
Das glänzende Paar mit dem ebenfalls glänzenden Damen-Corps vom Staatsballett Berlin beim Applaus nach „Giselle“ am 18.09.22. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg
Sie ist so magisch! Ksenia Ovsyanick, Primaballerina beim Staatsballett Berlin (SBB), überrascht und fasziniert immer wieder, ob als Tatjana in „Onegin“ von John Cranko, als Diamond in den „Jewels“ von George Balanchine oder eben – und zwar mit wechselnden Partnern – als romantische Titelheldin in „Giselle“ in der Inszenierung von Patrice Bart. Erstmals tanzte Ovsyanick 2016 diese Berliner Giselle mit Denis Vieira, das war damals noch im Schiller Theater in Berlin. Längst aber ist die belarussische Tänzerin, die zuvor beim English National Ballet in London reüssierte, in dieser Partie auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden daheim. Und während Iana Salenko (die früher eine wahre Muster-Giselle war) sich nicht mehr ganz so anzustrengen scheint, um ihre Rollenprofile zu füllen, gibt Ksenia Ovsyanick in jeder Aufführung mehr als hundert Prozent. Was für eine Macht, bestehend aus Energie, Leichtigkeit, Gefühl! Es ist einfach umwerfend, elektrisierend und mitreißend, sie zu sehen, ihre lautlosen Sprünge zu bewundern, ihre Mimik, ihre Wandlungsfähigkeit, ihre eleganten Linien, ihre makellosen Drehungen, kurz: ihre ganze Tanzkunst zu genießen. Gestern nachmittag brillierte sie zusammen mit David Motta Soares, der als Albrecht an ihrer Seite in Berlin sein sehenswertes Rollendebüt in der Bart’schen Inszenierung gab. Ein Paar wie Fleur de Sel und scharfer Pfeffer: Temperament und Poesie verbinden sich zu einer Wolke temporären Glücks.
„Giselle“: Für Ksenia Ovsyanick ist diese Rolle vergleichbar mit Shakespeares Hamlet und eröffnet in ihren Augen genauso viele Hintergründe der Interpretation. „Da sind so viele Möglichkeiten, wie man sich der Geschichte annähern kann. Es geht um Vergebung, Selbstaufgabe, die Naivität der Liebe oder auch was wahre Liebe wirklich meint“, sagt Ovsyanick und trifft damit den Kern der Sache genau.
Seit Dezember 2000 hat das SBB das prachtvolle, klassisch-romantische, vom ehemaligen Nurejew-Assistenten Bart höchst sinnlich arrangierte Stück Weltkunst im Repertoire. Und es war gestern wieder zwei Mal – nachmittags und abends – fast ausverkauft, was in diesen Zeiten ein sehr gutes Zeichen sein muss.
Raffaela Rienzi war übrigens im Sommer als Abgesandte von Patrice Bart angereist, um zusammen mit Nadja Saidakova, die einst selbst eine hinreißende Berliner „Giselle“ von Barts Gnaden war, die Einstudierung der tragenden Partien zu überwachen.

Anmutig und dramatisch: Das Staatsballett Berlin und Dirigent Paul Connelly beim Schlussapplaus nach „Giselle“. Foto: Gisela Sonnenburg
Schließlich gibt es mehrere Neubesetzungen. So wird Ksenia Ovsyanick am 22. Oktober 22 sich einen weiteren begabten Rollendebütanten partnern lassen: Alexandre Cagnat.
Zuvor debütiert die schon lange darauf wartende Evelina Godunova mit Daniil Simkin an dessen Geburtstag in den Hauptrollen von „Giselle“: am 12. Oktober 22. Auch das wird ganz sicher eine interessante Vorstellung!
Das Wunder Ksenia Ovsyanick …
Jetzt aber flugs zurück zum Sonntagnachmittag, an dem diese unglaublich präzise, dennoch ätherisch-lyrische Primaballerina Ksenia Ovsyanick den Zuschauersaal – obwohl es eine Familienvorstellung mit vielen Kids war – dazu brachte, voll konzentriert zuzusehen und den Atem vor Begeisterung anzuhalten.
Ihre fein geführte, aber immer spontan wirkende Armarbeit, ihre konzise Fuß- und Beinarbeit, ihr biegsamer, aber durchaus oft aufrecht wirkender Oberkörper, ihr schönes, ausdrucksstarkes Gesicht: Ksenia Ovsyanick dürfte die beste aktuelle „Giselle“ in Deutschland sein und ist nur noch mit der Russin Galina Mezentseva zu vergleichen, die Ende letzten Jahrhunderts im damaligen Leningrad zur Legende wurde.

