Dieser Abend, ein Dreiteiler, gleicht einer stilistischen Internationalisierung: Als Dreiheit statt Einheit geben die verschiedenen zeitgenössischen Stücke hier den Interpreten tänzerische Nüsse zu knacken – und fordern auch den Zuschauern teils ungewohnte Sehweisen ab. Namen von Rang vereint der schlicht „Duato / Forsythe / Goecke“ betitelte Abend sowieso, aber er kommt zudem mit kaum 20 Tänzern aus, darunter etliche Solisten. Minimalismus statt Bombast: Puristen und Anhänger des „Besten vom Besten“ ohne zusätzliche Rahmen finden sich hier richtig gut bedient.
Von acht überwiegend langsamen Sätzen aus Arcangelo Corellis Concerti grossi op. 6 ließ sich Nacho Duato 2000 zu „Arcangelo“ anregen. Um Liebe, Verzückung, spirituelle Erfahrung, letztlich den Übergang ins Jenseits geht es dem Spanier zum Wohlton des barocken Italieners. Auch die Bühne spiegelt eine ganz spezielle Ästhetik: Die oberen beiden Drittel der Rückwand bleiben Brandmauer, das untere, aus dem die Tänzer auftreten und in das sie entschwinden, ist schwarz. Vier Paare verlieren sich an eine Abfolge einzelner Pas de deux: mit den für Duato typischen skurrilen Hebeposen in körperengem, musikfühligem, fließfähigem Tanz der luziden Durchdringungen, originellen Paarfiguren und Umschlingungen.
Mehrmals werden Partner in Lichthügeln am Boden abgelegt, als würden sie dort erleuchtet. Gegen Schluss liegen drei der Paare auf dem Boden, das vierte trennt ein herabgelassener schwarzer Schal, der schützende Hülle wird, an dem sie hängend in ein ungewisses Oben entschweben.
Souverän musiziert der Spanier Duato auf dem Instrument Körper und entlockt ihm eine ungewöhnliche, eher transzendente Emotionalität. In der Premierenbesetzung im April 2012 tanzten die Paare Shoko Nakamura/Mikhail Kaniskin, Elisa Carrillo Cabrera/Arshak Ghalumyan, Polina Semionova/Mikhail Banzhaf sowie Sarah Mestrovic/Leonid Jakovina – und sie folgten der Choreografie dabei willig und gediegen.
Heutzutage tanzen Elisa Carrillo Cabrera mit Mikhail Kaniskin, Anastasia Kurkova mit Dominic Hodal, Krasina Pavlova mit Arshak Ghalumyan und Beatrice Knop mit Michael Banzhaf. Und diese Besetzung berechtigt zu hohen Erwartungen: Es sind, mit Ausnahme Kurkova / Hodal, Paare, die sich bereits ausgiebig und sehr gut auf der Bühne miteinander eingespielt haben, und ihre Ansichten des postmodern-puristischen Stils von Nacho Duatos „Arcangelo“ werden sie aufreizend zu übermitteln wissen.
DÜSTERE GEFILDE HINTER SPIELERISCHEM KOMMENTAR
Im schwarzen Raum vor mannshoch hellem Streif, also in nachgerade existenzialistisch-düsteren Gefilden, siedelt dagegen der Amerikaner William Forsythe seinen in Auszügen auch als Gala-Stück heiß begehrten „Herman Schmerman“ von 1992 an. Drei Frauen und zwei Männer bevölkern ihn, im schwarzen Maillot respektive Ganzkörpertrikot (Bühne und Kostüme: Nacho Duato in Zusammenarbeit mit dem Modedesigner Gianni Versace). Und dieses Tanzvölkchen zelebriert fabulös bis überdreht die klassische Schulsprache, sie überdehnt in Forsythes Stil, sowohl die Posen als auch die Beinhöhen. Dabei zeigen die Tanzenden sich meist frontal, so als würden sie zu Thom Willems’ elektronischer Musikcollage minutiös durchbuchstabieren und gleichermaßen kommentieren, was sie täglich trainieren.
Was für ein Tempo haben sie dabei! Gegenschwünge und Wirbelsprünge haben sich da mutwillig eingeschlichen in die sportiven Raster im Raum. Zum Abschied werden keck die Köpfe hochstreckt! Dann beginnt, was eben bereits oft bejubelter Gala-Beitrag geworden ist: ein witzig virtuoser Paarwettbewerb um ausgefallene Eingebungen – trotzig, rotzig, flapsig, dabei so anspruchsvoll wie ein Bouquet asiatischer Blüten.
