Zwei große Ausnahmen Das Genie John Neumeier stellte beim Hamburg Ballett das Programm seiner letzten Spielzeit als Intendant vor, während Marco Goecke vom Staatsballett Hannover sich gekonnt ins Aus kotete

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

Ernst, aber zuversichtlich: John Neumeier nach der Pressekonferenz am 13.02.23 im Ballettzentrum in Hamburg, im Fokine-Saal. Foto: Gisela Sonnenburg

Er ist die große Ausnahme nicht nur im Ballett-, sondern im Kulturbetrieb überhaupt: Der Choreograf John Neumeier, Jahrgang 1939, steht für Qualität und nochmals Qualität, für Stil und Fleiß, für Originalität ebenso wie für die Wahrung der Tradition. Kaum jemand weiß Modernität und Klassik, brisante Inhalte und schärfste Ästhetik so elegant zu verbinden wie er, und niemand sonst findet quasi Jahr für Jahr neue Bewegungsformen, ohne dabei die erkennbare eigene Prägung zu verlieren. Auch sein Verhalten nach außen ist formvollendet,  als Repräsentant ist Neumeier dabei ebenso geeignet wie als Vorbild. Charakterliche Reife ist dabei durchaus von hohem Wert. Aber seit letztem Samstagabend hat Neumeier ein prominentes Gegenstück in der Ballettwelt: Marco Goecke, Jahrgang 1972, ist ab sofort die große negative Ausnahme nicht nur in der Tanzwelt, sondern in der weltweiten Öffentlichkeit überhaupt. Goecke, Ballettdirektor vom Staatsballett Hannover, begegnete bei der jüngsten Premiere im Opernhaus in Hannover während einer Pause der Kritikerin Wiebke Hüster. „Glaube – Liebe – Hoffnung“ hieß der Abend. Er wurde dann faktisch das genaue Gegenteil. Wiebke Hüster hatte eine Arbeit von Marco Goecke jüngst wortmächtig verrissen – offenbar zu seinem Ärger. Erst pöbelte er sie an, dann wurde er handgreiflich und schmierte der Journalistin frischen Hundekot von seinem Dackel Gustav ins Gesicht. Den Kot hatte er in einer entsprechenden Tüte bei sich. Was sich möglicherweise als Vorsatz deuten lässt. Denn Hundebesitzer entsorgen solche Kot-Tüten normalerweise zügig anders. Schockierend.

Auch schockierend: Das Publikum in Hannover ist offenbar blind und taub, denn weder die schreiende Kritikerin noch der gewalttätige Mann erregten genügend Aufmerksamkeit unter den Flanierenden im Foyer der Staatsoper Hannover, als dass jemand spontan dem Opfer zu Hilfe eilte. Goecke wurde vor Ort auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Soweit der Kenntnisstand derzeit reicht.

"Passagen" beim Bayerischen Staatsballett

Armes Tierchen: Die weiße Taube am Ende konnte nicht über die tänzerische Ideenlosigkeit von Marco Goecke in „Sweet Bone’s Melody“ beim Bayerischen Staatsballett hinwegtäuschen. Foto: Carlos Quezada

Vielleicht ist das eine Spätfolge der Chaos-Tage in Hannover? Gewöhnte man sich da etwa an allerhand? Machen die das immer so in Hannover? Oder ist diese Ignoranz der konkreten Gewalt gegenüber einer Frau die Folge aktuell verrohender Kunst in Hannover, die auf ihre Zuschauer keinen erhebenden, kathartischen, kräftigenden Effekt hat, sondern sie abstumpfen und verblöden lässt? Jedenfalls ist die Staatsoper Hannover rundum blamiert. Seine Intendantin Laura Berman, eine US-Amerikanerin, hatte keinen guten Griff, als sie Goecke ans Haus holte. Das steht fest.