Ksenia Ovsyanick mit David Motta Soares bei der Probe für den ersten Akt von „Giselle“ beim Staatsballett Berlin. Foto von Facebook: privat
Warum Ovsyanick so fasziniert? Nun, es ist so:
Das Wunder Ksenia Ovsyanick besteht darin, dass sie alle technischen Finessen – große und kleine Sprünge, Balancen und Drehungen – scheinbar spielerisch mit umwerfender Schönheit absolviert. Sie „schmiert“ dabei nicht, sie verwischt keine choreografischen Einheiten, sie macht keine Gymnastik aus den schweren Anstrengungen, sie unterlässt es auch, heimlich die Balancen zu verkürzen.
Sie bringt vielmehr jede Bewegung zur ausgekosteten Vollendung, sie drückt sich nicht um ihre Ausformulierung und rhythmische Pointierung. Die Posen werden dabei musikalisch und klar erkennbar gehalten, was einen berauschenden Effekt hat.
Andererseits füllt Ovsyanicks „Giselle“ jeden Moment auf der Bühne mit innerem Leben, mit Emotion, mit Gedanken, die sich übermitteln. Das macht ihren Tanz so groß, so spannend.
Zusätzlich kann sie, auch das sei nicht verschwiegen, mit einem modernen Körper auftrumpfen, der schlank und stark wirkt, ohne an Zartheit einzubüßen: ein wandelndes Kunstwerk mit schönsten Ballerinenfüßen, an dem jedes Kostüm wie eine Designerrobe wirkt.

Ksenia Ovsyanick 2018 mit Denis Vieira beim Applaus nach ihrer letzten gemeinsamen Vorstellung von „Giselle“ beim Staatsballett Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg
In „Giselle“ in Berlin trägt sie ja zunächst ein schlichtes Dirndl ohne Schürze (Ausstattung: Peter Farmer). Darin zeigt sie, als der als einfacher Dorfbursche verkleidete Herzog Albrecht sie zum Tanzen lockt, so fragile und doch starke Ballonés, dass man bereits hier einen Reset-Knopf drücken möchte, um ihr lieblich-lyrisches Solo noch einmal zu sehen. Später geht es einem ganz genauso, als sie ihren Spitzentanz vorführt, als sei sie mit Spitzenschuhen an den Füßen zur Welt gekommen.
Leider sind Zugaben im Ballett ja ganz aus der Mode gekommen. Für Ksenia Ovsyanick möchte man sie wieder einführen.
Den ganzen ersten Akt erfüllt sie mit ihrem kecken Flirten, ihrer unbändigen Tanzlust, an der nichts aufgesetzt oder künstlich forciert wirkt – bis zu dem Schock, als sich herausstellt, dass Albrecht sie belog. Denn ihr Verführer ist mit der dumm-stolzen, aber reichen und adligen Bathilde verlobt.
Es folgt die berühmte „Wahnsinnsszene“ von Giselle: Ähnlich wie Gretchen in Goethes „Faust“ wird Giselle verrückt. Sie entzieht sich der Realität, sie kann nicht fassen, dass ihr Geliebter ein Schuft ist, sie halluziniert, lacht, visioniert – und stirbt, ohnehin organisch krank, an gebrochenem Herzen in seinen Armen.
Ksenia Ovsyanick rührt unglaublich an, wenn sie hier die Verwandlung von der glücklich Liebenden zur Wahnsinnigen mit verlorenen Illusionen vollzieht.
Sie ist eine Ballerina von Weltklasse, auch in dieser Szene stellt sie es unter Beweis.

