Ein berauschendes Jubiläum Was für ein Fest! Die 35. Tanzgala – die Internationale Ballettgala XXXV – beim Ballett Dortmund gerät zur groß angelegten, dennoch mutigen Hommage ans klassische und zeitgenössische Ballett

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Herzliche Verbeugung von Ballettintendant Xin Peng Wang beim Schlussapplaus nach der Internationalen Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund. Foto: Franka Maria Selz

Schöpfungen und Stars, viele Stars und viele Schöpfungen: Die Internationale Ballettgala XXXV im Opernhaus Dortmund ist ein klassisch-moderner Festakt zu Ehren des Tanzes, wie man ihn sich bunter, spannender und intensiver nicht wünschen kann! Gastgeber Xin Peng Wang, der geniale Ballettintendant vom Ballett Dortmund, hatte nicht zuviel versprochen, als er im Vorfeld ankündigte, er wolle „für ein Ausrufezeichen“ sorgen und „die Herzen des Publikums nach der Pandemie zurückerobern“. Und wie ihm das mit dieser Gala gelingt! Jede Nummer ist ein Highlight für sich, im Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Melancholie. Als da sind: drei Uraufführungen; einige brillante berühmte Pas de deux in absolut exquisiten, internationalen Neubesetzungen; Auszüge aus Wangs Weltkunst-Balletten „Faust II“ und „Tschaikowsky“ sowie sein lebenspralles szenisches  Ensemble-Stück „Full of Life“ aus „Faust I“. Außerdem: interessante Kreationen von Crystal Pite aus Paris und von Edwaard Liang aus Columbus (USA).

Viele Tänzernamen ließen sowieso die Fanherzen höher schlagen: von Lucia Lacarra und Matthew Golding über Alina Cojocaru und Alexandr Trusch bis zu Daria Suzi und Javier Cacheiro Alemán, Maria Kochetkova und Osiel Gouneo  sowie als besondere Gäste Skylar Brandt und Herman Cornejo vom Amercian Ballet Theatre. Dass die echten Russen aus Russland, etwa vom Bolschoi oder Mariinsky Theater fehlten, war nicht Wangs Fehler, sondern das Ergebnis der aktuellen Politik. Möge man sich ironisch dort bedanken. Nicht mal während des Kalten Krieges war der Kulturaustausch zwischen Ost und West derart blockiert – das jetzt zu vergessen, wäre allerdings ein Schritt in die falsche Richtung.

Als Moderator hält einmal mehr Kammersänger Hannes Brock bei der Stange – so bewährt wie beliebt mit dieser Aufgabe.

Euphorisch gefeiert: "Faust II - Erlösung" von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund.

Eine wunderbare Erinnerung! Zart und mit geschlossenen Augen auf dem Knie des Geliebten quasi schwebend: Lucia Lacarra und Marlon Dino in der Uraufführung von „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Foto: Bettina Stöß / stage picture

Den Beginn macht das Ballett Dortmund: mit Rasanz und Fröhlichkeit, paradieser Eleganz und mystischer Weltsicht tanzt es das Elysium im Kampf mit dem Bösen.

Xin Peng Wang schuf bekanntlich die weltweit ersten abendfüllenden Ballettversionen von Goethes „Faust I“, dem er im Titel den Zusatz „Gewissen!“ verpasste, und „Faust II“, den er zusätzlich mit „Erlösung!“ betitelte.

Aus letzterem, 2016 uraufgeführt, stammt die jetzt gezeigte Szene, in der die Seligen – acht Paare in Weiß – mit dem geschmeidig-luziden Wirken des Mephistopheles konfrontiert werden. Musiken von Franz Schubert und Luciano Berio sind von Wang genial dafür umgesetzt. Ein hervorragender, philosophisch tiefsinniger Auftakt!

Es folgt mediterranes Flair, gekoppelt an modernen Beziehungswitz: Filipa de Castro und Carlos Pinillos vom National Ballet of Portugal zelebrieren zur Tangomusik von Astor Piazzola einen Zwist-Pas-de-deux namens „12“ von Carlos Labiós. Tisch und Stühle stehen auf der Bühne, und da endet das hintergründige Stück auch: Mann und Frau sitzen sich gegenüber, gar nicht friedlich oder versöhnt, sondern mit der Hand auf den Tisch hauend. Basta! Diese Art von Geschlechterkampf wird wohl schier endlos weitergehen, auch wenn das originelle Tanzstück dazu schon längst vorbei ist.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Diese Collage aus Pressefotos zur Gala postete das Theater Dortmund anlässlich der Internationalen Ballettgala XXXV. Quelle: Facebook

