Potenzsteigerung „Don Quijote“ beim Stuttgarter Ballett: wenig Tiefgang, dafür buntes folkloristisches Treiben; noch toller ist ein echter Ratmansky: „Don Quichot“ mit Anna Tsygankova und Matthew Golding als DVD vom Het Nationale Ballet

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Sie springt im Weltklasseformat – aber Elisa Badenes allein kann die Inszenierung von „Don Quijote“ beim Stuttgarter Ballett nicht retten. Foto (in dieser kleinen Auflösung): Stuttgarter Ballett

Eine fetzige Inszenierung des Balletts „Don Quijote“ ist ein einziges Potenzmittel: Ohne viel nachzudenken, stürzen sich der verträumte Titelheld und sein tumber Gefährte in absurde Abenteuer, während sich die eigentliche Handlung – inklusive Lovestory – quasi nebenbei, aber unter stürmischem Verlauf entwickelt und wie ein märchenhaftes Komödchen mit rasantem Tempo abspult. Kitri liebt Basilio, Basilio liebt Kitri. Kitris Eltern sind zwar dagegen – aber mit einigen Tricks gewinnt die Verwicklungskomödie ihr Happy End. Nur der Titelheld bleibt, was er schon immer war: ein melancholischer Künstler ohne Kunst, ein schmachtender Verehrer ohne Liebesgunst, ein Ritter von trauriger Gestalt – und auch ein armer Edler von großer Einsamkeit, mitten im Trubel eines schnelllebig-temperamentvollen, immerzu irgendwie verliebten Spaniens. Mit seinem clownesk-tölpelhaften Diener Sancho Pansa gibt Don Quijote solchermaßen stets ein seltsames, dennoch unterhaltsames Pärchen ab. Das Stuttgarter Ballett zeigt nun wieder seine auf der Urfassung von Marius Petipa von 1869 beruhende, 2000 uraufgeführte und 2012 überarbeitete choreografische Version des früheren Starballerinos Maximiliano Guerra.

Guerra, ein heißblütiger Argentinier aus dem Jahrgang 1962, hat ein gutes Händchen für hohe Sprünge und für testosterongesteuertes Machotum. Aber genügt das für eine Neuinterpretation dieses klassischen Meisterstücks?

Immerhin stellt Guerra den Dichter des „Don Quijote“, Miguel de Cervantes (1547 – 1616), höchstselbst mit auf die Bühne – und legt ihn nur leider als Doppelrolle mit dem Titelhelden an.

„Don Quijote – Der Träumer von La Mancha“ heißt der Ballettabend nun – und damit stößt der Tänzerchoreograf nicht wirklich in poetische Tiefen vor.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Und noch ein Grand jeté: Elisa Badenes beherrscht es auch in dieser Spielart. So im „Don Quichot“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Es ist und bleibt indes: ein rasantes, wenn auch etwas angestaubt wirkendes Spiel an der Oberfläche, mit Folklore-Flair und Flamenco-Einlage, dynamisch zwar und aufheiternd – aber ebenso unfreiwillig deprimierend.

Denn das Einfache ist ja bekanntlich oft am schwersten zu machen.

Obwohl mit Elisa Badenes eine Spitzenballerina von Weltformat als Kitri zur Verfügung steht – und die Zweitbesetzung mit der superben Allrounderin Alicia Amatriain vermutlich noch besser sein wird.

Arbeitet Alicia doch nicht nur mit den jenen Ballettmeistern, die gerade auf dem Dienstplan stehen, sondern zusätzlich und individuell mit ihrem Coach Renato Arismendi, der zeitweilig auch schon dem lokalen Konkurrenten des Stuttgart Balletts, der aufstrebenden Gauthier Dance Company im Theaterhaus Stuttgart, auf die Sprünge half.

Die Vorstellung der Wiederaufnahme von „Don Quijote“ aber gehörte Elisa Badenes, der jüngeren der beiden „Stuttgarter Spanierinnen“.

