewiss über den Münchner Termin: Dirigent Mikhail Agrest. Ihm hatte Alexei Ratmansky aus Solidarität letztes Jahr um diese Zeit diese Beschäftigung zugesagt und dann beim Bayerischen Staatsballett auch eingeholt. Denn Agrest war damals in seinem Posten als Musikdirektor beim Stuttgarter Ballett fristlos gekündigt worden. Mittlerweile wurde diese Kündigung nach einem Gerichtsurteil zwar ungültig. Aber faktisch lässt man Agrest noch immer nicht in Stuttgart arbeiten. Auch wenn man ihn bezahlen muss.

Reid Anderson feuerte Mikhail Agrest beim Stuttgarter Ballett

Mikhail Agrest, wie man ihn schätzt: ein souveräner Könner der Klassik und ein famoser Ballettbegleiter. Foto: Daniil Rabovsky

Tschaikowsky zu dirigieren, wird Agrest erfreuen, ebenso wie Ratmansky das Choreografieren zu dieser fantastischen Musik beglückt. Beide sind mit den Musiken des grandiosen russischen Komponisten in Russland aufgewachsen und sehr vertraut.

Agrest hat sich gerade als Ballettbegleiter, der auf die Belange der Tanzenden Rücksicht nimmt, mit verschiedenen Orchestern sehr profiliert.

Bei der Matinee spielt Dmitry Mayboroda am Piano. Auch er ist – wie Ratmansky und Agrest – Russland eigentlich stark verbunden, da durch die hervorragenden musischen Ausbildungen dort Profi-Künstler auch ohne reiche Eltern herangezogen werden.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Menschlicher Zusammenhalt von Paaren als moderne Ballettpose, wenn auch wohl ohne Konzept, wunderschön getanzt zu sehen in „Tschaikowski-Ouvertüren“ von Alexei Ratmansky. Foto: Nicholas MacKay

Und auch die beiden Nachwuchs-Sänger, die zum Abschluss der Matinee den „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“-Song schmettern (Elmira Karakhanova, ein hervorragender Sopran, und Aleksey Kursanov, Tenor), wurden in Moskau ausgebildet.

Man könnte also fast von einer Russen-im-Exil-Premiere sprechen.

Da kommt nochmal Julian MacKay ins Spiel: Er kam als 13-Jähriger nach Moskau, um am Bolschoi ausgebildet zu werden. Der US-Amerikaner ist ein künstlerischer Wahl-Russe, sozusagen.

"Tschaikowski-Ouvertüren" von Ratmansky

Alexei Ratmansky bei einer Kreationsprobe für die „Tschaikowski-Ouvertüren“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto aus dem Ballettsaal: Nicholas MacKay

Welche kreative Idee jedoch Alexei Ratmansky dazu trieb, sich den „Tschaikowski-Ouvertüren“ zu widmen, muss wohl jede und jeder mit viel good will selbst herausfinden.

Das werbefloskelhafte Versprechen von Serge Honegger, hier würde „jeder auf seine Kosten kommen“, scheint derweil etwas übertrieben. Eine im Zeichen des  Weihnachtsmanns lässliche Sünde…
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.bayerisches-staatsballett.de

 

 

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