Noch viel komödiantischer ist der Blick auf mögliche Beziehungen, den Juliette Hilaire und Caroline Osmont aus Paris für die erste Uraufführung des Abends mitbringen. „In progress?“ – „Fortschritt?“ fragt ihr Stück. Die beiden Ballerinen vom Ballett der Pariser Opéra haben nämlich für sich und – als special guest – für Osiel Gouneo vom Bayerischen Staatsballett ein eigenes kleines Werk geschaffen, das den klassischen Tanz zugleich karikiert und feiert. Und das geht so: Eine Tänzerin kommt in Probenklamotten auf die Bühne, entdeckt das Publikum und verlangt Musik.

Die Klänge aus „Don Quixote“ von Ludwig Minkus sind ihr aber zu wenig inspirierend. Dabei kann auch ihre Partnerin nicht helfen. Allerdings kommen sie zu „Let’s dance“ von David Bowie ganz schön ins Schwitzen. Als dann aber der Herr der Schöpfung dazu kommt, ergibt sich eine Lösung: jener Pas de trois, den Basil in „Don Quixote“ mit den beiden Freundinnen seiner Braut tanzt. Voilà!

Nach so viel Experiment hat man Lust auf ein Meisterwerk, auf eine geniale Schöpfung. Oh, da kommt das große Pas de deux aus dem getanzten Portrait „Tschaikowsky“ von Xin Peng Wang gerade richtig. 2017 ist es entstanden, bei der Uraufführung tanzten es Lucia Lacarra und Marlon Dino, in diesem Jahr brillieren Daria Suzi und Javier Cacheiro Alemán darin. Und wie! Sanfte Hebungen mit unendlich schönen Linien in der vollendeten Pose vermitteln die Lebenssehnsucht eines melancholisch grundierten Paares.

Rachmaninow / Tschaikowsky von Xin Peng Wang reflektiert das Kreieren an sich

Wie aus einem Guss: Lucia Lacarra und Marlon Dino in „Tschaikowsky“ von Xin Peng Wang. Welche Grazie, welche Gemeinsamkeit! Foto: Bettina Stöß / Stage Pictures

Wang hat ja nicht die Biografie der beiden russischen Komponisten „Rachmaninow / Tschaikowsky“ illustriert, als er sein zweiteiliges Werk schuf, sondern er hat ihr jeweiliges Temperament, ihren Lebensstil, ihre Triebfeder zu wirken, tänzerisch umgesetzt. Gegensätzlicher könnten zwei Künstler ja nicht sein als diese beiden, und während Rachmaninow sich geschickt lächelnd dem Zeitgeist andiente, rang Tschaikowsky mit sich selbst um höchste und noch höhere Qualität. Der Lohn für seine Qualen: eine seelenvolle, bis dahin nicht gekannte Spätromantik, die an Schmelz ebenso wie an Zerrissenheit trotz Harmonie reich ist. Und die von Wang mit modern-klassischem Tanzvokabular entsprechend für uns heute fasslich gemacht wird. Eine fantastische Arbeit und eine unvergessliche Darbietung!

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Daria Suzi (rechts) und Javier Cacheiro Alemán beim Applaus nach der Gala: Sie tanzten „Tschaikowsky“ von Xin Peng Wang so hingebungsvoll, dass man den edelmütigen Pas de deux sofort nochmal sehen möchte! Foto: Franka Maria Selz

Guest“ („Gast“) von Sebastian Kloborg – nicht zu verwechseln mit Johan Kobborg, dem Ehemann von Alina Cojocaru ­– ist dann die zweite Uraufführung. Der Choreograf tanzt selbst, und zusätzlich ist ein junger Mann schemenhaft zu sehen, der mit dem Rücken zu uns gen Bühnenhorizont wandelt. Ihm ist der junge Tänzer offenbar zugeneigt, er mag der „Gast“ sein, der aber eben gerade geht. Der Kummer des Verlassenwerdens ist daher das Thema dieses schmerzenreichen Solos, und man kann darüber sinnieren, ob der Verlust des Gastes womöglich endgültig ist. Abschied vom Edlen, Guten, Schönen – das passt schon sehr in unsere Zeit.

