Der Stellvertretende Ballettdirektor hat alle Hände voll zu tun. Sein Assistent kommt herein, eine bildnerische Vorlage muss stark verkleinert werden, und niemand weiß, wie das gehen soll. „Dass müsst ihr von DIN A 4 auf DIN A 5 verkleinern, das ist doch ganz klar“, sagt Wolfgang Oberender, der für diesen Job eigentlich überqualifiziert ist. Er ist Ballettdramaturg, zudem einer der beiden Stellvertreter von Ivan Liška, Direktor beim Bayerischen Staatsballett. Zwischen all den verschiedenen Tätigkeiten – wie Programmbeiträge schreiben, Moderationen vorbereiten und Grafiken beschauen – versucht Oberender, mir auch noch ein Interview zu geben. Seine Multitasking-Begabung ist gefordert! Der Grund des aktuellen Wirbels in München ist staatstragend: Das Staatsballett feiert mit der anstehenden FestWoche 2015 sein 25-jähriges Bestehen.
„Vielfalt und Stringenz“ – diese Schlagworte fallen Oberender ein, wenn er auf das letzte ballettöse Vierteljahrhundert an der Isar zurück schaut: „Das Konzept aus klassischen und modernen Stücken war hier schon immer sehr durchdacht. Schon von den ersten Premieren an.“ Eine solche bestand 1992, als Oberender gerade zum Team des Staatsballetts gestoßen war, aus einem dreiteiligen Abend – mit Werken von Angelin Preljocaj, Ohad Naharin und Hans van Manen. Preljocaj und Naharin, die beide heute ihren festen Stellenwert im zeitgenössischen Ballett haben, waren damals noch Newcomer, während van Manen als etablierter Superstar der Choreografie galt. Oberender ist heute noch ganz entflammt, wenn er davon erzählt: wie stark die drei verschiedenen Stücke korrespondierten und den Zuschauer in eine Mischung aus Harmonie und Widerspruch stürzten. Man war ja so postmodern damals!
Einen zeitgenössischen „Dreiklang an Ergänzung“ gibt es auch in dieser Saison, gleich zu Beginn der diesjährigen FestWoche des Bayerischen Staatsballetts: „Portrait Richard Siegal. Noise – Signal – Silence“ heißt der Abend, der am Samstag premiert. Der Themenkreis um „Lärm, Zeichen, Ruhe“ aus dem Titel spricht bereits für sich, zumal, wenn man Siegals Hang zur Furiosität erkennt. Eine „temporeich-virtuose Werkschau“ des amerikanischen Choreografen und „Kunstverschmelzers“ Siegal wird denn auch versprochen. Und: Die Werke sind brandaktuell.
Siegals Stück „Unitxt“, schon 2013 fürs Bayerische Staatsballett kreiert, ist da tatsächlich das älteste der Trinität. Wie das Wortspiel über den verloren gehenden „Einheitstext“ im Titel bereits vermuten lässt, handelt es sich um ein außerordentlich vertrackt-brillantes Stück. Der Industriedesigner Konstantin Grcic trug hier maßgeblich nicht nur zur Ästhetik, sondern auch zur Technik der Choreo bei: mit hilfreichen Schlaufen, in denen die Tänzerinnen eingehängt sind, damit sie bei nachgerade artistischen Unterfangen nicht mehr auf ihre eigene Balance der Zehenspitzen angewiesen sind. Wie frei improvisierend können sie der Schwerkraft eine Nase drehen. Schwupps, so irrwitzig-befreiend kann die Techno-Moderne sein.
Im stärksten Spannungsfeld des Abends steht dem gegenüber die fast klassisch anmutende Uraufführung von Richard Siegal: „In A Landscape“ zelebriert eine neuartige Form des Meditativ-Konzisen zu Musik von John Cage, diesem Evergreener der Avantgardisten. An Details ist dazu vor der Premiere aber nichts zu erfahren, denn Siegal gehört zu den großen Schweigern der Branche. Immerhin verrät das umfassende, so akribisch wie inspiriert erstellte Programmheft des Staatsballett – anders als das deutsche und amerikanische Internet zusammen – Siegals Geburtsort in den USA (nämlich North Carolina). Zu Siegals Ausbildung ist aber irgendwie gar nichts herauszukriegen. Von 1997 bis 2004 war er dann Tänzer bei William Forsythe in Frankfurt / Main, was ihn maßgeblich geprägt hat.
Dazu sei mal eine grundsätzliche Reflexion eingestreut, als Appell an die Künstler gemeint: In unserem Zeitalter – in dem Transparenz eine der höchsten aller Tugenden ist – wirken Verschleierungstaktiken via Vita nicht wirklich fortschrittlich. Künstler – und das gilt auch für Ballerinen und Ballerinos – sollten sich überlegen, wem sie mit dem Verschweigen ihrer Biografien einen Gefallen tun. Wem nützen Vernebelung und Mystifikation? Eben. Den Dunkelmännern. Den Lügnern. Den Betrügern. Denen, die in der bunten Werbewelt erzählen, Fastfood aus ekligen Schnellrestaurants mache gesund und schön. Und natürlich jung.
