Man kann es kaum glauben. Während überall in Deutschland Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus Covid-19 getroffen wurden und auch Bayern seit Samstag mit einer Ausgangssperre belegt ist, wird hinter den Kulissen des Bayerischen Staatsballetts fleißig weiter trainiert und geprobt. Am morgigen Montagabend soll dann – als 2. Montagskonzert – um 20.15 Uhr im Nationaltheater eine „Geistervorstellung“ stattfinden, eine Mixtur aus Konzert und Ballett, die live im Internet auf staatsoper.tv übertragen werden soll. Ansteckung live?! Getanzt werden sollen, nach einem Konzert mit Sängern, im zweiten Teil des Programms einige hochkarätigeSzenen:zwei Soli aus der „Kameliendame“ von John Neumeier, aus dem 2. Akt („Auf dem Lande“), sowie der Schluss-Pas-de-deux aus „Der Widerspenstigen Zähmung“ von John Cranko. Die beliebten Stars Prisca Zeisel als Prudence und Dmitrii Vyskubenko als Gaston sollen mit ihren Soli aus der „Kameliendame“ glänzen, danach sollen Laurretta Summerscales als Katharina und Yonah Acosta als Petrucchio mit Crankos Paar-Choreografie brillieren. Selbst wenn die Partner – wie Summerscales und Acosta –auch privat ein Paar und in diesem Fall verheiratet sind, so ist ein solches Herzeigen von Kunst auf Biegen und Brechen nun wirklich nicht das, was man sich unter der Vorbildfunktion einer Kultureinrichtung vorstellt. Und: Viele Menschen, die im Opernhaus in München, also im Nationaltheater, dazu ihren Dienst versehen, sind hinter den Kulissen notwendig, um diese Show mit Kostümen und in Maske sowie unter Live-Musikbegleitung entstehen zu lassen. Sind dafür Corona-Schutz-Maßnahmen wirklich außer Kraft zu setzen? Sollte Bayern wirklich stolz darauf sein, diese fleißigen Menschen fahrlässig einer Infektion auszusetzen?
Und was ist mit der Signalwirkung einer solchen Geistershow? Soll die sonstige Bevölkerung– und der Live Stream läuft weltweit– den Eindruck bekommen, Künstler in Bayern seien unverwundbar? Ist es das wert?
Während ich das hier schreibe, kommt die Meldung vom nächsten Corona-Toten in Bayern herein. Fast 4.500 Menschen in diesem Bundesland wurden bislang als infiziert erkannt.
In Deutschland wird nur noch die Grundversorgung aufrecht erhalten, es wird zur Einhaltung von Social Distance aufgerufen, und Menschen werden strafrechtlich belangt, wenn sie Partys feiern oder ihr Vereinsleben pflegen. Die Theater und Opernhäuser sind nicht ohne Grund geschlossen.
Und da muss Bayern öffentlich die Ballett-Puppen tanzen lassen? Scherzhaft gefragt: Warum nicht gleich eine gestellte Sexparty an der Isar fürs Privatfernsehen?
Faktisch wird die Gefahr, die von Corona ausgehen kann, durch solche Handlungsweise verharmlost.
In diesen Tagen hat jede und jeder schon etwas von Tröpfcheninfektion und Schmierinfektion gehört.
Kann es sich das Bayerische Staatsballett da leisten, Musiker, Sänger und Tänzer auf die Bühne zu jagen?
Wäre nicht vielmehr das Gegenteil die Aufgabe der Chefs: Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter zu tragen?
Eine diesbezügliche Anfrage vom Ballett-Journal beim Bayerischen Staatsballett läuft. Auch zu folgenden Punkten:
Wie zu erfahren war, werden täglich Trainings für die Tänzerinnen und Tänzer vom Bayerischen Staatsballett abgehalten.
Aber nicht etwa „safe“, also als bloße Ansage online für zuhause, sondern „ganz normal“ als Gruppe live in einem Ballettsaal, allerdings ohne Anfassen. Und ohne Mundschutzmaske.
Die Viren kommen aber aus Mund und Nase, nicht aus den Fingerspitzen. Was, wenn jemand niesen muss? Tanzen ist anstrengend und schweißtreibend – da kann niemand wirklich aufpassen, keinen Speichel zu versprühen.
Die Teilnahme am Training soll für die TänzerInnen zwar freiwillig sein – aber wie freiwillig kann eine solche Entscheidung unter den gegebenen Umständen sein?
TänzerInnen sollen und wollen fit bleiben, sie fürchten, ihre Kondition zu verlieren. Sie haben aber vermutlich auch Angst, ihren Job zu riskieren, wenn sie „freiwillig“ nein sagen. Zudem sind sie – wie alle Leistungskünstler – ehrgeizig, und wer würde da gern „freiwillig“ seinen Chefs einen Korb geben?
Ihre Erziehung seit der Kindheit hat sie darauf abgerichtet, jede Möglichkeit, an sich zu arbeiten, wahrzunehmen. Und jetzt sollen sie von sich aus Gesundheitsbesorgnis entwickeln?
Für solche Entscheidungen hat so eine Company eigentlich eine Leitung, und zudem gibt es im staatlich subventionierten Opernbetrieb auch eine Intendanz.
Aber der scheint das Vorzeigen von Kultur live am wichtigsten.
Ballettdirektor Igor Zelensky wirkte bei der Online-Präsentation der Saison 2020/21 vor einer Woche fast schüchtern. Nicht ein einziges Mal sah er frontal in die Kamera, und seine Lippen formten nur versuchsweise manchmal ein Lächeln in Richtung Opernintendant Nikolaus Bachler.
Bachler wiederum steht nun ebenso wie Zelensky in der Kritik, sich mit den „Montagskonzerten“ – von denen es weitere geben soll – auf Kosten schwächerer Mitarbeiter profilieren zu wollen.
Dass der Bayerische Staatsminister Bernd Sibler (CSU), zuständig für Wissenschaft und Kunst, bei der wegen der Corona-Gefahr ohnehin nur online vorgenommenen Spielzeitpräsentation die Auftaktrede hielt, verlieh der Veranstaltung einen hochoffiziellen Anstrich.
Wie es jetzt dazu kommen kann, dass man Staatskünstler und Opernhausmitarbeiter auf eine falsche Weise Stärke demonstrieren lässt, ist ein Rätsel. Dem gesunden Menschenverstand kommt das jedenfalls wie ein Skandal ohne Sperrbezirk vor.
Man kann sich, bei aller Liebe zur Kunst und gerade deshalb, nur wünschen, dass die „Montagskonzerte“ in dieser Form nicht mehr stattfinden werden.
Gisela Sonnenburg