Auf der Homepage der Staatsoper Hannover steht denn auch ein seicht entschuldigendes Statement, das die Tat allerdings nicht konkret benennt. Dadurch wird das Kot-Attentat schon mal verharmlost. Und: Man teilt mit, Goecke habe „gegen alle Verhaltensgrundsätze der Staatsoper Hannover verstoßen“. Aber das stimmt nicht. Goecke hat gegen alle Grundsätze dieser Zivilisation verstoßen, und das ist noch ein Stück weit mehr, als eine Hausordnung zu missachten.

Die Polizei ermittelt gegen Marco Goecke, wegen Beleidigung und Körperverletzung, Nötigung dürfte auch dabei sein. Denn Goecke wollte Hüster zunächst Hausverbot erteilen und versuchte vorab, sie verbal zu vertreiben. Die Flucht ergriff sie aber erst nach der Kot-Attacke. Goeckes Pressesprecherin half ihr, sich zu waschen, dann suchte Hüster ein Polizeirevier in Hannover auf. Hoffen wir, dass die Staatsanwaltschaft Zähne zeigt.

Manche Ballettabende sind ein Antidepressivum in drei Phasen.

Der Hund tut einem Leid: Marco Goecke und Gustav beim Stuttgarter Ballett. Dort flog Goecke auch schon mal raus: weil er eine Premiere platzen ließ. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Hausverbot hat Marco Goecke nun selbst. Zudem wurde er – allerdings erst nach einigen Stunden öffentlichen Drucks – mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Es ist unwahrscheinlich und auch nicht wünschenswert, ihn je wieder als Vorgesetzten von Tänzern oder in einer anderen Leitungsposition erleben zu müssen.

Wiebke Hüster dürfte für den Rest ihres Berufslebens traumatisiert sein. Auch Kritiker haben ein Recht, sensibel zu sein. Den Goecke wird sie wohl verklagen – wie in Deutschland üblich  vermutlich erst nach Abschluss des strafrechtlichen Verfahrens.

Um es klipp und klar zu sagen:

Ein erwachsener Mann mit einiger Lebenserfahrung darf einem anderen Menschen ohne dessen ausdrückliche Einwilligung keine Scheiße ins Gesicht schmieren. Nicht mal Ketchup  oder Bratensoße, by the way. Auch nicht im Kulturbetrieb, mehr noch: Dort schon gar nicht.

Sonst kommen demnächst auch noch die Kritiker auf die Idee, sich mit derlei Attacken – statt mit langatmigen Berichten – an Künstlern für fiese Arbeiten zu rächen. Na, da wäre was los!

Auch Sexismus dürfte bei dem Angriff eine Rolle gespielt haben.

Mann demütigt Frau mit Kotbeschmieren – bei de Sade und den perversen Gelüsten seiner Romanfiguren wäre so eine Szene besser aufgehoben als in einem Opernhaus-Foyer.

Ein Foyer ist keine Bühne, schon gar nicht für derlei nicht abgesprochene Auftritte.

Doda / Goecke / Duato bezaubert mit elegischer Eleganz

Sie wollen, aber sie können nicht… das ewige Leitmotiv der versagenden Roboter steht bei Marco Goecke im Vordergrund, so auch in „Pierrot lunaire“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Hoffen wir, dass es der letzte Akt für Goeckes Kunst war. Ich jedenfalls möchte von einem solchen Kriminellen keine Kultur mehr gebacken bekommen. Ob er nun psychisch krank ist oder nicht.

Die FAZ, für die Wiebke Hüster, die Beschmierte, als Tanzkritikerin wirkt, wies denn auch deutlich darauf hin, dass dieser Vorfall unübersehbar auch den Beigeschmack von Zensur hat und als expliziter Angriff auf die Pressefreiheit zu sehen ist. Zensur ist in Deutschland übrigens gesetzlich verboten.

Doch Goecke sollte seine Arbeit auch einstellen müssen, wenn er einen Tänzer oder anderen Mitarbeiter oder auch einen Politiker solchermaßen behandelt hätte. Seine Aktion, sei sie nun spontan oder als kalkulierte Rache erfolgt, stellt eine Misshandlung dar und grenzt an Folter.

Perfide ist zudem, dass Goecke seine Missetat auf Instagram im Nachhinein noch selbst rechtfertigt, in der Art, das Maß sei voll gewesen. Von Reue nach der Ernüchterung keine Spur, und das sollte strafverschärfend wirken.