Auch „Seda“ („Seide“) von Iratxe Ansa und Igor Bacovich vom Metamorphosis Danceaus Madrid – die ihr Stück auch selbst tanzen – spielt mit den Möglichkeiten von Liebe und Leben. Es handelt sich um ein Paar, bei dem der Mann seine Frau zwar liebt, sich selbst und seine eigenen Probleme aber noch viel wichtiger nimmt. Und so ist es eher ein „Anti-Pas-de-deux“, der mit viel Distanz und wenig Anfassen zwischen den Tanzenden stattfindet, ein von Gesang (María Berasarte) begleitetes Lehrstück über den Narzissmus, der die Beziehungsfähigkeit vieler moderner Menschen in Frage stellt. Hoch interessant!

Die Kameliendame mit Alexandr Trusch

Liebende unter sich in der „Kameliendame“ von John Neumeier: Armand (Alexandr Trusch) und Marguerite (Alina Cojocaru) im Weißen Pas de deux – auf dem Höhepunkt ihres Glücks. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Ganz im Gegensatz dazu feiert „Die Kameliendame“ mit schwelgender Musik von Frédéric Chopin (am Klavier: Michael Bialk) und der unsterblichen Choreografie von John Neumeier – die sich auf Frederic Ashton („Marguerite and Armand“) ebenso bezieht wie auf „A month in the country“ von Kenneth MacMillan – das absolute Begehren. Welches man bekanntlich so rasch mit Liebe zu verwechseln geneigt ist. Liebe hin, Sex her: Der „Weiße Pas de deux“ aus dem abendfüllenden Stück nach dem Roman von Alexandre Dumas d. J. ist Traum und Spielrealität zugleich.

In der Handlung stehen sie so da: Auf dem sommerlichen Land verbringen der verliebte junge Pariser Armand und die bekannte Kurtisane Marguerite die schönsten Wochen ihres Lebens. Doch in das Glück ihrer Liebe hinein mischt sich die Ahnung, dass die Möglichkeiten dazu nur geliehen sind. Und dass eines Tages ein böses Erwachen folgen wird…

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Superstars sozusagen am Stück – und das auch beim Schlussapplaus nach der 35. Ballett-Gala am 10.09.22 beim Ballett Dortmund. Von links hier in der ersten Reihe im Bild: Matthew Golding, Hausherr Xin Peng Wang, Alina Cojocaru, Alexandr Trusch. Foto: Franka Maria Selz

Doch vor allem sind es fast zehn Minuten getanztes Hochgefühl, eine wirklich unglaubliche Ekstase, die diese zwei Romanfiguren aneinander schmiedet. „Weiß“ heißt der Pas de deux übrigens nicht nur nach der Unschuldsvermutung für Liebende, sondern vor allem nach der cremehellen Farbe des extravaganten, mehrlagigen Volant-Kleids der Dame.

Alina Cojocaru tanzt diese Partie der „Kameliendame“ schon jahrzehntelang mit großer Passion. Einer ihrer passendsten und auch häufigsten Partner war in dieser Zeit Alexandre Riabko vom Hamburg Ballett. Seit 2018 tritt sie mit dem jüngeren, dazu bildschönen Alexandr Trusch, ebenfalls vom Hamburg Ballett, auf – und als Armand kann man sich kaum eine bessere Besetzung vorstellen. Stark und doch emotional soft, verführerisch und verführbar ist dieser Armand, der geborene Liebhaber, wie schon sein Name anzeigt.

Schade ist nur, dass Alina mit ihren 41 Jahren noch immer keinen Gestus gefunden hat, die Liebe einer reifen Frau zu tanzen. Fast verkrampft versucht sie, eine kindhaft-naive Erotik zu versprühen, was ihr schlicht nicht mehr gelingt. Der Babydoll-Sex hat nun mal seine Grenzen.

Da nützen rollende Porzellanpuppenaugen auch nicht viel – man sollte sich für den Vergleich mal die alten Videos von Marcia Haydée ansehen, die bei der Uraufführung des Stücks 1977 immerhin auch schon an die 40 Jahre alt war. Damals tanzte eine Persönlichkeit, kein dressiertes Püppchen: Marcia war ein Vorbild für alle Frauen, die nicht im Klischeebild ewiger Jugend gefangen bleiben wollen.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Ein tolles Paar für den virtuosen „Don Quixote“-Pas de deux: Maria Kochetkova und Osiel Gouneo, der aus München einflog. Wow! Foto vom Schlussapplaus: Franka Maria Selz

Die Frage nach Alter stellt sich in der nächsten Highlight-Nummer allerdings gar nicht. Denn der klassisch-virtuose „Don Quixote“-Grand-Pas-de-deux von Marius Petipa (zur Musik von Ludwig Minkus) ist viel zu flott, fetzig und furios, um auf äußerste Tugenden der Jugendlichkeit zu verzichten. Top ist hier die Besetzung, die dem bekannten Stück eine tiefgehende Note verleiht: Maria Kochetkova, die zart-zierliche, weltbekannte Freiberufliche russischer Herkunft, trifft auf Osiel Gouneo, den sprungmächtigen Ersten Solisten vom Bayerischen Staatsballett. Hui, da sprühen die Funken, olé!

