Es beginnt düster, denn das Leben, um das es hier geht, ist hart und nicht immer erklärbar. Der Wind heult aus den Theaterboxen in die Stille im Dortmunder Opernhaus, bis sanft-dramatische Musik von Edvard Grieg erklingt – und Peer Gynt, dieser norwegische Stürmer und Dränger, trifft in einer hufeisenförmig umrandeten Bühne auf einen stattlichen Hirschen. Es ist wie ein Vorspiel zum großen Drama. Das Tier, ein mit Geweihmaske und fantasievollen Krücken als Vorderbeine bewehrter Tänzer (Arthur Henderson), tanzt und ringt stilvollendet-spektakulär mit Peer, der von Javier Cacheiro Alemán so emotional stimmig und ausdrucksstark personifiziert wird, dass man meint, das Stück sei für ihn choreografiert. Edward Clug, der Tanzschöpfer, ist denn auch überglücklich, diesen Star für seinen „Peer Gynt“ beim Ballett Dortmund gefunden zu haben. Gecoacht hat ihn zudem Milos Isailovic, der 2015 beim Maribor Ballet die Uraufführung der Partie tanzte. Es war eine kongeniale Zusammenarbeit rund um eine Kreation, die beim Ballett Dortmund ohnehin in besten Händen ist.
Und so ergreift das skurrile Schicksal von Peer Gynt jede und jeden, die oder der diese Aufführung sieht. Javier Cacheiro Alemán ist zu Beginn ein heißblütiger Jungspund, der sich naiv und ohne nachzudenken stets als Sieger wähnt. So gibt er bei der liebevoll-strengen Mutter Aase (Gulia Gemma Manfrotto) damit an, er habe den kräftigen Hirschen besiegt. Trotz dessen Geweih, eine Krone der Natur. Doch dann stolziert die Chimäre, also der Tiermensch Hirsch, erneut herbei – und Aase erkennt, dass ihr Sohn ein Schwindler ist. Sie ahnt, dass er es nicht leicht haben wird, und das macht ihr Kummer. Doch Peer hat hochfliegende Träume. Er will Abenteurer und sogar Kaiser werden – und mit Aase auf den Hüften formt er seine Hände beschwörend um eine unsichtbare Krone und setzt sich diese, wie weiland Napoleon, selbst auf. Und er genießt es, als wäre es Realität…
Tatsächlich entführt Peer bald darauf mal eben so eine Braut von ihrem Hochzeitsfest, nur um diese alsbald zu verlassen. Auch mit Solveig (Daria Suzi, zart und elegant), die ihn liebt, bändelt Peer an – und verlässt auch sie, bevor es überhaupt zu einer innigen Bindung kommen kann.
Flugs im Reich der Fantasie gelandet, kokettiert er mit der bald von ihm seltsamerweise rückwärtig (also am Rücken) schwangeren Trolltochter „Die Frau in Grün“, nur um auch diese rasch wieder sitzen zu lassen. Trotz ihrer langen Dreadlocks und ihrer eleganten Tanzlinien bleibt die janusköpfige Trollmaid für Peer eine unüberwindbar Fremde (hervorragend getanzt von Isabella Maia, die hier eindeutig unterbesetzt ist). Was den Zorn der Trolle und ihres Königs (Filip Kvacák) erregt.
Ach, Peer! So charmant und frisch voraus er auch agiert, die Welt um ihn herum stellt Ansprüche an ihn, die er nicht erfüllen mag. Und so begibt er sich von einer Zwickmühle in die nächste, und nicht selten muss ihn der Tod persönlich daraus befreien, damit ihm noch eine schöne Strecke Leben bleibt.
Der Tod, hoch konzentriert und intensiv getanzt von Guillem Rojo i Gallego, ist ein grauweißhaariger Gentleman im bodenlangen Gehrock (Kostüme: Leo Kulas) und mit rot geschminkten Augen. Er könnte auch aus einem Musical oder aus einer Geisterbahn stammen, im Sinne der historischen Schauerromantik.
Während Peer im Schlabberpulli und die tollen Girls vom Ensemble auch mal barfuß ganz heutig erscheinen, ist dieser Gevatter Tod eine scheinbar historische Gestalt. Er ist überzeitlich und findet sich implantiert in die jeweilige Gegenwart.
Manchmal plätschert ein Bächlein und die Vögel zwitschern – diesen Naturbezug muss auch Peer Gynt verkörpern, denn er ist es, in dem alle menschlichen Gefühle hier zusammen kommen.
Der Tod aber klatscht konzise wie ein Regisseur – etwa wie Bertolt Brecht es bei den Proben im berühmten Berliner Ensemble tat – zwei-, dreimal in die Hände. Und die Welt steht still.
Die Frozen positions beherrscht das Ballett Dortmund ebenso graziös und stilecht wie die ausgelassenen Tänze der Solisten und der Gruppe.
Synchron ausgeführte Contractions und manchmal an Mats Ek geschulte moderne Bewegungen verleihen dem Ensembletanz die Kraft und auch die Lässigkeit der Moderne.
