Er ist der Virtuose unter den schrägen Avantgardisten und der Avantgardist unter den großen Virtuosen seiner Zunft, der modernen Choreografie, die er ebenso geprägt wie ad absurdum geführt hat: William Forsythe, von Freunden „Bill“ oder auch „Billy“ genannt, feiert am 30. Dezember 2019 seinen 70. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! Der gebürtige New Yorker, der mittlerweile in Los Angeles, USA, seinen Hauptjob als Professor macht, startete seine fast beispiellose Karriere als Choreograf von Deutschland aus, wo er ab 1973 im Stuttgarter Ballett tanzte und eben auch zu kreieren begann. Seine vorherige Ausbildung in den USA umfasste nicht nur praktischen Tanz (den er an der Joffrey Ballet School studierte), sondern auch das Studium von tanzhistorischen Zusammenhängen an der Jacksonville University in Florida. Seinen Choreografien, die ihm neben anderen Preisen auch das Bundesverdienstkreuz eintrugen, merkt man seinen starken, unbedingten Logos an: William Forsythe vermag es wie kein anderer, abstrakt-mathematische Figuren mit emotional-ironischem Inhalt zu verbinden.
Mit entsprechenden Stücken wie „Artifact“ von 1984 errang er Weltruhm.
Sein wohl beliebtestes Werk „In the Middle, Somewhat Elevated“ von 1987 (uraufgeführt mit Sylvie Guillem und Laurent Hilaire an der Pariser Opéra) schrieb und schreibt weiterhin Tanzgeschichte: weil der arrogant-witzige Ausdruck dieser hochvirtuosen, auch technisch sehr anspruchsvollen Choreografie bislang einmalig im Ballett ist.
Kein Wunder, dass das darin praktizierte aberwitzige Auftrumpfen mittels modernem Tanz auf klassischer Ballettbasis – über diesem Geschehen schwebt zudem ein Paar vergoldete Kirschen als unausgesprochener Preis für die angeblich Besten – zum Kern eines weiteren Ballettes von Forsythe wurde.
„Impressing the Czar“ von 1988 referiert denn auch ironisch-sarkastisch auf die Beziehung von professionellen Tanzschaffenden zu ihren wichtigsten Geldgebern, also den diversen Regierungen und Superreichen.
Ballett ist ja bekanntlich so aufwändig, dass es als rein kommerzielle Kunst zum Scheitern verurteilt wäre.
Weil das russische Ballett der Klassik im Zarenreich des 19. Jahrhunderts seine erste Blüte erlebte, wird von Forsythe kurzerhand der Zar im Stücktitel zitiert und „beeindruckt“.
Diese etwas vertrackt-witzige Logik zieht sich nicht nur durch die Stücktitel von Forsythe, sondern vor allem auch durch seine praktischen Arbeiten. Bühnenbild und Licht sind dabei oft so prägnant eingesetzt, dass sie zum Gesamtkonzept der tänzerischen Darbietung gehören; als Purist kann man Forsythe insofern nicht gerade bezeichnen.
Aber das Spiel mit Kostümen, Szenerien, Klischees, die er gern mutwillig durchbricht (und in „Herman Schmerman“ etwa einen Ballerino im Röckchen beim Pas de deux auftreten lässt) durchzieht Forsythes Werk ebenso wie eine gewisse, gezielte stilistische Stringenz.
Nie wird man wirklich hässliche Bewegungen oder lapidare Posen bei Forsythe sehen.
Der Originalität hingegen baut er mit seinen Arbeiten wahre Denkmäler, und dass er ebenso unerhört viel Sinn für Humor wie für Ästhetik hat, rettet seine Stücke immer wieder vor dem Absinken in Beliebigkeit oder Trivialität.
Das galt für seine Zeit als Ballettdirektor in der damaligen Buchverlags- und Bankenmetropole Frankfurt am Main ebenso wie als Chef seiner eigenen, nicht ortsgebundenen Forsythe Company, die Forsythe 2015 an seinen ehemaligen Mitarbeiter Jacopo Godani abgab und die vor allem in Frankfurt und Dresden auftrat und die mit ihrem neuem Namen Dresden Frankfurt Dance Company auch weiterhin dort auftritt.
Besonders verehrt wurde und wird Forsythe von aktiv Tanzenden, denen er mit seinem Werk ein neuartiges Instrumentarium zur Selbstreflexion geschenkt hat. Heuchelei ist out bei ihm, gefragt sind vielmehr Direktheit und eine nicht nur körperliche Bewusstheit.
So hart und schmerzensreich der Tänzerberuf auch oftmals ist, so erhaben und eben auch köstlich ironisch vermag die ballettöse Körperkunst hier zugleich zu erscheinen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Trost für all jene, die ihr simples körperliches Wohlbefinden einer Kunst geopfert haben, die ihnen für das Alter oftmals kaum etwas zurückgeben kann.
Als Person ist „Bill“ zudem von freundlicher Gelassenheit, einer im Ballett nicht eben häufig anzutreffenden Tugend. Mit brummend-tiefer Stimme verströmt er Sicherheit, flößt Vertrauen ein. Leicht spöttisch schaut er auf diese Welt herab. Aber: Von ehrgeiziger Hysterie keine Spur!
So verzichtet er auch gern darauf, rekordmäßig ein Ballett nach dem anderen auszustoßen. Weniger ist mehr im Universum des William Forsythe, und dass er sich auch der bildenden und sozialen Kunst für seltene – und auch mal für eher seltsame – Experimente öffnete, passt nur zu gut zu einem Mann, der es nicht nötig hat, stetig der nächsten Mode oder dem nächsten Preisgeld hinterherzuhecheln.
Die künstlerischen Risiken haben sich für ihn und sein Publikum stets gelohnt, gleich, wie der Ausgang war: Echte Avantgarde lässt sich nicht auf sinnlos einfaches, ansonsten aber unkritisches Gewinnerdenken ein.
In diesem Sinne hat William Forsythe etwas geleistet, das er vielleicht gar nicht wollte: Er ist nicht nur Choreograf und Akteur in Forschung und Lehre, sondern auch ein Künstler, der das Bewusstsein in einer Branche schärft, die eben das wie keine andere zur Zeit braucht. Dafür besonderen Dank, liebes Geburtstagskind!
Gisela Sonnenburg
P.S. Im Juni 2024 wurde William Forsythe der mit umgerechnet 590.000 Euro dotierte Kyoto-Preis aus Japan zugesprochen, den vor ihm schon John Neumeier erhalten hat. Glückwunsch!
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