Ja, sie springt leicht wie eine Feder, und ja, sie hat so viel Charme, dass sie damit den ganzen Abend glatt allein gestalten könnte.

Ja, sie ist akkurat und konzentriert, und sie strengt sich zudem auch in den komisch-pantomimischen Szenen ganz uneitel mächtig an, um witzig zu wirken.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Elisa Badenes noch einmal springend – in Maximiliano Guerras Inszenierung von „Don Quijote“ in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Aber: Souverän und niedlich zugleich zu sein, ist unheimlich schwer.

Genau das muss die Kitri aber können. Und wer sehr kritisch ist, könnte hier anmerken, dass Elisa Badenes als begüterte Wirtstochter Kitri zwar quicklebendig und putzmunter wirkt, dass ihr aber das Deftige, fast Derbe dieser Rolle eher abgeht.

Unübertroffen war hierin Maja Plissetzkaja, die die Sinnenhaftigkeit eines Vollweibs mit der lyrischen Dynamik der Rolle zu vereinen wusste.

Der „Kitri-Sprung“ dieser Partie ist ja seit dem 19. Jahrhundert weltberühmt, und er zeigt bereits das Charakteristische dieser ländlich-verwegen-koketten Liebhaberin.

Es handelt sich dabei um einen diagonal gelegten Spagatsprung nach vorn mit zur Attitude angewinkeltem hinteren Unterschenkel, der zu einem ins Cambré gebogenen Oberkörper mit erhobenen Armen ausgeübt wird.

Das wirkt auf Fotos wie in Bewegung so köstlich überkandidelt-temperamentvoll, dass man es glatt als Steigerung des normalen Grand jetés bezeichnen könnte.

Da spielen aber neben Stolz und Würde auch der Körperbau und die figuralen Proportionen eine Rolle, damit die Sache so richtig zur Geltung kommt. Allzu leichtgewichtige Persönchen – wie Elisa Badenes – haben es da schwer, dem Sprung seinen Schmackes zu verleihen. Ein Foto von ihr in dieser Pose fehlt hier denn auch.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Und noch einmal Elisa Badenes – andere Pressefotos gab es nicht… sie steht aber auch schön da! Feinste Linien! Und glänzende Augen! Schade nur, dass die so angelieferte schlechte Auflösung äußerst unprofessionell ist. Foto aus „Don Quijote“: Stuttgarter Ballett

Dennoch überzeugt Badenes, mit ihrer präzisen Technik und ihrer durchaus herzhaften Spielfreude.

Ihr zur Seite steht in dieser Saison nun, statt des angekündigten Pablo von Sternenfels als Basilio, mit Adhonay Soares da Silva – dessen schwierigen Vornamen man sich zum Künstlernamen vereinfacht wünscht – ein blutjunger, zweifelsohne sehr talentierter Jüngling.

Er kam mit 16 Jahren aus Brasilien an die John Cranko Schule nach Stuttgart, gewann 2013 den Prix de Lausanne (den maßgeblichen westeuropäischen Nachwuchspreis) und tanzt erst seit einem Jahr im Corps vom Stuttgarter Ballett.

 

Leidenschaft in Anna Karenina

Auch sie stehen für eine lebendige Show mit spannenden Geschichten: Die Tänzer vom Alvin Ailey American Dance Theater sind auf Tournee und im August 2017 in Hamburg – und vorher und nachher in anderen Städten. Jetzt schon mal schnell die Tickets sichern: www.bb-promotion.com/veranstaltungen/alvin-ailey-american-dance-theater/ Foto: Annonce / BB Promotion

Es ist ein enormes Risiko, einem Anfänger eine solche Partie anzuvertrauen. Reid Anderson, Ballettintendant in Stuttgart, handelte wohl auch in Not.

