Klassik ohne Klunker Das Bundesjugendballett tanzt am Samstag im Funkhaus in Berlin beim neuen Detect Classic Festival

Das Bundesjugendballett im Funkhaus

Die Uhr im historischen Funkhaus in Berlin zeigt, dass viertel zwölf vorbei ist. Ob vormittags oder nachts? Beim Detect Festival Berlin kann es sowohl als auch so spät sein… Foto: Detect Festival

Das Detect Classic Festival lockt am kommenden Wochenende, also am 4. und 5. August 2018, ins alte Funkhaus in Berlin – das liegt tief im Osten der Hauptstadt, brilliert mit floralem Outdoor-Charme und Blick aufs Wasser sowie mit einer atemberaubenden Architektur der Studios. Am Samstag (in Berlin sagt man „Sonnabend“) gibt es dort um 15 Uhr im legendären Studio I des einstigen Hörfunkhauses rund eine Stunde das Bundesjugendballett von John Neumeier zu sehen: mit drei Stücken, und zwar dem heiter-hintergründigen „Dumbarton Oak“ zur live gespielten Orchester-Musik von Igor Strawinsky, „Muted“ des Choreografen Sasha Riva und, ganz neu, einer Kreation von Ex-BJBler Kristian Lever zu Klängen von Alban Berg.

Das Festival wurde von dem 2010 gegründeten Nachwuchsorchester junge norddeutsche philharmonie (JNP) initiiert. Rund 120 MusikerInnen, die in Deutschland leben, sind darin organisiert, seinen Sitz hat das neugierige, erfolgshungrige Nachwuchsorchester in Rostock. Das Büro der Truppe aber residiert, na wo wohl, in Berlin, wo mutmaßlich am meisten Zukunftsmusik überhaupt spielt.

Das Bundesjugendballett im Funkhaus

Schön schräg lockt das Detect Classic Festival ins Funkhaus nach Berlin-Schöneweide. Die Farben bezeichnen die gute, gelegentlich aber auch kultiviert melancholische Laune hier: von Sunset Orange und Electric Velvet. Tickets sollte man sich rasch noch sichern, und zwar hier oder auch hier!  Faksimile: Anzeige

„Klassikkonzepte der Zukunft“ zu suchen, hat sich das JNP zur Hauptaufgabe gemacht. Darum auch dieses Festival, das klassische und elektronische Musik vereint und mit Tanz- und Performance-Acts garniert. Der Hauptförderer kommt übrigens aus der Pharma-Branche, die solchermaßen wenigstens etwas von ihren Riesenprofiten an die Allgemeinheit zurückgibt.

Ganz billig ist der Eintritt dennoch nicht: 55 Euro kostet der Festival-Pass, 33 Euro muss man für ein Tagesticket löhnen. Aber dafür kann man viele Stunden lang, von morgens um 10 Uhr bis nach Mitternacht, ausgewählte neue musikalische und körperbewegende Projekte genießen.

Und weil das Funkhaus eine so interessante Geschichte hat, lohnt der Besuch sogar doppelt!

Von 1956 bis 1990 wurde an diesem Ort nämlich der Rundfunk der DDR gemacht, vom Sinfonieorchester bis zur Politsendung.

Der Gebäudekomplex ist heute denkmalgeschützt und ein Musterbild seiner Zeit.

Das Bundesjugendballett im Funkhaus

Das Studio 1 ist der ehemalige Große Aufnahmesaal 1 – eine legendäre Akustik zu einer legendären Architektur fängt den Zeitgeist der 50er Jahre ein. Und zwar im Edelformat! Foto: Detect Classic Festival

Der heute Studio 1 genannte ehemalige Große Aufnahmesaal 1 begeistert mit gewienertem Schönholzparkett, mit säulenartigen Seitenelementen, mit einer rassigen Orgel und einem trapezförmigen Grundriss. Paneele aus dunklem Holz verleihen dem Saal eine warme Atmosphäre – und die Akustik hierin ist so umwerfend gut, dass man sie der Hamburger Elbphilharmonie zum Vorbild schenken möchte.