Bei der Premiere stachelten sich Nadja Saidakova und Arshak Ghalumyan in diesem Paartanz gegenseitig an, sie rangelten und rivalisierten, sie agierten wie aus Gummi und griffen zum Letzten: Will sie mit bananengelbem Plisseeröckchen punkten, überrascht er sie im gleichen Outfit und verstrickt sie prompt in ein fulminantes Duett. Androgynität in ihrer höchsten Reflexion!
So lange dreht er sie dann am Schluss, bis Dunkelheit beide schluckt. Denn wenn alles stimmt, obwohl ursprünglich nichts ging, dann ist nichts mehr dazu zu sagen. Technisch makellos bewältigt das Staatsballett Berlin diese kniffligen Parts, die an zickiger Gestaltung nach oben hin jeden Spielraum offen lassen.
Auch in der neuen Besetzung – mit Elena Pris und Arshak Ghalumyan – ist hier Theaterfreude vom Feinsten zu erwarten, zumal Elena Pris ihr Talent für die Satire bereits in Alexei Ratmanskys „Namouna“ fabelhaft unter Beweis stellte. Ghalumyan zählt ohnehin zu jenen solistischen Aufsteigern, die man sich unbedingt merken sollte: Flexibel, ausdrucksstark und dennoch bildschön verkörpert er das moderne Männerbild im Ballett, das sich sowohl der Klassik als auch dem Contemporary Dance fein anzuschmiegen weiß.
EIN UMWORBENER CHOREOGRAF
Mit der größten Tänzermannschaft dieses Programms, nämlich mit vier Frauen und fünf Männern, tritt dann der Choreograf Marco Goecke an. Kurz war er ja mal Tänzer an der Deutschen Oper Berlin, aber er machte dann Karriere in Stuttgart – er ist ein umworbener Choreograf der jüngeren Generation geworden.
Und auch er fußt auf dem neoklassischen Tanz, wie ihn Balanchine begründet, Duato erweitert, Forsythe dekonstruiert hat. Und der Deutsche Goecke geht weiter: Bei ihm schaut Tanz aus, als breche er nur in ruckhaften Kaskaden aus einem zu Stummheit verurteilten Körper hervor. Angst, auch Einsamkeit scheinen den modernen Menschen zu lähmen. So in der zu sehenden Uraufführung mit dem melancholischen Titel „And The Sky On That Cloudy Old Day“ („Und der Himmel an diesem wolkigen alten Tag“). Verloren steht die Hauptperson auf hellem Grund im Dunkel des umgebenden Raums: ein hemdloser Mann, scheinbar ohne Perspektive. Bis ihn nervös antreibende Musik mit insistierenden Themen in Gestik wie Lesen, Abwehr, Schaukeln ausbrechen lässt.
Auch die anderen Gestalten, die sich ihm aus dem Nichts zugesellen, scheinen Automaten, Urwesen, Marionetten, sogar Stummfilmfiguren in den separat geführten Bewegungen der Körperteile zu sein. Enorm präzis ist das gemacht, man schreckt vor dem Stillstand nicht zurück, wie ihn „Guide To Strange Places“, John Adams’ minimalistische Komposition, auch akustisch nahelegt. Adams’ musikalischem Reiseführer durch die Provence lauscht Goeckes Uraufführung denn auch ganz diffizil eine Reise durchs Land der gebremsten Gliedmaßen ab, lässt Arme flattern, Unterarme wie Propeller düsen, Köpfe sich wenden, Bewegungen minimal ausfallen.
Auch wenn sich der Effekt verbraucht, so beeindrucken der Erfindungsreichtum des Choreografen und die Leistung der Interpreten, allen voran bei der Premiere Vladimir Malakhov, der sich vom Prinzenimage gänzlich wegreißen ließ und außergewöhnliches Gespür für Goeckes Ambitionen zeigte. Umarmt von seinem spiegelbildlichen Double wird der Tänzer schließlich im Finale von der Dunkelheit ummantelt.
In der Neubesetzung sind Elisa Carrillo Cabrera, Mikhail Kaniskin, Sebnem Gülseker und Marian Walter zu erleben, weiterhin Soraya Bruno, Dinu Tamazlacaru, Xenia Wiest, Alexander Shpak und Mehmet Yümal. Da der moderne Trainingsstil, den der erst in dieser Spielzeit an den Start gegangene Intendant des Berliner Staatsballetts, Nacho Duato, einführte, mittlerweile fruchtet, darf ein Abend voll fein polierter Raffinessen erwartet werden.
Volkmar Draeger
Zu sehen nicht am 19., aber voraussichtlich am 23. und 25. April 2015 im Schiller Theater Berlin