Dafür geht die Sache hier überraschend gut: Der junge Mann ist sprunggewaltig und hat genügend vitale Lausbubenhaftigkeit an sich, um der Partie des schalkhaften Barbiers Basilio Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Allerdings: Zu ironischen Brechungen reicht es bei Badenes und Soares da Silva nicht, eher ist es, als würden sie etwas krampfhaft vor allem das kindliche Gemüt erfreuen wollen: indem sie das Banale zuallererst äußerst ernst zu wissen nehmen.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Irgendwann wird die Presseabteilung vom Stuttgarter Ballett die Fotos wohl im Briefmarkenformat schicken… Elisa Badenes im freihändigen „Fisch“ mit Adhonay Soares da Silva – so zu sehen im „Don Quijote“ in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Die gute Nachricht: Vor allem am Grand Pas de deux der beiden gen Stückende wurde offensichtlich sehr heftig geprobt und gefeilt.

Wie eine Eins sitzen da viele schwierigen Hebefiguren, auch die beiden „Fisch“-Figuren, mit und ohne Handhilfe des Herren, und Elisa Badenes als absolute Super-Power-Frau kann sich nahezu problemlos in die Griffe des jüngeren Herren anschmiegen.

Einige kleine Wackler kann man da mal nachsehen, es sei aber der Vollständigkeit wegen gesagt, dass Soares da Silva sicher noch etwas Übung benötigt, um als hundertprozentiger Ballerino in dieser großen Partie zu bestehen.

Das Stuttgarter Ballett strengt sich allerdings sichtlich heftig an, für all die in der letzten Zeit dort entfleuchten Startänzer der ersten Riege frischen Ersatz zu finden.

Als Gastdirigent hilft dann auch Matthew Rowe mit dem ohnehin wie stets ganz exzellenten Orchester in Stuttgart, die Vorstellung zu einem Erfolg werden zu lassen. Und zwar unterstützt Rowe die Tänzer auch mit den richtigen und ausreichend langen Pausen – an den richtigen Stellen, etwa bei Hebungen – was wirklich angenehm anzusehen ist.

Schließlich ist die Musik von Ludwig Minkus ziemlich treibend: ein einziger Noten gewordener Rummel mit sich oftmals ausladend ankündigenden Tusch-Manövern und einem häufig nachgerade tanzselig zuckenden Rhythmus.

Ein Ballett in Bierzelt-Laune – da ist Don Quichotte, Don Quijote, Don Quichote, Don Quixote im besten Sinne.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Der junge Lausanne-Gewinner Adhonay Soares da Silva steht als Basilio im „Don Quijote“ nicht immer gerade im Passé… Aber ist es überhaupt noch ein Passé? Vor lauter Eifer rutschte das Knie viel zu hoch. Nun sieht es aus, als wolle der Tänzer sich mit dem Fuß am Suspensorium kratzen. Nicht jede(r) Ballett-Fotograf(in) hätte solch ein Foto  rausgegeben. Aber in Stuttgart hatte man keine Scheu. Foto: Stuttgarter Ballett

Und hätte Maximiliano Guerro den Mut gehabt, sich noch ganz andere Musik dazu zunehmen und das Libretto psychologisierend umzugestalten, wer weiß, ob ihm dann nicht auch ein wirklich haltbarer Neuentwurf gelungen wäre.

Aber er belässt es bei szenischen Vorspiel-Dekorationen und pantomimischen Einlagen, die Cervantes beim Schreiben zeigen – und die nichts wirklich von dessen abenteuerlichem Lebenswandel preis geben.

Zwar hat Matteo Crockard-Villa als Cervantes einen verletzten linken Arm. Aber welche Tragik eine solche Behinderung für einen Mann des ausgehenden 16. Jahrhunderts gewesen sein muss – zumal Cervantes sie sich als Schussverletzung zugezogen hatte – ist aus dem Gehopse und Getue in den Cervantes-Szenen in Guerras „Don Quijote“ nicht zu ersehen.