Junge Künstlerinnen und Künstler zeigen hier nun beim Detect Classic Festival ihr Können und ihre Ideen, und schon ihre Namen klingen so aufregend, dass man seinen nächsten Eisbecher unbedingt im Funkhaus löffeln möchte (was auch geht, denn für Essen und Trinken wird reichlich gesorgt).

Es lauern einem also mit viel musikalischem Wums auf: Das STEGREIF orchester, Komfortrauschen, Unkraut Kollektiv, JBXDR, Balletthalle Berlin… und draußen kann man mit einem kühlen Getränk in der Hand spazieren gehen und über die musikalische Gegenwart nachdenken.

Da platzt das Bundesjugendballett mal wieder genau richtig in eine außergewöhnliche Location!

Und es hat die richtigen Stücke im Programmgepäck.

Dumbarton Oaks“ ist eine typische BJB-Gemeinschaftskreation der achtköpfigen Tanztruppe, es geht darin weniger um die guten alten titelspendenden Eichen eines Washingtoner Anwesens, dessen Besitzer die Musik in Auftrag gaben, als vielmehr um das prickelnde Verhältnis von Paaren zur Gesellschaft.

Das Bundesjugendballett im Funkhaus

Von der Gruppe über die Paarbildung zum Individuum und vice versa – das ist „Dumbarton Oaks“, getanzt vom Bundesjugendballett. Foto: Kiran West

Dieses Thema ist hier Anlass zu komischen und denkwürdigen, aber immer tänzerisch sehenswürdigen Konstellationen und Begegnungen. Mal bildet die Gruppe einen lebenden Fries und scheint die Antike zu karikieren, mal finden sich Paare und üben das Mann-Frau-Sein.

Immerhin befeierte Strawinsky mit dem Stück ja die positive Langzeitwirkung einer seit Jahrzehnten haltenden Ehe. Es war aber nicht seine eigene, die er meinte, sondern die der Auftraggeber aus Washington.

Junge, wilde Leute, die ihren Lebensstil im Ballettsaal gelernt haben, machen daraus natürlich ihre ganz eigene künstlerische Kommentierung!

Musikalisch begleitet unter anderem der Gastgeber des Festivals, also die junge norddeutsche philharmonie, höchstselbst das BJB. Und das bei der Akustik!

Letztlich muss man sich dann aber ganz futuristisch fragen, ob konventionelle Paarbildung überhaupt der Sinn des Lebens ist, was ja viele von uns ungefragt vermuten.

Jedenfalls kommt das philosophisch-praktische Stück mit einem sehr hohen Unterhaltungswert und exquisiten ballettösen Posen einher.

Muted“ ist dann etwas ernsthafter: Sasha Riva, heute Ballerino in Genf, früher beim Hamburg Ballett, konzentriert sich als Choreograf in diesem Stück auf die ambivalente Intensität einer Paarbeziehung. Mann und Frau sind hier keineswegs immerzu eins, sondern sie ringen umeinander – und miteinander sogar ums emotionale Überleben. Eine sehr sensitive Arbeit.

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Besonders gespannt ist man dann auf die vorab noch unbetitelte Choreo von Kristian Lever, der zwei Jahre lang bereits als Tänzer beim BJB hinlänglich begeisterte. Er selbst wird zwar am Sonnabend nicht selbst anwesend sein, weil er derzeit in Kopenhagen an einem neuen Stück arbeitet, wozu man ihn nur beglückwünschen kann. Aber man darf den Ballerinen und Ballerinos vom Bundesjugendballett ohnehin vertrauen, dass sie das nagelneue Stück zur lyrisch-atonalen Musik von Alban Berg zu einem Höhepunkt des Ballettsommers machen.

Darum sollte man diesen Termin hier besser nicht verpassen!

Und falls es jemand außerhalb noch nicht weiß:

Berlin im Sommersonnenschein ist sowieso immer eine Reise wert, zumal, wenn ein Festival die Qualitäten von Natur und Kultur auf so spannende wie angenehme Weise zu vereinen sucht.
Gisela Sonnenburg

www.detectclassicfestival.com

Anfahrt: Bus (Schienenersatzverkehr für die Tram 21) ab Frankfurter Tor bis zur Haltestelle Köpenicker Chaussee / Blockdammweg

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