Und jede Hebung sitzt, jede atemberaubende Pirouette, jeder kongeniale Sprung… man wünscht sich, die Zeit würde stehen bleiben oder sich ganz einfach immerzu im Sekundentakt wiederholen. Eine wunderschöne Gala-Erfahrung!

In der Pause verschnauft man, um sich dann erneut ins hochkarätige Ballettleben zu stürzen.

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Die nächste Uraufführung steht an, mit „Exhale“ („Ausatmen“) von Márcio Barros Mota zu Musik von Zoe Keating. Es tanzt: das NRW Junioballett, das seit 2014 die Haupttruppe vom Ballett Dortmund ergänzt.

Und siehe da: Mit Barros Mota kam nicht nur ein tänzerisches Talent zunächst  zum Juniorballett, dann ins Ballett Dortmund, sondern auch ein choreografisch sehr ambitionierter junger Mann. Drei Paare lässt er am Anfang ein- und ausatmen, um dann das Tanzen im Atmungsrhythmus als große Befreiung erleben zu lassen. Schmissig ist das Ganze, und die vielen Vorzüge der NachwuchstänzerInnen kommen sehr gut zur Geltung: die Jungs allemal mit ihren Sprüngen, die jungen Damen mit sauberen Linien.

Dann sollte eigentlich Evan McKie vom Kanadischen Nationalballett – er wr einst Startänzer beim Stuttgarter Ballett, wo er für seine „Onegin“-Interpretation einen extra für ihn geschaffenen Preis erhielt – das von ihm selbst kreierte Solo namens „Lúa descolorida“ („Verblasster Mond“ auf Katalanisch) tanzen. Doch eine Lebensmittelvergiftung verunmöglichte ihm das – wir wünschen ihm gute Besserung!

Die Sängerin Midori Marsh und der Pianist Michael Bialk retten allerdings, was zu retten ist, und bieten den musikalischen Anteil am Stück: mit Exzellenz und Charme. Es handelt sich bei dem Lied des Argentiniers Osvaldo Golijov um ein opernhaft dramatisches Lamento. Solche südländische Traurigkeit, temperamentvoll und passioniert vorgetragen, bewegt nun mal zutiefst.

Weiter geht es mit dem zweiten original mediterranen Arrangement des Abends: Filipa de Castro und Carlos Pinillos vom National Ballet of Portugal zeigen die dritte Uraufführung: „Maldita Dulzura“ („Verdammt süß“) von Goncalo de Almeida Andrade. Während im Hintergrund eine stetig rieselnde Sanduhr projiziert ist, tanzt das Paar die Sommerliebe, die ach so vergänglich ist. Heiter, aber eben auch wehmütig ist der Eindruck, der wirklich sehr zu genießen ist.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Tolle Beine und eine interessante Art, mit einem typischen Tanz-Thema umzugehen: Maria Kochetkova und Sebastian Kloborg in „Rush for Fall“ auf der Internationalen Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund. Foto: Costin Radu

Rush for Fall“ („Ansturm auf den Herbst“) heißt dann das Experiment, das Maria Kochetkova mit Sebastian Kloborg tanzt. Choreografiert ist es von Julian Nicosia – und es könnte glatt als moderne Antwort auf die klassische „Coppélia“-Motivik durchgehen. Zur E-Musik von Michael Anklin & Janiv Oron wird die Geschichte einer Roboterfrau erzählt, die trotz der Bemühungen ihres menschlich-männlichen Partners am Ende keine Kraft mehr hat.

Batterieleerstand – und die mechanischen Bewegungen, die Maria Kochetkova zu höchster Kunstfertigkeit führt, wirken wie zerhackt und enden im Stillstand. Eine sehr schöne getanzte Mahnung ist das, nicht zu sehr der künstlichen  Intelligenz oder der Ähnlichkeit von Menschen zu Maschinen zu vertrauen. Hannovers Starchoreograf Marco Goecke könnte sich hier ein Beispiel nehmen.