Also: Die Verweigerung von biografischen Eckdaten hat keinerlei beschönigenden Nimbus mehr wie noch vor 150 Jahren, als Theaterkünstler grundsätzlich auch mal wie Prostituierte behandelt wurden. Vielmehr mutet es heute peinlich und sogar lächerlich an, wenn Künstler über ihr wahres Alter schweigen, vor allem, wenn man bedenkt, welche Wundermittel der Schönheitsindustrie die meisten prominenten Menschen heutzutage locker um zehn bis dreißig Jahre jünger erscheinen lassen. Angesichts so fröhlicher Resultate statt hässlicher Runzeln im Gesicht kann man doch erst recht zu seinen Lenzen stehen!
Viele Künstler tun das ja auch. Ivan Liška zum Beispiel, der Münchner Ballettdirektor, hat noch nie versucht, seinen Geburtsjahrgang 1950 zu verleugnen. Er hatte es im übrigen auch nie nötig! Noch heute ein schöner Mann, organisiert und initiiert er seit rund siebzehn Jahren mit der nötigen Profession und Berufung im Blut. Als er 1998 das Direktorat des Bayerischen Staatsballetts von Konstanze Vernon übernahm, war er bereits eine Legende der Ballettwelt: vor allem als in Prag ausgebildeter, von Erich Walter, Dieter Gackstetter und vor allem von John Neumeier geprägter Tänzer ist Liška jedem als herausragend gut im Gedächtnis, der mit ihm mal zu tun hatte oder ihn auf der Bühne erlebte. Während die meisten Starballerinen und –ballerinos zumindest ein Stück weit polarisieren und neben sie abgöttisch anbetenden Fans auch wahre Hasser haben, ist Ivan Liška eine unumstrittene Kultfigur an Licht und Aura.
Diese vereinende Kraft bewährt sich auch bei der Programmkonzeption des Staatsballetts. Das Repertoire spricht Bände: Da sind einerseits die „echten“ Klassiker. Wie „La Bayadère“ (in der Inszenierung von Patrice Bart), „Le Corsaire“ (in der Choreografie von Ivan Liška) und „Paquita“ (in der Rekonstruktion der Petipa’schen Originalchoreografie durch Alexei Ratmansky und Doug Fullington). Da sind des weiteren: die Klassiker der Moderne, wie John Crankos „Onegin“ und Leonid Massines „Choreartium“, wie John Neumeiers „Sommernachtstraum“, Neumeiers „Kameliendame“ und sein „Illusionen – wie Schwanensee“. Und da sind die ganz neuen, jungen Stücke, eben solche wie die von Richard Siegal, aber auch von Terence Kohler und Jörg Mannes. So viel Mut zu Neuem ist bei Ivan Liška – zumal als Direktor einer bajuwarischen Einrichtung – mit einem Extrapluspunkt zu bedanken!
Mutig ist auch das dritte Stück des Siegal-Abends: Das „Metric Dozen“, das „metrische Dutzend“, beschäftigt sich konkret-tänzerisch mit einer numerischen Mathematik, die anti-dezimal funktioniert – und statt der Zahl Zehn die Zwölf zum Maß aller Dinge hat. Ein wirklich spannendes Dutzend also! Aus Verzwicktheit und Besessenheit weiß Siegal ja stets die schönsten Tänze zu flechten – und dieses fliegende Elementarteilchen seiner Bewegungskunst kreierte er 2014 in Marseille.
„Noise – Signal – Silence“ – in welcher Reihenfolge die Zuschauer diese nicht nur akustisch gemeinten Themenfelder aus dem Stückuntertitel erfahren werden, war bei Redaktionsschluss noch nicht sicher zu eruieren. Was für den Fleiß und die Begeisterung der Münchner spricht, die stets bemüht sind, die wirklich allerbeste Lösung für ihre Projekte zu finden.
Aber eines steht fest: Im Anschluss an die Premiere kann ein Teil des Publikums (das hierfür eine gesonderte Eintrittskarte erwarb) die Nacht mit den Künstlern des Bayerischen Staatsballett und seiner Junior Company (dem Bayerischen Staatsballett II) feiern. Die „Tanznacht“ bietet allerlei Bands, Spektakel, Crossover-Events: ein Auftakt zu den vielfältigen Aktivitäten während des Festivals, die hier nicht alle aufgezählt werden können und bitte unter www.staatsballett.de eingesehen werden!