Später nahm Goecke offenbar rechtlichen Rat in Anspruch. Dem ndr Fernsehen verkündete er, lässig auf einer Parkbank sitzend, sein Vorgehen sei nicht so super gewesen. Aber Wiebke Hüster habe sich auf dem Niveau von Scheiße bewegt. Ist Goecke geistig verwirrt? Oder will er gezielt diesen Skandal, um mal wieder in die Schlagzeilen zu kommen?

Wie auch immer: Kritische Wort mit Gewalt und tätlicher Herabsetzung zu ahnden, kommt weder ihm noch sonstwem zu. Und Goeckes unverschämte Rechtfertigung auf Instagram wurde bereits dokumentiert.

Sollten die staatlichen Organe hier auf Milde plädieren, weil ein Staatskünstler ja sowas Ähnliches wie ein Beamter ist und Goecke bekanntlich mal psychische Probleme hatte, wird sich ganz Hannover bodenlosem Spott ausgesetzt sehen. Die Stadt, in der man Menschen mit einer anderen Meinung Kot in die Fresse schmiert. Ganze Touristenschwärme wird das anlocken.

Marco Goecke macht Karriere

Tanz als Befreiung, Tanz als Rebellion – und der Körper als Gefängnis. Eine typische Goecke-Mischung, zu sehen in „Thin Skin – der Choreograph Marco Goecke“ vom WDR. Videostill: Gisela Sonnenburg / ARD Mediathek

Und auch wenn manche Politiker es sogar vielleicht prima finden, den Krieg solchermaßen ins Inland zu verlegen, damit die Bevölkerung mit sich selbst beschäftigt ist:

Ein Opernhaus muss ein gewaltfreier Ort bleiben. Wir sind in der Hochkultur nicht unter Hooligans, mit deren Gewaltpotenzial ja regelrecht gerechnet wird. Wir singen im Opernhaus vielmehr das Hohelied der Zivilisation. Gewalt gehört dort auf die Bühne, und zwar nur als Dargestelltes, als Gespieltes, als Vorgetäuschtes, damit wir lernen, uns im realen Leben gewaltfrei zu verhalten.

Marco Goecke konnte das offensichtlich nicht.

Ein Opernhaus steht – und dafür wird es ja auch subventioniert – für die Erhaltung unserer Werte in der Realität. Es ist kein Zirkus und kein Fußballstadion, auch keine Orgie und keine Party. Oper ist kein Ausnahme-Event, bei dem man schon mal durchdrehen darf. Hier muss die körperliche und auch mentale Unversehrtheit der Besucher oberstes Gebot sein. Streng genommen ist das Opernhaus wie ein Frauenhaus, in dem Frauen eben nicht geschlagen werden dürfen.

In der Sache Goecke müssen jetzt die Gesetze helfen. Hart, aber gerecht. Sonst können wir es wirklich aufgeben, uns eine Demokratie und Zivilisation zu nennen.

Und natürlich hat auch die FAZ ein großes Stück weit Recht: Kritiker solchermaßen einzuschüchtern, ist kein Kavaliersdelikt, sondern primitive Rachsucht.

Ich kann nur hoffen, dass die Solidarität innerhalb der Journaille dieses Mal eindeutig ist. Der Deutsche Journalisten-Verband hat sich bereits entsprechend geäußert. Jede und jeder, die oder der als Journalist tätig ist, sollte sich hier zu Wiebke Hüster als Opfer bekennen, auch wenn sie nicht nur beliebt ist. Wer ist das schon – und hier geht es ums Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit.

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

John Neumeier auf der Jahrespressekonferenz vom Hamburg Ballett am 13.02.23 – zum letzten Mal als dessen Intendant. Foto: Gisela Sonnenburg

Hoffen wir, dass der Nachfolger von John Neumeier, Demis Volpi, sich das richtige Vorbild für sein Verhalten ab 2024 sucht. Immerhin kommt er ja aus demselben choreografischen Stall wie Marco Goecke: Er wurde, wie dieser, vom Stuttgarter Ballett unter der Ägide von Reid Anderson aus bekannt. Ein John Cranko, der als Choreograf den Weltruhm der Stuttgarter begründete, aber schon 1973 starb, ist übrigens weder Goecke noch Volpi. Ein John Neumeier schon gar nicht!