Tiefgang ist Guerras Sache nicht – lieber verlässt er sich auf die Wirkung der knallbunten Kostüme und zurückhaltenden Kulissen von Ramon B. Ivars.

Dass ein überdimensionaler Buchstabensalat für die nach Inspiration suchenden Gedanken von Cervantes stehen soll, ist allerdings zu platt und zu oberflächlich, um noch ernsthaft kommentiert zu werden.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Offenkundig am meisten vom ganzen Stück geprobt: Die Pas de deux von Kitri (Elisa Badenes) und Basilio (Adhonay Soares da Silva) im „Don Quijote“ beim Stuttgarter Ballet. Foto: Stuttgarter Ballett

Das ist das Niveau von schlechtem Kindertheater.

So wirken auch die Windmühlen, gegen die Crockard-Villa als Don Quijote ankämpft, keineswegs als grotesk-grausame Lebensgefahr. In manchen „Don Quixote“-Inszenierungen stirbt der Titelheld, weil er sich so heftig durch den Windmühlenflügel verletzt.

Bei Guerra aber scheint es so, als habe dieser Bücherwurm Don Quijote nun mal nur zuviel Angst vor dem Unbekannten, vor dem Neuen, vor dem Unerklärlichen. Es ist, als kämpfe er nur deshalb mit der Windmühle, weil er die Realität nicht wahrnehmen wolle.

Dabei sagt die Redensart „mit Windmühlen kämpfen“ bereits, dass es diese Vorgänge sehr wohl gibt: Gegen Scheinargumente kämpfen zu müssen, um sich darin aufzureiben.

Genauso ergeht es Don Quijote, der nirgendwo Verständnis für seine Belange findet. Der einer Illusion von Liebe erliegt, einer Dulcinea, die es nur in seiner Fantasie gibt, die hier aber im altbackenen, schaurig silbrig schimmernden Divengewand nicht wirklich überirdisch, sondern eher so kitschig wie aus dem Nippesregal gefallen wirkt.

Da mag sich Myriam Simon als Dulcinea noch so anstrengen – sie und ihre Dryaden können gegen diese schnöden Klamotten kaum antanzen.

Poesie ist etwa anderes!

Dennoch muss Dulcinea in Guerras Libretto als Muse taugen, die Miguel de Cervantes zum Schreiben des „Don Quijote“-Romans bringt.

Ob Cervantes sich nun wirklich so sehr mit dem Titelhelden identifizierte, wie Guerra es mit seiner Doppelbesetzung behauptet, ist allerdings stark fraglich.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Und noch einmal das neue Paar der Paare beim Stuttgarter Ballett: Elisa Badenes als Kitri und Adhonay Soares da Silva als Basilio. Foto: Stuttgarter Ballett

Vielmehr ist der Don Q. eine Karikatur auf die „romantische“ Geschichten liebenden damaligen Zeitgenossen, also auf die Leser.

Cervantes sah sich selbst wohl eher selbstironisch als Sancho Pansa, verdiente er selbst doch als junger Mann sein Geld als Kammerdiener.

Das Doppelspiel der Gesellschaft, das Heuchlerische, das sich auch bei den scheinbar liebenden Eltern von Kitri zeigt, die ihre Tochter nur des Geldes wegen mit einem reichen Trottel zwangsvermählen wollen – all das ist bei Guerra nicht wirklich zu spüren.

Wenn man aber nun Miguel Cervantes auftreten lässt, dann sollte man schon deutlich über das geistige Niveau von Kasperletheater hinauskommen.

Und das schafft diese Inszenierung nicht.

Immerhin – sie gibt einige Anregungen, und vielleicht übt sich ja bald mal ein anderer Choreograf in der sicher nicht einfachen Aufgabe, einen „Don Quichote“ mit Tiefgang zu kreieren.

