Good-bye, Reid Anderson! 22 Auszüge aus 22 Jahren: Reid Anderson, bisher Chef vom Stuttgarter Ballett, nimmt eine Medaille in Empfang und verabschiedet sich mit einer großen Gala

Reid Anderson feierte seinen Abschied als Stuttgarter Ballettchef

Reid Anderson (links vorne, mit Blumen) beim Abschiedsapplaus mit dem Stuttgarter Ballett am Sonntag, 22. Juli 2018. Rechts vorne: Tamas Detrich, in der Mitte vorne: Marcia Haydée. Foto: Stuttgarter Ballett / Facebook

Bisher war der Ballettsaal sein eigentliches Zuhause. Reid Anderson, seit 1996 Ballettintendant vom Stuttgarter Ballett, verabschiedete sich gestern mit einer großen Gala von seinem Publikum. Aber der Ballettwelt bleibt der 69-Jährige als Freiberufler erhalten: Statt beschaulich den Ruhestand zu vertrödeln, wird Reid lukrative internationale Verpflichtungen als Gast-Coach der Stücke von John Cranko wahrnehmen. Gestern jubelten ihm noch einmal die Massen zu, nicht nur im Opernhaus in Stuttgart, sondern auch draußen im Regen, wohin mit „Ballett im Park“ die Veranstaltung auf eine Riesenleinwand übertragen wurde. Das Publikum genoss 22 Auszüge aus 22 Stücken, die in 22 Dienstjahren unter Reid Anderson getanzt wurden – das Programm der „Gala des Stuttgarter Balletts“ war ein Aufmarsch der heimischen Stars und Sternchen, mit Gästen, die das Stuttgarter Publikum nur zu gut kannte.

Zudem nahm Reid Anderson eine Auszeichnung vom schwäbischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Die Grünen) entgegen: Die Staufermedaille in Gold fehlte bislang noch unter den zahlreichen Preisen, die Anderson und das Stuttgarter Ballett in den letzten Jahrzehnten einheimsten.

Auch die John Cranko Schule, der viele rasante Talente ihre pädagogische Prägung verdanken, war auf der Bühne vertreten, mit dem Stück „Air“ von Uwe Scholz, der seinerseits dieses Jahr ein Jubiläum, nämlich seinen 60. Geburtstag, feiern könnte, wenn er denn noch leben würde.

Reid Anderson feierte seinen Abschied als Stuttgarter Ballettchef

Galt immer als netter Typ und hat international hohes Ansehen: Reid Anderson, bisheriger Stuttgarter Ballettintendant. Foto: Gisela Sonnenburg

Und obwohl das Opernhaus dringend sanierungsbedürftig ist: Alles war ein einziger Glanz, eine einzige Gloria an dieser Gala. So schön kann die Ballettwelt sein – und so harmonisch, wenn es um das Ende einer Ära geht.

Und nur auf dem Blog vom Stuttgarter Ballett, der via Facebook einzusehen ist, spiegelt sich die Stuttgarter Angst, mal nicht mehr zu den Besten und Allerbesten zu gehören.

Dort verkündet Reid Anderson recht großspurig und eben auch fälschlicherweise, der in Opernhausnähe entstehende Neubau für die John Cranko Schule sei „die einzige Ballettschule weltweit, die neu gebaut wird, alle anderen Schulen sind in Gebäuden untergebracht, die umgenutzt wurden.“ Das ist nun weit übertrieben.

Der Neubau in Stuttgart ist keineswegs die einzige neu gebaute Heimstatt für eine Profi-Ballettschule weltweit. Man muss für den Gegenbeweis noch nicht mal Deutschland verlassen. Ein wirklich peinlicher Schnitzer, Reid!

Die Staatliche Ballettschule Berlin bezog zum Beispiel schon 2010 einen schicken und superneuen Bau, der speziell für sie entworfen und errichtet wurde – und der international schon sehr viel positive Aufmerksamkeit erhielt.

Davon sollte man mittlerweile auch in Stuttgart schon gehört haben.

Mit viel Poesie, fantastischen Sängern, origineller Choreografie und einem hervorragenden Live-Orchester hat sich das Musical „Die Schöne und das Biest“ in die Herzen aller getanzt, die es gesehen haben. Kein Grund, es sich nicht nochmal anzuschauen – oder endlich zum ersten Mal hineinzugehen! Viel Spaß! Und die Tickets gibt es hier auf einen Klick! Faksimile: Anzeige

Die Messlatte für den Neubau in Stuttgart – der mit acht Ballettsälen hoffentlich nicht nur schön, sondern auch nützlich wird – hängt also sehr hoch.

Anderen Mitteilungen des Stuttgarter Balletts darf man aber durchaus noch trauen!

So ist die Auslastung von 94 Prozent in der nun beendeten Spielzeit ein Grund zur Freude – wobei Staatskultur eigentlich der Bildung, nicht dem Fullhouse dienen sollte.

In Zeiten, in denen die Politik nur zu gern Bewährtes einfach aufgibt, um mit schnellen Erneuerungen PR und Profit zu erhalten, hecheln die staatlichen Theater allerdings nach Ausverkauf und Erfolgsquoten. Da ist Stuttgart keine Ausnahme.

Aber bedeutet Masse eigentlich immer Qualität?

Das zu bedenken, gibt der Sommer uns hoffentlich genügend Zeit.

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Die rührigen Plakate „Danke, Reid!“, die im öffentlichen Raum in Stuttgart aufgehängt wurden, sind jetzt jedenfalls genauso Vergangenheit wie das einerseits weltmännische, andererseits auch heimatliche Wirken eines Ballettchefs, der John Cranko noch persönlich inspirierte. Auch dadurch avancierte Anderson zur lebenden Stuttgarter Legende.

Mit Tamas Detrich – der indes am 25. Juli 2018 nun auch schon seinen 59. Geburtstag feiert – kommt jetzt eine Generation ans Ruder, die Cranko, diesen Weltchoreografen und Begründer des sogenannten Stuttgarter Ballettwunders, nicht mehr lebend kannte.

Die Wachablösung wird Eines nicht ändern: Das Stuttgarter Ballett zählt zu den Höhepunkten und Eckpfeilern der deutschen Kultur – solange sie das Erbe von John Cranko bewahrt.

Reid Anderson feierte seinen Abschied als Stuttgarter Ballettchef

Das festliche Schluss-Ritual zur Verabschiedung ist auf allen Ballett-Bühnen gleich: Die Mitarbeiter kommen mit Rosen auf die Bühne und überreichen ihre Blume an den Abschiednehmenden. So auch in Stuttgart. Aber Reid Anderson wird uns erhalten bleiben: Von Stuttgart aus bereist er künftig weiterhin die Welt, um die Stücke von John Cranko zu besetzen und einzustudieren. Foto: Stuttgarter Ballett / Faksimile Gisela Sonnenburg

In diesem Sinne darf man viel Glück und alles Gute wünschen, und zwar dem neuen Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Detrich ebenso wie dem in einen neuen Lebensabschnitt aufbrechenden Reid Anderson. See you!
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

 

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