1973 ist aber auch das Jahr, in dem Neumeier nach Hamburg kam. „Romeo und Julia“ war dort seine erste Ballettpremiere, und er erinnert sich noch heute an das Staunen von Opernintendant August Everding, der ihn engagiert hatte, dass der neue Ballettdirektor sich vorab nicht festlegen wollte, was die zweite Ballettpremiere der Saison sein würde.

„Ich wollte etwas Neues für die für mich damals neue Company schaffen“, sagte Neumeier heute auf seiner Jahrespressekonferenz in Hamburg. Die Missetat von Goecke kommentierte er mit „so etwas geht natürlich nicht“, wobei er durchscheinen ließ, dass Choreografen offenbar besonders unter Kritik leiden. Neumeier nach leidet man als Künstler vor allem dann, wenn nicht die Wahrheit geschrieben wird. Aber auch dann gibt es andere Wege der Verständigung oder auch des Streits als tätlich zuzulangen.

Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es auch Freundschaften unter Künstlern und Kritikern gibt, die berühmteste im Ballett verband Rudolf Nurejew und Klaus Geitel.

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

Spricht er zu Feinden oder zu Freunden? John Neumeier auf der Pressekonferenz am 13.02.23 im Ballettzentrum in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Dass es gerade unter den Vorzeichen der Freundschaft schwierig ist, auch zu kritisieren, ist für beide Seiten ein Problem, aber kein unlösbares. Hier ist auch die Politik gefordert: Es hat keinen Sinn, immer nur Bestleistungen von allen Seiten zu verlangen. Kritiker können sich irren, und Künstler können auch mit ihrer Kunst mal voll daneben liegen. Kein Grund, Kritiker oder Künstler ins Aus zu drängen.

John Cranko etwa hatte regelmäßig Flops, das heißt, dass er mit Uraufführungen regelrecht durchfiel. Dennoch lieben wir heute all seine Stücke, auch jene, die zunächst nicht verstanden wurden. Nun ja. Nicht jede, nicht jeder ist ein Cranko oder Neumeier.

Aber dieses Fingerspitzengefühl, da zu unterscheiden, sowie das Recht, das deutlich zu sagen, müssen uns Kritikern gelassen werden.

Ein Verhalten, wie Goecke es an den Tag legt, weist allerdings auf unverbesserlichen Größenwahn hin, und daran haben wir null Bedarf.

Gehen wir lieber in die letzte Spielzeit von John Neumeier, seine 51. Saison, denn das Paket, auf das Vergnüglichste dort über Menschen und Menschlichkeit zu lernen, ist prächtig geschnürt.

Nach einem wohl wieder fulminanten Auftakt open air auf dem Rathausmarkt in Hamburg – für alle, die kommen können, kostenfrei – beginnt die Spielzeit 23/24 in Hamburg mit der Wiederaufnahme eines kongenialen modernen Klassikers: Die „Endstation Sehnsucht“ lockt nicht nur Homosexuelle an wie Honig die Schleckermäuler. Das Stück von 1983 erhitzt die Gemüter, weckt aber auch Verständnis, vor allem für die leidende Hauptfigur Blanche.

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

Hier tanzte Bridget Breiner beim Stuttgarter Ballett die Partie der Blanche in „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. Foto: Stuttgarter Ballett

Von Marcia Haydée bis zu Silvia Azzoni tanzten große Primaballerinen diese schwierige Partie. Tennessee Williams, nach dessen Stückvorlage das Ballett entstand, wäre wohl selbst überglücklich mit Neumeiers Interpretation und der seiner Tanzenden gewesen. Auch wenn der Dramatiker zu seinen Lebzeiten nicht so richtig wollte und die Lizenz nicht hergab – erst seine Erben trauten Neumeier das zu, was dann dabei herauskam.