Ksenia Ovsyanick beim Applaus nach dem „Pas de Quatre“ von Anton Dolin, in der Gala „From Berlin with Love I“ beim Staatsballett Berlin, gecoacht von Mikhail Kaniskin. Auch Weltklasse. Foto: Gisela Sonnenburg
Man würde ihr darum einen absolut hochkarätigen Albrecht wünschen, wie es einst Vladimir Malakhov (ehemaliger Berliner Ballettintendant) oder Mikhail Kaniskin (der wirklich Seele auf der Bühne zeigen konnte) waren.
Doch so großartige männliche Tänzer hat Berlin derzeit nicht.
Die anderen bedeutenden deutschen Ballettcompagnien haben jeweils junge, männliche Startänzer, die nicht nur vielversprechend sind, sondern diese Versprechen auch schon halten: vom Hamburg Ballett über das Ballett Dortmund und das Semperoper Ballett in Dresden bis zum Stuttgarter Ballett und zum Bayerischen Staatsballett.
Berlin aber hat hier eindeutig ein Nachwuchsproblem. Das ist allerdings hausgemacht und rührt auch daher, dass man Talente in der eigenen Truppe übersehen hat.
Wieso etwa wurde Alexander Abdukarimov nicht zu einem Startänzer aufgebaut? Mag sein, dass er in technischen Dingen nicht ganz so gymnastisch perfekt ist wie manch anderer. Aber dafür hat er Präsenz auf der Bühne, darstellerische Energie und eine tänzerische Willenskraft, wie man sie sich von einem Ballerino wünscht. Warum hat man nicht mit ihm gearbeitet und ihm die Möglichkeiten gegeben, sich in großen Rollen zu entfalten?
Das damalige Nachwuchstalent Kévin Pouzou hatte hingegen bemerkt, dass in Berlin irgendwie kein Platz für tolle, starke Männer neben all den vortanzenden Superfrauen war – und Pouzou ging nach Zürich zu Christian Spuck, um dort seine besten Jahre als Erster Solist zu verbringen. Berlin hatte ihn verloren.
Und so wird in Berlin in der ersten Reihe bei den Herren herumlaviert und herumprobiert. Man ist ja schon daran gewöhnt und freut sich bescheiden über alles, was mal klappt. Dass der nur noch in Berlin gastierende Dinu Tamazlacaru aber schon längst kein großer Hit mehr ist und Daniil Simkin definitiv nicht als Nachwuchsstar gelten kann, hat sich bei den Fans schon herumgesprochen.

„Giselle“ mit dem vorzüglichen Corps de ballet vom Staatsballett Berlin im zweiten Akt, zeitlos schön und erhebend: die elegantesten Furien der Theatergeschichte. Foto: Yan Revazov
Ein wenig tut einem die Qualitätsballerina Ksenia Ovsyanick darum Leid, weil sie wie ein Versuchsobjekt für männliche Debütanten herhalten muss. Und dabei schwebt sie selbst als Weltklasse-Tänzerin weit über deren Niveau.
So hatte es ihr debütierender Partner am letzten Sonntag denn auch nicht ganz leicht mit seiner schweren Partie.
David Motta Soares hat, obwohl erst 25, zwar schon beim Moskauer Bolschoi Ballett in „Giselle“ begeistert. Aber mit der für ihn neuen Version in Berlin konnte er nur teilweise beglücken.
Mit zwölf Jahren verließ er sein Geburtsland Brasilien, um an der Akademie vom Bolschoi zum Ballerino geschult zu werden. Er ist ein schöner Mann mit eleganten, kontrollierten Bewegungen und sehr hohen Beinen, was heißt, dass er glatt zur Weltmeisterschaft in Bodengymnastik antreten könnte.
International hat es sich in den hochrangigen Schulen eingeschlichen, die jungen Leute vor allem nach Kriterien wie Biegsamkeit und Flexibilität auszusuchen. Und so haben wir – bei den Mädchen wie bei den Jungs – oftmals Posen, die mit klassischem Ballett nichts mehr zu tun haben, sondern vielmehr an Schlangenmenschentanz erinnern.
Ehrlich: Die Beine müssen nicht jedes Mal, wenn sie auf über 90 Grad angehoben werden, bis ans Ohr des Tänzers fliegen. Für schöne Linien und vor allem Ausdruck im Tanz sind ganz andere Dinge notwendig. Und wenn das Bein hinten hochgeht, darf der Oberkörper sich sanft vorbeugen – die zum Hufeisen durchgebogenen Rücken, die vor allem viele junge Damen heute im Ballett aufweisen, sind etwas anderes als das, was mit den klassischen Posen verlangt ist.