Peer Gynt aber sprengt hier alle Kriterien. Javier Cacheiro Alemán durchlebt jede Sekunde auf der Bühne mit atemberaubender Spannung. Und so aufgedreht-sympathisch dieser Held – zugleich ein Anti-Held – ist, so gern fühlt man mit ihm.
Mit Ausrufen wie „Lasst mich, Teufelspack!“ rettet der Tod seinen Schützling vor dem Zugriff der verärgerten Trollhorde.
Als er Peer aber malen will, wie ein seriöser Künster mit Staffelei, ahnt der junge Mann, dass ihm damit vom Tod der Lebensodem geraubt werden könnte. Der Gevatter geht darum erstmal leer aus.
Anders als bei Henrik Ibsen, von dem die dramatische Vorlage zum Ballett stammt, kehrt Peer zwischendurch zu Solveig zurück. Sie, die immerzu auf ihn Wartende, läst sich von ihm gern in einer Arabeske am Bein halten und sieht ihn belustigt hinter sich herrobben. Das Klavierkonzert von Grieg, das Clug hier aufspielen lässt, verspricht eigentlich noch mehr Liebe und Gefühle – aber da ist Peer schon wieder auf Reisen.
Es röhrt der Hirsch aus den Boxen. Da fährt der Tod Mutter Aase herein, auf einem fahrbaren Bett sitzt sie auf der hohen Kante vom Kopfende, zusammen gekauert und mit fahlem Gesichtsausdruck. Kein Zweifel: Sie ist eine Sterbende. Wenn schon nicht Peers Seele, so holt sich der Tod eben dessen Mutter.
Peer setzt sich zu ihr aufs Bett, legt sich quer, bietet ihr den blanken schönen Po – sie darf ihn noch einmal verhauen. Zaghaft, mit zittriger Hand, tut sie es. Noch eine Annäherung gibt es, die letzte Versöhnung zwischen Mutter und Sohn, dann haucht sie ihr Leben aus. Für Peer, das spürt man, bricht etwas entzwei.
Nach diesem zu Tränen anrührenden ersten Teil geht man in die Pause und wünscht sich, sie möge möglichst rasch vorbei gehen. Selten ist man so bei der Sache im Theater, so gespannt auf den weiteren Fortgang, sogar dann, wenn man das Stück schon kennt, etwa vom Ballett Zürich, dem immer noch damit gastierenden Maribor Ballet oder vom Wiener Staatsballett, das zuletzt eine Premiere damit hatte.
Der von Xin Peng Wang geprägte tänzerische Stil vom Ballett Dortmund passt allerdings so vorzüglich zu diesem Stück, dass man es lieber hier nochmal sehen möchte als woanders.
Die vornehmen, auch strengen Linien im Stil von Xin Peng Wang, die das Ballett Dortmund drauf hat, adeln dieses Frühwerk von Clug gewissermaßen. Es ist wirklich ein Hochgenuss!
Nach der Pause wird es zudem poetisch. Peer sitzt im Propellerflugzeug, wie ein Kind im Spielzeugflieger, und Solveig steht neben ihm, seine ausgestreckte Hand suchend.
Was für ein Nachtflug, auch wenn er nur in Gedanken stattfindet!
Zur bekannten Melodie der Flöte muss Solveig ihren wilden Geliebten aber verlassen, er hebt ab – und rückwärts entfernt sie sich mit verklärter Miene.
Wie ein Don Juan landet Peer auch jetzt wieder bei einer Frau. Nein, gleich bei sieben jungen Damen, denn die hübsche Orientalin Anitra trägt hier nicht nur einen sehr modernen pinkfarbenen Kapuzenmini, sondern ist auch gleich siebenfach vorhanden.
Auf einem gemütlichen persischen Teppich – der hier im Stück die Anmutung eines fliegenden Teppichs hat – räkelt er sich, besieht sich die exotisch-modernen, erotisch hungrigen Mädchen. Und er erinnert sich…
Bis der Tod wieder eintritt, im Gepäck persische Musik, nämlich Sufi-Gesang. Eigentlich dreht man sich dazu unendlich im Kreis, um in eine Art Trance zu verfallen. Der Tod und Peer jedoch kriechen kunstvoll unter den Teppich und lauschen den Klängen aus einer anderen Welt. Wer weiß, welche gemeinsamen Gedanken sie verbinden…
Die Landung ist unsanft, denn Peer findet sich in einer Irrenanstalt wieder. Hier wird er vermessen und getestet sowie als Laborratte benutzt, während die Patienten in Reih und Glied trippeln und hüpfen. Dass sie weiße Kittel tragen, unterstützt ein Klischee, das man eigentlich nicht mehr sehen möchte. Aber man muss es hier wohl hinnehmen.
Inmitten dieser bereits gleich geschalteten Patienten erfüllt sich Peer einen Kindheitstraum: Er krönt sich. Die Krone bleibt, wie schon zu Beginn des Stücks, imaginär, aber jede und jeder sehen, worum es geht.