Hypermodern in der akustischen Gestaltung ist der Auszug aus „Body and Soul“ von Starchoreografin Crystal Pite, die dieses Stück 2019 schuf: Zwei Frauen flüstern, und diese Anweisungen ersetzen die Musik.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Juliette Hilaire und Caroline Osmont aus Paris im Krawatten-Outfit für „Body and Soul“ von Crystal Pite – hier beim Schlussapplaus nach der Gala am 10.09.22 beim Ballett Dortmund. Foto: Franka Maria Selz

Die beiden Tänzerinnen – wieder sind es Juliette Hilaire und Caroline Osmont vom Pariser Opernballett – tragen ein illustres Krawatten-Outfit, das ihnen sowohl männliches Büroflair als auch den androgynen Sexappeal der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts verleiht. Ihre Bewegungen ergeben Psychogramme angepasster Menschen, die sich in Strukturen eingefunden haben, die offenkundig nicht für sie gemacht wurden. Aber hallo – ein interessantes Sujet für Tanz!

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Lucia Lacarra, Matthew Golding und Alexandr Trusch (re) beim Schlussapplaus der Internationalen Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund – ein Triumph der Schönheit und der Kunst! Foto: Franka Maria Selz

Weniger aggressiv, dafür in höchstem Grad elegant und ästhetisch tanzen dann Lucia Lacarra und Matthew GoldingBorealis“ zu Musik von Max Richter von Edwaard Liangvom BalletMet aus Columbus, Ohio, USA. Das ist verträumte Neoklassik vom Feinsten – und Lucia und Matthew sind genau richtig, um sie als Ideal einer Liebesbeziehung vorzuführen. Lange, lange Linien, wunderbar gehaltene Posen – man wünscht sich erneut, diese Gala möge nie zu Ende gehen.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Herman Cornejo, Star aus New York vom American Ballet Theatre, mit einer hinreißenden Attitude, fotografiert von Gene Schiavone.

Und noch zwei Superhighlights kommen auf uns zu: Skylar Brandt und Herman Cornejovom American Ballet Theatre aus New York zeigen à point den „Tschaikowsky Pas de deux“ von George Balanchine. Ausgeprochen pfiffig ist ihr Tanz, gestochen scharf sind die Wendepunkte darin, und auch die Soloparts strotzen nur so vor publikumswirksamer Virtuosität.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

George-Balanchine-Tänzer , wie es sie weltweit wohl nicht nochmal gibt: Skylar Brandt und Herman Cornejo beim Applaus bei der Internationalen Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund. Foto: Franka Maria Selz

Das ruft geradezu nach einem Widerhall mit großem Ensemble auf der Bühne. Und genau das bildet das abschließende Finalstück: „Full of Life“ („Voller Leben“) ist der Auszug aus Xin Peng Wangs „Faust I – Gewissen!“ bennant, und es handelt sich um ein absolut genial gemachtes Ensemblestück.

Das Ballett Dortmund zeigt auf ästhetisch-raffinierte Weise das moderne, hektische Leben, während im Hintergrund ein Newsticker in allen möglichen Sprachen abläuft. Faust und Gretchen, beide in Weiß modern gewandet – sie ist eine Art Marilyn Monroe – finden dennoch zu Momenten der innigen Verschmelzung, obwohl die treibenden Rhythmen wie Schicksalsmächte alle Menschen zu steuern scheinen. Diesen Ausdruck so zu übermitteln – das kann nur ein choreografisches Genius, und entsprechend reißt die Szene in den Bann.

Die orchestrale Musik von Michael Daugherty changiert dazu zwischen Melodik und Atonalität, baut aber kontinuierlich Spannung auf. Und genau das soll uns diese Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund auch mitgeben: Energie, die sich aus der Vergangenheit speist, und die uns für die Zukunft jene Kraft geben wird, die wir benötigen.

Die Internationale Ballettgala XXXV beim Ballett Dortmund

Ballettintendant Xin Peng Wang zwischen den Diven Lucia Lacarra (links) und Alina Cojocaru (rechts) – beim Schlussapplaus nach der Internationalen Ballettgala XXXV am 10.09.22 mit dem Ballett Dortmund. Foto: Franka Maria Selz

Die Botschaft kommt an, der Jubel beim Applaus beweist es. Dieses berauschende Jubiläum lohnte sich – und alle, die es inhalierten, werden davon noch lange zehren. Dankeschön an Xin Peng Wang und sein Ballett Dortmund für soviel Mut und soviel Glanz!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.theaterdo.de

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