David Motta Soares im modernen Portrait, fotografiert von Gregory Shelukhin
David Motta Soares hat nun unzweifelhaft hohe Qualitäten, vor allem eben die Biegsamkeit sowie höchst elegant gestreckte Füße, aber ein geborener Star ist er ganz sicher nicht.
Als er mit Christian Spuck, dem kommenden Berliner Ballettintendanten, in Moskau den „Orlando“ kreierte, tanzte er dennoch nicht weniger als sieben Rollen in dem Vorläufer-Trans-Stück, dessen Titelfigur mal Frau, mal Mann ist.
Auf die erneute Zusammenarbeit mit Spuck in Berlin freut sich David Motta Soares sehr, und er findet für diese Zukunftsaussicht eine Metapher: Er sieht sie als „eine neue Reise in meiner Karriere“. Karriere ist heutzutage eben das wichtigste auch bei vielen Künstlern. Nicht etwa die Umsetzung eines Rollenprofils.
Aber Motta Soares‚ vielfache Pirouetten und vor allem auch seine Drehsprünge sind dessen ungeachtet grandios, auch im Sinne von Extravaganz. Sie sind wirklich etwas Besonderes.
An anderen Dingen muss der Jungspund aber noch arbeiten: Seine „Katzensprünge“ nach vorn und seine „Cabrioles“, bei denen das eine gestreckte Bein in der Luft an das andere schlägt, lassen Geschmeidigkeit und Kraft vermissen.
David Soares oder David Motta Soares?
Außerdem sollte er mal entscheiden, wie er sich nun nennen lassen möchte. Denn in allen offiziellen Unterlagen vom Staatsballett Berlin, seinem Arbeitgeber, hat er nur einen Nachnamen und heißt David Soares.
Aber in allen Medien, ob Presse oder social media, wird er mit beiden Nachnamen genannt, eben David Motta Soares. Ob sich da künftig noch was ändert? Es wirkt ein wenig unentschlossen, es mal so, mal so zu halten.

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Auch bei seinen Soli im ersten Akt der Berliner „Giselle“ wirkte Motta Soares noch ziemlich unsicher: Es gelang ihm beim Rollendebüt definitiv nicht, die Kommunikation zur Partnerin und dem Corps de ballet aufrecht zu erhalten. Nicht mal der Blickkontakt war da. Da musste die Verliebtheit von Ksenia Ovsyanick sozusagen für beide reichen.
Das große Solo im ersten Akt von Albrecht existiert in der Fassung von Yuri Grigorovich, die Motta Soares beim Bolschoi tanzte, übrigens nicht. Dort ist die Partie des Albrecht im ersten Teil stark pantomimisch geprägt, lebt von der Dramatik der Gesten, nicht des Tanzes. Der Unterschied der Rolle zur Fassung von Patrice Bart liegt für Motta Soares nach seinen Worten darin, wie sich Albrecht zu Giselle verhält: Seiner Meinung nach ist er bei Grigorovich schon im ersten Akt stark verknallt in Giselle, während er bei Bart eher spielerisch mit ihr umgehe.
Dabei geht aber auch Patrice Bart – was er mir selbst 2014 im Interview gesagt hat – davon aus, dass Giselle von Albrecht schwanger ist, weshalb sie aufgrund verlorener katholischer Ehre im Wald beerdigt wird und nicht auf dem Friedhof. Das gehört faktisch zum Libretto und seinen Konsequenzen.
Der zweite Akt von „Giselle“ spielt dann eben an diesem Grab, bei Nacht im Wald, und es regieren die „Wilis“: Rachegeister im Brautkleid mit Grazie, aber mit dem tödlichen Wumms von Furien.
Das Damen-Corps vom Staatsballett Berlin zeigt hier einmal mehr, was es kann: nämlich absolut hervorragenden klassischen Synchrontanz.