Sollten wir nicht alle demütig werden, weil wir uns ertappt fühlen bei typisch menschlichen Wünschen, die schlichtweg vermessen sind?
Oder sollten wir sie jetzt erst recht tollkühn angehen – und wie Peer dabei Leib und Leben riskieren?
Peer gewinnt dieses Mal wieder gegen die tödliche Bedrohung. Er hat sich entwickelt, im Laufe der Zeit, im Verlauf des Stücks. Tiefe seelische Erschütterungen haben ihn reifen lassen.
Allein mit dem Wind in dunkler Nacht zeigt sich Peer Gynt alias Javier Cacheiro Alemán dann von seiner berührendsten Seite.
Er ist der Irrenanstalt entkommen, aber sein Leben scheint verbraucht. Wohin wird ihn sein Weg noch führen?
In seinen memorierten Vorstellungen zieht alles noch einmal schnell an ihm (und uns) vorbei. Etwa Ingrids Hochzeitsfest, und in Peers Erinnerung ist es viel weniger von einer latent aggressiven Stimmung aufgeladen, als es damals war, es ist viel freundlicher und sonniger. Ist es nicht oft so mit dem Erinnern?
Auch die grüne Trollfrau hat jetzt ein Happy Ending gefunden: Sie zieht glücklich statt zornig mit dem Kinderwagen vorbei.
Sogar der Tod lässt sich von der guten Stimmung anstecken, er tanzt synchron mit dem Ensemble einen schier ewigen Gute-Laune-Step.
Und auch der Hirsch eilt herbei – und setzt sich mit den anderen Gästen in Peers Leben, um aufmerksam zuzuhören. Doch was hat Peer noch zu erzählen?
Alptraumgefühle mischen sich unter die Glückseligkeit des ewigen Paradieses, das nur aus der Erinnerung besteht.
Obenauf auf einem Felsen überlegt Peer, was zu tun sei. Er sucht den Überblick.
Da rollt der Tod, immer geschäftig, einen Sarg herein, und hochkant steht der Sarg, wie ein Segel. Wieder ertönt ein Klavierkonzert von Grieg, Peer sinniert, jetzt unten auf dem Hufeisen-Laufsteg sitzend, den Blick gen Boden gerichtet.
Wie eine entrückte Schamanin kommt dann Solveig herein. Sie schleppt eine Tür, an deren Rückwand ein Sitz und ein Fensterkreuz gedübelt sind. Eine weibliche Jesusfigur.
Solveig, die immerzu Wartende, setzt sich und schaut traurig durch das Fenster in eine Welt, die für sie nicht viel bereit hielt.
Endlich erbarmt sich Peer Gynt, lässt sich zu ihr treiben, und sie tanzen ganz langsam miteinander – so, wie alte Leute es eben tun.
Als Solveig ihr Türgestell wieder auf sich nimmt, streckt sie ihre Hand aus – und Peer gesellt sich zu ihr, entscheidet sich dazu, ihr auf der letzten Strecke des Lebens beizustehen. Er hilft ihr, das sperrige Möbel zu tragen, als der Wind stark zu blasen beginnt. Die Lebenslichter von Peer und Solveig erlöschen.
Da kommt, ein letztes Mal, der Hirsch. Ruhig und stolz nähert er sich der für ihn geschlossenen Tür, hinter der Peer und Solveig ruhen. Er legt seine Krücken ab, setzt den Geweihhelm ab – kniet nieder, legt sich hin. Nun stirbt auch er.
Wir hatten es schon geahnt: Das wilde Tier war eine Doppelung von Peer, weshalb keiner von beiden den Kampf miteinander gewinnen konnte. Erst der Tod vereint sie.
Diese schaurig-schöne Pointe hat nur diese Ballett-Erfindung zu „Peer Gynt“, und Edward Clug schafft es, damit aufs Äußerste zu rühren. Lernen wir, den Peer in uns und anderen zu akzeptieren – oder auch zu zähmen. Den Hirschen aber müssen wir nehmen, wie er ist, er ist uns Meilen weit voraus.
Die Musik, zumeist ist es die Theatermusik „Peer Gynt“ von Edvard Grieg, die zusammen mit dem Theaterstück 1876 in Christiana / Oslo uraufgeführt wurde, bezaubert ohnehin, gerade auch mit den Dortmunder Philharmonikern unter Motonori Kobayashi.
Das Ballett Dortmund hat mal wieder – während andere deutsche Ballettcompagnien sich mitunter zur Zeit schwer tun – einen unübersehbaren, unüberhörbaren Knüller im Repertoire.
Der Dank gilt allen, die an dieser Produktion mitwirken – und besonders Ballettdirektor Xin Peng Wang, den man ebenso wie die zuständige Politik vor Ort herzlich bitten möchte, seinen Vertrag über 2025 hinaus zu verlängern. Ohne Wang wäre Dortmund in künstlerischer Hinsicht nicht, was es ist. Und ohne Javier Cacheiro Alemán auch nicht. Das steht fest.
Gisela Sonnenburg / Anonymous
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