Bis dahin hält man sich am besten an die wenigen wirklich gelungenen Inszenierungen, die es gibt, etwa an die von Alexei Ratmansky für Het Nationale Ballet.

Da stimmen nicht nur einzelne tänzerische Details – sondern da stimmt einfach alles bis aufs „i“-Tüpfelchen.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Anna Tsygankova als Kitri bedeutet Souveränität und Frische: auf der DVD „Don Quichot“ / Het Nationale Ballet, die bei Arthaus erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Und siehe da: In solcher überdrehten Perfektion macht sogar die Albernheit des ursprünglichen Librettos, welches weitestgehend beibehalten wird, Sinn – denn sie wird konterkariert von atemlos sich jagenden brillanten Highlights.

Was Tempo im Ballett ist, lernt man am besten anhand dieser Ratmansky-Inszenierung – auch und gerade in ihrer Aufzeichnung von 2010, die als DVD im Handel ist.

Mit der zugleich damenhaften und erfrischend kecken Anna Tsygankova und dem absolut virtuos pirouettierenden, stets geradlinigen Matthew Golding als Kitri und Basilio glaubt man ja mitunter seinen Augen nicht, so mitreißend, lebendig und staubfrei wirkt das Stück!

Und unter der glänzenden Oberfläche der brillanten Technik blitzt sogar dann und wann in dunklen Mollnuancen die Tragik dieser jungen Dame vom Land auf: Kitri ist ja, ähnlich wie die Titelheldin von „La Fille mal gardée“, von einer Zwangsheirat bedroht.

Insofern ist der gesellschaftliche Hintergrund hier durchaus brisant und erinnert sogar ein wenig an „Romeo und Julia“.

Tatsächlich war Cervantes ein Zeitgenosse von Shakespeare – mit einem ganz anderen Zugang zum Schreiben allerdings.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

So sieht ein überzeugend glückloses Duo aus, das „Don Quichot“ und Sancho Panza heißt: auf der gleichnamigen DVD vom Dutch National Ballet zu sehen, die bei Arthaus erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wenn dann Ratmansky – der es sich und uns erspart, eine Dulcinea auf die Bühne zu stellen – nächtens einen kleinen Trupp wandelnder Kakteen auf Don Quichot loslässt, um ihn um seinen Schlaf zu bringen, dann ist das einfach ultrakomisch.

Auch das furiose Hin und Her um die Liebenden, bei denen sich Basilio zum Schein selbst erdolchen muss, um die Einwilligung zur Ehe von seinem künftigen Schwiegervater zu erhalten – man denke wieder an „Romeo und Julia“! – wirkt in der Ratmansky-Inszenierung abgrundtief komisch, hat aber zudem einen süffisant-grotesken Beigeschmack, den man beim Stuttgarter Ballett vergeblich sucht.

Die „Cupido“-Einlage aus „Paquita“, die in Russland traditionell in den „Don Quichote“ eingewebt wird, ist bei Ratmansky als ironische Brechung und als entzückende Parodie auf Ballett erhalten – im Gegensatz zur Stuttgarter Version von Guerra, der sie ganz heraus nahm.

Man sieht also einmal mehr, wie wichtig es ist, dass Regie und Choreografie nicht mal eben irgendwie hingebastelt werden. Das geht eben selbst dann nicht, wenn es – wie hier – eine solide Grundlage wie die von Marius Petipa gibt.

Ein Regisseur oder Choreograf muss eben immer auch ein Stück seiner eigenen Seele in die Sache hineinwirken lassen!