Ebenfalls bekannt für vertanzte Literatur ist Cathy Marston, die als Nacholge auf Christian Spuck das Zürich Ballett übernehmen wird. Neumeier hat Marston eingeladen, am 3.12.23 die deutsche Erstaufführung ihres Stücks „Jane Eyre“ nach dem Roman von Charlotte Bronte zu zeigen. Das wird die erste Premiere in der kommenden Hamburger Saison sein.

Wie im Falle von „Endstation Sehnsucht“ lassen sich auch von „Jane Eyre“ ergänzend Verfilmungen anschauen, die es allerdings nicht beim Hamburg Ballett gibt. Es ist die Geschichte einer jungen Frau im 19. Jahrhundert in England, deren Kindheit von Elend geprägt ist, die sich dann als Gouvernante selbst findet und – lange vor Friede Springer – in ihren Arbeitgeber verliebt. Ein Verlagshaus erbt sie allerdings nicht.

Ivan Liska - Tänzer, Choreograf, Ballettdirektor.

Der entscheidende Pas de deux der „Odyssee“ war 2013 auf der „Nijinsky-Gala“ beim Hamburg Ballett zu sehen, in der Besetzung mit Anna Polikarpova und Ivan Liska. Faksimile: Gisela Sonnenburg

An Neumeiers 85. Geburtstag, dem 24.2.24, wird dann seine „Odyssee“ wiederaufgenommen, ein großartiges, selten zu sehendes Mammutwerk, das ursprünglich als Koproduktion der Hamburgischen Staatsoper mit der Megaron The Athens Concert Hall in Athen entstand. In Hamburg ist Ivan Liska noch vielen in der Titelpartie ein faszinierender Begriff.

Zwischen der „Endstation Sehnsucht“ und der „Odyssee“ liegen köstliche Repertoire-Vorstellungen mit Neumeier-Werken: mit „Nijinsky“, „Romeo und Julia“, „Der Nussknacker“, „Weihnachtsoratorium I – VI“, „Ghost Light“, der „Kameliendame“ und „Illusionen – wie Schwanensee“.

Und Anfang Oktober 23 zieht die Truppe aufs Gastspiel nach Baden-Baden, wo man mittlerweile ein Festival namens „The World of John Neumeier“ eingerichtet hat. Und dort lässt sich außer „Dona Nobis Pacem“, der jüngsten Kreation von JN, auch sein „Dornröschen“ noch mal anschauen.

Es ist wirklich fast unglaublich, wieviel die Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett leisten müssen, ein so großes Pensum mit so vielen verschiedenen großen Abenden gibt es weltweit nicht noch einmal. Zumal es sich nicht um eine Riesentruppe mit mehreren hundert Tanzkünstlern handelt.

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

John Neumeier hat seine Hausaufgaben gemacht – und ist zu Recht stolz auf sein Lebenswerk wie auf seine Company, das Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Neumeier betonte bei seiner Pressekonferenz denn auch, dass er, der mit allen bedeutenden Compagnien der Welt gearbeitet hat, stolz auf sein Ensemble ist. Kein anderes könnte seiner Meinung nach soviel Leistung erbringen.

Das kommt vielleicht auch immer auf die Umstände an, aber diese zu schaffen, ist eben auch eine Kunst für sich. Neumeier ist in beidem weltweit führend: in der Organisation seiner Arbeitsapparate und in der Kreation.

Kein anderer lebender Choreograf schuf so viele, so qualitätshohe Stücke.

Man freut sich denn auch auf die nächste, die es während der Hamburger Ballett-Tage 2024 zu sehen gibt: „Epilog“ lautet der Arbeitstitel, wie auch das Motto der gesamten Abschiedsspielzeit von JN. Viel mehr steht noch nicht fest, aber die Musikauswahl sei „kammermusikalisch und intim“, verlautbart der Meister. Er genießt es, mal ohne den Druck, viele Details vorab festzulegen, zu arbeiten.

Interessanterweise erinnert das an seine erste Spielzeit in Hamburg, als er seine zweite Premiere – seine erste mit einer Uraufführung – auch nicht mehr als ein Jahr vorab planen wollte.