Der Spielplan kennt zudem weitere Höhepunkte. Von der beliebten Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung (mit der Junior Company) über das Gastspiel vom Ballett am Rhein mit Martin Schläpfers Gustav-Mahler-Choreografie „7“ (für das auch die Düsseldorfer Symphoniker anreisen, da Mahlers 7. Sinfonie höchst diffiziel zu spielen ist) bis hin zu „Les Ballets Russes“, einem weiteren ballettösen Münchner Dreiklang mit Werken von Mikhail Fokine („Scheherazade“), Bronislava Nijinska („Les Biches“) und Terence Kohler („Once Upon an Ever After“). Begehrte Repertoire-Vorstellungen etwa von „Ein Sommernachtstraum“ und „Onegin“ sowie Zusatzveranstaltungen mit Lesungen und Erinnerungen liegen dazwischen.
Und dann ist es auch schon Zeit für die Monatswende: Am 30. April und 1. Mai lockt ein jeweils sechsstündiger Kino-Marathon zur deutschen Tanztheatergeschichte: raus aus dem Nationaltheater und rein in den Rio Filmpalast! Unter dem Titel „Deutsches Tanztheater nach 1945“ ist ein „Filmprogramm mit Sekt und Suppe“ zu genießen, das Künstler wie Kurt Joos und Pina Bausch, Gerhard Bohner und Reinhild Hoffmann filmisch beleuchtet, eine Verköstigung in den Pausen ist inbegriffen. Und La Hoffmann reist sogar an, um mit Bettina Wagner-Bergelt live fürs Publikum zu plaudern.
Damit sind wir bei einer weiteren illustren Persönlichkeit des Bayerischen Staatsballetts: Bettina Wagner-Bergelt ist die verdienstvolle dienstälteste Dramaturgin beim Bayerischen Staatsballett und bildet gemeinsam mit Wolfgang Oberender die stellvertretende Direktion. Sie kam Ende der 80er Jahre ans Haus, von Konstanze Vernon speziell für den Aufbau der modernen Programmarbeit angeheuert. So war es Wagner-Bergelt, die Choreografen wie Angelin Preljocaj und Jiri Kylián, aber auch Hans van Manen und John Neumeier für München entdeckte.
Konstanze Vernon wiederum – die 1939 in Berlin geboren und dort bei Tatjana Gsovsky ausgebildet wurde – war mit 17 Jahren bereits in Berlin Solotänzerin und ab 1963 Primaballerina in München. Als sie 2013 in München verstarb, hinterließ sie ein großes Werk als Ballettmanagerin, das mit der Gründung des Bayerischen Staatsballetts II seinen Abschluss gefunden hatte.
Aber Vernon war, als erste Grande Dame des Bayerischen Staatsballetts, vor allem auch dessen Gründerin! Als damalige Direktorin des Balletts der Bayerischen Staatsoper litt sie, wie andere auf diesem Posten vor ihr, unter der zu großen Abhängigkeit vom Opernintendanten. In aller Ruhe, aber zielsicher, bereitete sie dann die Eigenständigkeit des Balletts als Bayerisches Staatsballett vor. Damals gab es noch keine Ballettintendanten in Deutschland – und für eine Ballettdirektion bedang sich Vernon ganz neue Machtbefugnisse aus. Jetzt konnte ihr niemand mehr verwehren, den Ballettspielplan selbst zu bestimmen, eine ganz bestimmte Musik als Tanzgrundlage nehmen zu lassen und dafür einen ganz bestimmten Dirigenten zu wählen, beispielsweise! Künstlerisch und auch finanziell stand das Ballett in München mit der Neuordnung auf eigenen Füßen – auch das Heranholen von Sponsoren wurde erst auf dieser Grundlage möglich.
Der Übergang von der alten zur neuen Company war fließend. Zunächst nannte man sich „in Gründung“ – erst ab der Spielzeit 1990/91 konnte das Bayerische Staatsballett als solches auch juristisch auftreten. 1992 wurde das mit einem neuen Gebäude bekräftigt: Das Ballettprobenhaus am Platzl in München bietet seither nicht nur zusätzliche Ballettsäle, sondern auch viel Raum für die Büros, und zwar ohne große Distanz zu den tätigen Künstlern.
Das Ansehen des Balletts ist kontinuierlich in München gestiegen. Jede Vergrößerung der Truppe, jede neue Aktion – etwa in Kooperation mit einem der großartigen Münchner Museen – erfasste und begeisterte ein neues Publikum. Als Wolfgang Oberender das im Gespräch mit mir präzisieren will, kommt sein Assistent mit der bildnerischen Vorlage ins Zimmer. Ein Blick drauf – und Oberenders Miene hellt sich auf: „Na, das sieht ja fantastisch aus!“ In München laufen die Dinge eben rund. Und was wünscht sich Wolfgang Oberender für die kommenden 25 Jahre des Bayerischen Staatsballetts? „Dass sich die Stadt noch mehr mit ihrem Ballett identifiziert!“ Dito – und: Herzlichen Glückwunsch!
Gisela Sonnenburg
Die FestWoche 2015 beginnt am 18. April mit der Premiere „Portrait Richard Siegal. Noise – Signal – Silence“ im Nationaltheater und endet am 1. Mai mit „Deutsches Tanztheater nach 1945“ im Rio Filmpalast