Luciana Voltolini (links vorn) und Alizée Sicre (mittig vorn) mit den anderen Wilis beim Schlussapplaus nach „Giselle“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg
Luciana Voltolini als solistische Zulmée ist dabei feenhaft elegant und präzise, während die als Königin der Wilis namens Myrtha debütierende Vera Segova eine etwas ungewöhnliche Interpretation zeigt: Sie ist weniger majestätisch und herrschsüchtig als vielmehr distanziert und wie beleidigt, also eine etwas schmollende Myrtha. Ihre Linien und Posen sind dabei glasklar und besonders lieblich – statt emotional eiskalt und machtgeil, was klassischerweise zur Anführerin der Rachegeister passt.
Wilis sind die Geister von vor der Hochzeit verlassenen Mädchen.
Es sind weiße Geister, weiße Frauen, die aus dem Nebel aufsteigen, um wahllos Männer in den Tod zu tanzen. Mit einem Wildhüter, der in Giselle verliebt war, gelingt das auch.

Alexei Orlenco als Hilarion beim Schlussapplaus nach „Giselle“ in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg
Alexei Orlenco verleiht diesem, Hilarion, im ersten wie im zweiten Akt ein sehr schlüssiges Profil. Er liebt Giselle, will sie nicht nur besitzen. Aber wie es manchmal so ist im Leben: Wer es verdienen würde, wiedergeliebt zu werden, wird verschmäht. Hilarion verkörpert diese Tragik bis zu seinem Ende im Wald, wo ihn die Wilis spektakulär zu Tode hetzen.
Albrecht aber wird von Giselle, die ihn auch als geisterhafte Erscheinung noch liebt, vor dem unendlichen Zorn der weißen Mädels gerettet. Denn: Er bereut.
Diese Reue, die Selbstvorwürfe, die Trauer tanzt David Motta Soares vorzüglich. Er fällt auf die Knie, sinkt mit dem Oberkörper ein, steht auf, strafft sich, sehnt sich mit lang gemachten Armen nach Vergebung. Hier ist er ganz bei sich und seiner Partnerin, die ihn zart umweht, sich heben und zu wie vom feinsten Pinselstrich entworfenen Figuren biegen lässt.
Motta Soares lenkt seine Dame so hervorragend, dass man gar nicht merkt, dass er es ist, der sie in die Luft befördert. Sie wiederum hat eine so fabelhafte Körperspannung, dass sie mitsamt Tüllkleid federleicht anmutet.
Den letzten Paartanz begleiten zirpenderweise Querflöte und Harfe aus der Staatskapelle Berlin, die unter Paul Connelly frisch wie am ersten Tag aufspielt. Die Liebe gewinnt, die feministische Rache auch. Albrecht wird nie wieder ein Mädchen belügen. Bravo – und nicht nur dafür!

Glück nach einer tollen Vorstellung: Das Staatsballett Berlin mit Dirigent Paul Connelly (zweiter von rechts) beim Schlussapplaus nach „Giselle“ in der Staatsoper Unter den Linden. Foto. Gisela Sonnenburg
Die eingangs gestellte Frage aber sollte uns weiter beschäftigen. Wer ist denn nun eigentlich verrückt: die verlassene, bis zum Wahnsinn Liebende – oder der eiskalte Idiot, der nicht seinem Herzen folgte, als er Geld und gesellschaftliches Ansehen höher bewertete als Liebreiz, wahres Gefühl und Charakter?
Wer die gesellschaftlichen Fesseln nicht abwirft, die ihn vom richtigen Denken und Handeln abhalten, ist womöglich in einem anderen Sinn irre als die verliebte Giselle, aber geistige Gesundheit dürfte anders aussehen.
Und schaut man sich heute um, so ist die rettende Liebe von Giselle vielleicht genau das, was die Welt bitter nötig hat.
Gisela Sonnenburg

Ksenia Ovsyanick und David Motta Soares verliebt-entrückt im zweiten Akt von „Giselle“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Mariia Kulchytska