„Ich habe nicht lange nachgedacht, der Titel ‚Epilog‘ kam mir spontan in den Sinn“, sagt Neumeier. Es sei ein Epilog wie ein Nachspiel von einem Drama – „weniger dramatisch, hoffe ich“, lächelte er.

Drama bei Neumeier bedeutet gemeinhin aber etwas Gutes.

Dass er nicht aus Trotz über den Eklat in Kopenhagen im November 22 jetzt seinen „Othello“ mit auf den Hamburger Spielplan setzt, hat mich fast erstaunt. Aber Neumeier ist ein versöhnlicher Typ geworden, der – im Gegensatz zu Marco Goecke – keinen unnötigen Ärger haben will. Diskussionen gäbe es über die schwarzblaue Körperfarbe einer Fantasiegestalt im Stück derzeit aber ganz sicher.

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Von April bis Juni 24 locken nun andere, bekannte, aber niemals aber genug zu sehende Neumeier-Stücke ins Hamburger Opernhaus: „Anna Karenina“ und „Préludes CV“ im April, „Dona Nobis Pacem“ und „Die Glasmenagerie“ im Mai. Letztere entstand wie die „Endstation Sehnsucht“ nach einem Drama von Tennessee Williams, und Neumeier sagt, dass es ihm sehr wichtig ist, auf den Kontrast der beiden Arbeiten hinzuweisen.

Tatsächlich: Wo die „Endstation“ expressiv ist, ist die „Glasmenagerie“ verträumt. Ein heftiger Holzschnitt trifft auf ein sanftes Aquarell, sozusagen. Expressionismus und Impressionismus – beides kann man mit Grandezza tanzen, das wird das Hamburg Ballett beweisen.

Im Juni kommt dann noch ein besonders feines Juwel hinzu: Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ ist auch ein Stück, das Ost- und Westdeutsche besonders miteinander verbindet, seit es zu DDR-Zeiten in Dresden als Gastspiel gezeigt wurde.

Vier Ballett-Werkstätten und mehr als nur die Nijinsky-Gala, nämlich auch eine Benefiz-Gala zu Gunsten der Stiftung John Neumeier runden die Spielzeit ab. Tourneen und Gastspiele sind übrigens noch in Verhandlung – zur Freude der meisten Tänzerinnen und Tänzer, die die Auswärts-Auftritte sehr intensiv erleben.

Apropos Stiftung John Neumeier: Sie soll ja umziehen, John Neumeier mit ihr, und ihm wäre am liebsten schon morgen der Umzugstermin. Doch zwei Jahre Umbauzeit sind für die Pöseldorfer Villa, die ein richtiges Schlößchen ist, veranschlagt, und die Behördenauflagen sind wohl komplizierter als vorab gedacht.

Aber es gibt immer wieder Gründe der Vorfreude beim Hamburg Ballett – so soll es sein!

John Neumeier präsentiert, Marco Goecke kotet

John Neumeier in seinem Reich, beim Hamburg Ballett, während der Pressekonferenz am 13.02.23. Hinter ihm ist das Wandgemälde zum Thema „Orpheus“ von Anita Rée im Fokine-Studio zu sehen. Foto: Gisela Sonnenburg

Ängste, für eine begründete Meinung abgestraft zu werden, sollte man hingegen nicht haben müssen, wenn man ein Opernhaus oder einen Ballettsaal betritt. Darin, so hoffe ich, sind wir uns alle einig.

Übrigens ist es für manche eine Bestätigung zu sehen, dass Marco Goeckes oft seelenlos wirkende Stücke wohl tatsächlich ein Spiegelbild seines Reifegrades sind. Dass ihm letztes Jahr der Deutsche Tanzpreis verliehen wurde, ist symptomatisch für das Nichthinsehen seiner Auslober: Guter Geschmack geht anders. Lernt das bei John Neumeier, Leute! Und natürlich hier im Ballett-Journal.
Gisela Sonnenburg 

www.hamburgballett.de

www.staatstheater-hannover.de

 

 

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