Das ist gerade mit der historisch anmutenden Neuaufbereitung bekannter Stoffe nicht wirklich leicht, sondern was für echte handwerkliche Könner.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Peter de Jong als „Don Quichot“ auf der DVD gleichen Namens, die bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der für solche Sachen kongeniale Alexei Ratmansky schuf mit seinem holländischen „Don Quichot“ aber ohne jeden Zweifel ein Feuerwerk der Lebensfreude, und er hatte für seine Zwecke ebenso zweifelsfrei genau die richtige Compagnie zur Verfügung: das Dutch National Ballet (Het Nationale Ballet) aus Amsterdam, das immer wieder mit hervorragenden Solisten zu überraschen weiß und dessen Leiter Ted Brandsen auf interessante Choreografen am Haus großen Wert legt. Auch wenn man mit seinen aktuellen eigenen Inszenierungen vielleicht nicht unbedingt einverstanden sein muss…

Die choreografischen Grundlagen, auf die sich Ratmansky bei seinem „Don Quijot“ stützt, stammen übrigens natürlich von Petipa – aber auch von Alexander Gorsky, der sich 1900 und 1902 dem Stück widmete. Ratmansky suchte in Archiven und Bibliotheken, bis nach Harvard, nach Aufzeichnungen – allerdings, ohne fündig zu werden.

Dafür konnte sich der damals bereits ehemalige Bolschoi-Direktor aber auf seine eigene Erfahrung in Moskau berufen.

Es ist Ratmanskys Verdienst, dass der „Don Quichot“ solchermaßen vom Staub befreit wurde und dennoch auch in historischer Hinsicht zu überzeugen weiß.

Allerdings betont Alexei Ratmansky, dass es sich – eben mangels Aufzeichnungen über die Petipa- und Gorsky-Versionen – nicht um eine Rekonstruktion handelt!

Vielmehr mischt der Choreograf historisch Überliefertes mit eigenen Einfällen, die nah am Urlibretto liegen – und diese Mixtur ist explosiv!

Ratmansky, der ja zudem sowieso ein ausgesprochener „Brillanz-Freak“ ist, wurde selbst einst von Ekaterina Maximova und Vladimir Vasiliev für das Stück initiiert. Er sah dieses legendäre Pärchen als Jungspund, als Ballettstudent, am Bolschoi den „Quichotte“ tanzen… und er fing sofort Feuer für dieses so oft nur als Lieferant für Virtuosität verkannte „spanische“ Stück von Petipa.

Alexei Ratmansky sagt denn auch, ihn würde das Stück immer wieder begeistern – „solange es von der richtigen Truppe getanzt wird.“

Das ist beim Dutch National Ballet zweifelsohne der Fall. So bedeutet der „Don Quichot“ wirklich eine Potenzsteigerung!

Hingegen scheint sich herumzusprechen, dass das Stuttgarter Ballett eine insgesamt absteigende Company ist, so sehr man sich dort auch um Nachwuchs aus den Reihen der eigenen Schule bemüht.

Don Quichot ist ein Potenzmittel des Balletts

Bett mit Hupferl, nee, der ist schon vernascht, also: Luxuriöses Hotelzimmerbett im schönen Althoff Hotel am Schlossgarten in Stuttgart mit „Don Quijote“-Programmheft… ein malerisch gelegener Ort, um über das Stuttgarter Ballett nachzudenken. Foto: Franka Maria Selz

Der Funke, den John Cranko einst zündete, er scheint sehr langsam, aber sehr sicher zu erlöschen.

Das Publikum bemerkt das. So gab bei der Wiederaufnahme des „Don Quijote“ auch kurz vor der Vorstellung noch etliche Karten – und das, obwohl Ballett in der Weihnachtszeit doch die höchste Konjunktur hat…

Stuttgart, quo vadis?
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

Die DVD „Don Quichot“, eine Live-Aufzeichnung aus dem Amsterdam Music Theatre von 2010, erschien bei Arthaus Musik (Cat. No. NTSC 101 561)

www.arthaus-musik.com

 Anna Tsygankova ist zudem live in Deutschland als Odette / Odile in Xin Peng Wangs „Schwanensee“ beim Ballett Dortmund zu sehen! (www.ballett-journal.de/ballett-dortmund-schwanensee-wang/ )

 

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